.^■>^
w^m
tV.":^
^: i^f
\\.rm^...
/■&.*»' ,'v
ZEITSCHEIFT
FÜR
DEUTSCHE PHILOLOGIE
BEGRÜNDET von JULIUS ZACHER
HERAUSGEGEBEN
HUGO GERING mü OSKAR ERDMANN
VIERUNDZWANZIGSTER BAND
HALLE A. S.
VERLAG DER BUCHHANDLUNG DES WAISENHAUSES.
18 92.
Soö3
INHAL T.
Seite
Sigfrid und Druiihild. Beitrag zur geschichte der Nibelimgoiisage. Von ]J. SiJ tiions 1
Iber die „neutralen ongcl" liei Wolfram und l>ei Dante. Von .T. Seeber . . '.i2
Beiträge aus Luthers sehriften zum dtnitscheu wörterbuche. Von J. Köstlin 'dl. i2~}
(Naehtriige von M. Spanier, F. Beeli, .1. Peters 285)
In bns forreptam — eine anfrage. Von (}. Kaworau 42. 424
T/tete das, thef , thäte gleich mhd. cntete. Von A. Birliuger 43
l'redigtlitteratur des 17. Jahrhunderts. Von I. Zingerle 44. 318
Beiträge zur deutsehen inythologie. I. Der todesgott ahd. Heniio Wotan = Mer-
eurius. IL Tliings und die Alaisiagen. IIL Zur Illudauae- Inschrift . 14,"). 433
Zum (jaitga iindir jaräaniicn. Von M. Pajtpenheim 157
Zum Spruch von den 10 altersstufen des menschen. Von A. Jeitteles u. IL Lewy IGl
Zur entwickeluug der mhd. lyrik. Von 0. Streicher 16G
Neue belege für thäte gleich mhd. entete bei Luther. Von G. Kawerau . . 201
Ein brief Gottscheds an den Königsberger profossor Flottwell. Von G. Krause 202
Die liauptgöttin der Istvaeen. Von H. J aekel 289
Aar und adler. Von H. Kluge 311
l angedruckte briefe Herders und seiner gattiu au Gleim. Von .1. Pawel . . 342
Bruchstücke aus dem Willehalm Ulrichs v. d. Tüi'lin. Von 11. Suchier . . 401
Zu Reinke vos. Von H. Damköhler 487
Zum mittelalterlichen badeweseu. Von K. Kochendörffer 492
Goethes verse über Frieslaud. Von H. Jaekel 502
Het (jethan im bedingungssatze. Von E. Wolff 504
Zur geschichte des begräbnisses „more teutonico". Von R. Röhricht . . . 505
Zu Goethes Faust. Von R. Sprenger 500
Zu H. V. Kleists Hermannsschlacht. Von demselben 510
Nekrologe.
Konrad Hofmann. Von W. Golther 04
Arthur Reeves. Von K. Maurer 142
Hermann Oesterley. Von E. Se.elmaun 142
Hermann Frischbier 508
Miscellen.
Ein brief Schillers. Von J. Minor 129
Bericht über die Verhandlungen der deutsch -romanischen section der philologeu-
versamlung in München. Von K. Borinski 213. 509
Rose. Von L Zingerle und H. Fischer 281. 426
Ein gedieht aus dem 15. Jahrhundert. Von H. Holstein 283
Ein brief Jacob Grimms. Von E. Wolff 284
Üribolde scheren. Von M. Pappenheim und Th. Siebs 284. 567
Zu Wielands werken. Von Minor. (Dazu berichtigung von Seuffert) . 285. 430
Dramatische aufführungen im 10. und 17. Jahrhundert. Von J. Minor . . . 285
Bericht über die 10. jahresversamlung des Vereins für niederdeutsche spraciifor-
schung in Lübeck. Von H. Jellinghaus 308
Zum Düdeschen Schlömer. Von H. Brandes 425
Zu W. Grimms kleineren schritten. Von R. Steig 562
Litteratur.
0. Frauke, gruudzüge der Schriftsprache Luthers, angez. von J. Luther . . 07
Reeves, the finding of Wineland the good, angez. von H. C-ering .... 84
IV INHALT
Seite
W. Wisser, Verhältnis der minneliederhandscbriften B und C zur quelle, angez.
von F. Vogt 90
H. Hayn, tugendhaffter Jungfrauen zeit-veiireiber, angez. von L. Fränkel . 94
J. Höser, Syntax in he Domes Da^e, angez. von B. Nader 95
E. H. Meyer. Yöluspa, angez. von F. Kauffmann 96
A. Wagner, lautstand der muudart von Eeutlingen, angez. von F.^Kau ff mann 114
F. Kauffmann, geschichte der schwäbischen mundart, angez. von K. Boh-
nenberger HG
L. Tesch, zur entstehungsgeschichte des evangelienbuches von Otfrid I, angez.
vou 0. Erdmann 120
H. Schröder, zur waifen- und schifskunde des deutschen mittelalters, angez.
vou A. E. Berger 122
E. Joseph, ausgäbe von Konrads von Würzburg Engelhard, angez. von K. Ko-
chendörffer 128
L. Fulda, Übersetzung des Meier Helmbrecht, angez. von R. Sprenger . . 132
G. Radke, die epische formel im Nibelungenliede, angez. von E. Kettner. . 133
G. EUinger, Berliner neudrucke I, 3, angez. von J. Bolte 135
H. Paul, gruudriss der germ. philologie I, 3 fg., angez. von E. Martin . . 221
R. Braudstetter, geschichte der Luzerner mundart, angez. von L. Tobler . 231
H. Blattner, mundarten des kantons Aargau, angez. von A. Socin .... 234
Balg, comparative glossary of the gothic language, angez. von E. Bernhardt 236
F. Saran, Hartmanu von Aue als lyriker, angez. vou F. Vogt 237
F. Keinz, die lieder Neidharts, angez. von F. Vogt 245
W. Uhl, unechtes bei Neifen, angez. vou F. Vogt 247
Th. Hampo, quellen des Strassburger Alexander, angez. von K. Kinzel . . 255
E. Kettaer, Untersuchungen über Alpharts tod, angez. von K. Kinzel . . . 258
W. Cordes, satzbau bei Nicolaus von Basel, angez. von K. Tomanetz. . . 259
0. Mensing, ahd. und mhd. concessivsätze, angez. von H. Wunderlich . . 260
Neuere schritten über Hans Sachs, angez. von M. Rachel 262
M. Herrmann, Albrechts v. Eyb ehezuchtbüchlein , angez. von E.Matthias . 269
G. Kaufmann, geschichte der deutschen Universitäten, angez. von W. Schum 271
E. Wolff, prolegomena der litter.-evolutionistischen poetik, angez. v. G. Roethe 273. 428
B. Litzmann, F. L. Schröder, angez. von C. Heine • . . 275
0. Koller, Klop.stockstudien , angez. von F. Frosch 279
A. Schultz, das höfische leben, 2. aufl., angez. von J. Meier . . . . 371. 524
F. Liesenberg, die Stieger mundart, angez. von Kauffmann 401
W. Müller, zur mythol. d. griech. u. deutsch, heldensage, ang. v. F. Kauffmann 403
H. Kuhlmann, concessivsätze in mhd. volksepos, angez. v. H. AVunderiich . 405
R. Wolkan, Böhmens anteil an der deutsch, litteratur, angez. v. A. Jeitteles 406
E. Schröder, Jacob Schöpper von Dortmund, angez. von H. Holstein . . 409
K. Weinhold, gedichte von Lenz, angez. von 0. Erdmann 410
R. Lehmann, der deutsche Unterricht, angez. von 0. Erdmann 411
W. Cosack, materialien zu Lessings dramaturgie, angez. von 0. Carnuth . . 420
Hermann und Szamatolski, lat. litterat.-denkm. I — HI, ang. v. H. Holstein 420
Goethes werke, Weimarer ausgäbe, angez. von H. Düntzer 513
E. Martin u. E. Schmidt, Elsässische litterat.-denkm. IV, ang. v. E. Matthias 555
L. H. Fischer, J. L. Frisch's schulspiel, angez. von J. Bolte 559
Wustmann, sprachdumheiten , angez. von 0. Er d mann 560
Neue erscheinungen 139. 287. 430. 568
Nachrichten 142. 288. 432. 568
Register von E. Matthias 569
SmFRTD UND BEUNllILD.
KIN BEITHAÜ ZUK ('rES( ÜIICIITK DER iNlHELUNGENSAGE.
I.
Die iiordiselK' nbcrlieferuiii;.
J)eii firun(ll(',u(Mi(l('ii arhcitcn Jjacliniamis und Müllcnliotrs verdan-
ken wir die einsieht, dass die Nibeluni^ensaye in ilirei- aus der ver-
gleieiiung- der verschiedenen üherlieterungen ersehliessbaren gTundgestalt
eine \er.seliniel/.uug liist(»i'iseher sage mit anders gearteten bestaiidteilen
voraussezt, ^velebe man als mytbisebe zu bezeicbnen pflegt. Die bistu-
risehe Burgundensage ist iu ibrer entstebuug und ausbiklung in allem
wesentlieben klar. Dagegen bietet die m\lbiselie Sigfridssage der for-
scbuug bedeutende sclnvierigkeiten , einmal weil sie in ibrer volständig-
keit niebt rein, sondern nnr mit der gescbicbtlicben sage von den
Burgunden eontaminiert eriuilten ist, sodann aber aueb, weil offenbar
sowol die nordisebe sage Avie die deutscbe sage in ibrer dreifacben
trailitiun liier manebe alte züge geopfert oder in neuen zusammenbang-
gebracbt baben. Man ist darüber ('invei'standen , dass die Burgunden-
sage, die dicbterische Überlieferung von dem Untergang der (libiebuii-
gen dui'eb Attila und der raclie, welebe diesen dafür tritt, in ibrei-
ältesten, dem ursprünglieben verbältnismässig sebr nahe stebendeii fas-
sung in der altnordiseben gestalt vorliegt. Es ist deswegen metbodiscb
nur zu billigen, wenn ancb für die in unserer Überlieferung mit der
BurgLUidensage verbundene Sigfridssage die untersucbung von den alt-
nordiseben quellen ausgebt: nur gewicbtige gi-ünde, wie sie beispiels-
weise für den teil der sage, welcber Sigfrids geburt und kindbeit
erzäblt, tatsäcblicb vorbanden sind, dürfen uns bestimmen, v()n diesem
grundsaize abzugeben. Der forderuug, dass jede betracbtuug der Sig-
fridssage die nordisebe Überlieferung zur grundlage zu uebmen, dabei
aber die deutscbe sagenform unablässig im ange zu bebalten babe,
lässt sich, wie mir scbeint, gegründeter Widerspruch nicbt entgegen-
stellen.
Neuerdings macbt sich das streben geltend, die nordisebe mytben-
und sagendicbtung zu discreditieren. Ihren poetischen wert lässt man
ZEITSCHRÜT F. DEUTSCHE PHILOLOGIE. BD. XXIV. 1
unangetastet, aber gegen ihre ursprünglichkeit und glaubwürdigkeit
häufen sich die angriffe, ßugges genialität verdanken wir in den „»Stu-
dier over de nordiske gude- og heltesagns oprindelse. Forste rsekke"
(1881/89) eine arbeit, deren ergebnisse wenige überzeugt haben, deren
bedeutende Vorzüge aber auch demjenigen einleuchten, welcher sich
iliren blendenden reizen zu entziehen vermochte. Dass es an Jüngern
und nachfolgern nicht fehlen würde, war zu erwarten. Fühlte Bugge
(Studier s. 15) sich angesiclits der schöpferischen kraft der vikinger an
Shakespeares Verhältnis zu seinen quellen erinnert, so erklärt jezt Gol-
ther die nordische Nibelungen sage für „eine volkommene neudichtung,
in der das original erst bei scharfer betraciitung widerziierlcennon ist"
(Germ. 33, 478). In einer reihe von arbeiten hat G-olther die uiit-
fassung vertreten, dass die nordische Nibelungensage wesentlich ein
produkt der vikingerzeit sei; nach mehreren Schwankungen hat er
zulezt diese ansieht so formuliert, dass die alte fränkische, im (i. Jahr-
hundert entstandene sage von den Nibelungen erst im 9. Jahrhundert
zu den Skandinaviern gelangt sein soll, und zwar unmittelbar aus
Frankreich nach Island. Auf dieser Wanderung bildete Irland eine
Station, und die von Zimmer nachgewiesenen merkwürdigen entleh-
nungen der irischen heldensage sollen nicht, wie dieser gelehrte —
meiner meinung nach, mit vollem rechte — annahm (Ztschr. f. d. a.
32, 327 fg.), als Symptome einer ZAveiten einwanderung der deutschen
sage in den norden gelten dürfen, sondern „die erstmalige, mit der
deutschen form noch ziemlich übereinstimmende sagenentlehnung, die
von späteren nordischen zudichtungen noch frei war" (Germ. 33, 476)
repräsentieren. Unter den bänden der phantasiereichen nordleute sei
die Nibelungensage eine völlige neuschöpfung geworden. Yon der
richtigkeit dieser und anderer resultate seiner forschungen ist Golther
offenbar so überzeugt, dass er, nachdem er sie wissenschaftlich zu
begründen gesucht^, auch bereits eine auf weitere kreise berechnete
1) ^Süidieu zur gerinanischea sagengeschichte. I. der valkjTJeuinythus. II. über
das VHrliältnis der nordischen mid deutschen form der Nibelungensage" (Abhandl. der
bayr. akad. I. CI. XVIII. bd. II. abt., s. 401— 502): im folg. citiert als ., Studien"
nacli dem Separatabdruck (München 1888). — ^iI^iG Wielandsage und die Wanderung
der fränkischen heldensage": Germ. 33, 449 — 480. — „Norddeutsche und süddeut-
sche heldensage und die älteste gestalt der Nibelungensage" : Germ. 34, 265 — 297. —
Über die nordischen Volkslieder von Sigurd handeln zwei aufsätze desselben Verfas-
sers in der Ztschr. für vgl. litteraturgesch. n. f. 2, 205 fgg. 269 fgg. — Vgl. auch
die einleitung zu G's ausgäbe des Hürnen Seyfrid (Braunes neudrucke nr. 81/82)
s. XXII IV.
STGFRin UND BUUNHILD. I
rlarstellimg derselben geben zu können geglaubt hat (Beilage zur Allg.
Ztg. vom 1. märz 1890, nr. 60).
Es liegt niciit in meiner absiebt. (Iultliers ansiebten über die ent-
stehung der Nibelungensage, speciell ihrer nordischen foi-m, einer
zusammenhängenden prüfung zu unterziehen. Vielmehr soll an einem
einzelnen punkte, und zwar an dem ausgangspunkte der Golthersclien
forschungen, der nachweis versucht werden, dass Golthei- in seiner
beurteilung der nordischen Überlieferung und ihres verhiUtnisses zur
deutschen von unrichtigen praemissen zu unrichtigen Schlussfolgerungen
gelangt ist. Es sei ausdrücklich betont, dass ich den fleiss und den
Scharfsinn des Verfassers anerkenne und seinen arbeiten manche anre-
gung und förderung im einzelnen verdanke, wenn ich auch weder sei-
ner kritik der quellen zustimmen, noch seinen Schlussfolgerungen den
Vorwurf der Übereilung ersparen kann.
Nur im vorübergehen deute ich eine klippe an, an der Golthers
datierung der einwanderung der Nibelungensage in den germanischen
norden scheitert. Finnur Jönsson hat kürzlich nüt recht darauf hin-
gewiesen (Arkiv f. nord. fil. 6, 154 fg. 280 fg.), dass schon die älteste
norwegische skaldendichtung wesentlich dieselbe mythologie voraussezt
wie die späteren isländischen quellen. Dasselbe gilt für die Nibelun-
gensage. Bereits der älteste historisch bezeugte norwegische skald,
Bragi der alte, au dessen wirklicher existenz zu anfang des 9. Jahr-
hunderts zu zweifeln nach den neueren Untersuchungen ^ ebenso wenig-
berechtigt ist, als die echtheit der unter seinem namen überlieferten
Strophen zu verdächtigen, bezeichnet das gift als Vqlsunga dreJd-a (21*
Gering) und, Avas noch mehr ins gewicht fält, nent Sorli und Ham{)er
Gjüka nipjar (6-). Leztere Umschreibung sezt die specifisch nordische
anknüpfung der Ermenrekssage an die Nibelungensage voraus, die
selbstverständlich erst verhältnismässig lange nach der Überführung die-
ser sage in den norden zu stand« gekommen sein kann. Die folge-
rungen ergeben sich von selber. Wer die einwanderung der Nibelun-
gensage in den germanischen norden — und zwar nach Island ■ — in
die vikingerzeit verlegt, hat zuvörderst die unechtheit der ältesten
norwegischen skaldendichtung zu erweisen, und zwar mit ganz anderen
gründen, als dies bisher versucht worden ist.
1) Vgl. besonders Sn. E. HI, 307 fgg. Gering, Kva?l)a - Brot Braga ens gauila,
1886, s. 5 fgg. E. Mogk, Paul -Braunes Beitr. 12, 391 fg. F. J6nsson, Ark. 6,
141 fgg. — Bugge hält allerdings noch 1888 daran fest (Paul - Braunes Beitr. 13, 201),
dass die dem Bragi Boddason beigelegten verse erst im 10. Jahrhundert gedichtet
sein können; er hat diese ansieht aber nicht näher begründet.
1*
SIJMONS
Wenn im folgenden ein einzelner teil der Sigfridssage einer
näheren betrachtung unterzogen werden soll, so darf darin keine zn-
stinimung zu dem verfahren gesehen werden, der Sigfridssage von vorn-
herein die einheitlichkeit abzusprechen, sie in eine reihe einzelner,
zur dichtung verwachsener motive zu zerfasern. Was uns als ganzes
überliefert ist, müssen wir zunächst als ganzes zu verstehen suchen,
wenn sich auch im verlaufe der Untersuchung herausstellen kann, dass
die einheit des Stoffes nur eine scheinbare ist und die analyse ihr gutes
recht beansprucht.
Sigfrids Verhältnis zu Bruuhild-Sigrdrifa tritt uns in der Über-
lieferung als ein einzelner akt der geschichte des beiden entgegen.
Eine genauere betrachtung desselben, zunächst losgelöst von den
anderen teilen der Sigfridssage, scheint aber wünschenswert. Auch
Golther hat diesen teil der sage zum ausgangspunkt seiner Unter-
suchungen genommen (Studien s. 42 — 73), und in der tat ist die ent-
scheidung der bestrittenen frage nach dem Verhältnis des beiden zu
Brunhild-Sigrdrifa von grosser bedeutung auch für die beurteilung
anderer puiikte, wie Golther s. 42 hervorhebt. Yor allem komt es an
auf die richtige auffassung des Verhältnisses der nordischen quellen
unter einander, sowie zur deutschen Überlieferung, und gerade für sie
ist die erörterung unserer frage besonders lehrreich. Auszugehen ist
von der nordischen Überlieferung. Hier sind streng genommen zwei
fragen zu unterscheiden: 1. Sind in der nordischen dichtung Brynhildr
und Sigrdrifa ursprünglich als zwei verschiedene gestalten aufgefasst
und erst in den spätesten quellen zu einer zusammengeworfen, oder
beruht die doppelheit auf misverständlicher Spaltung einer ursprüng-
lichen figur? — 2. Wie hat die nordische dichtung das Verhältnis der
Brynhildr, oder der Brynhildr und der Sigrdrifa, zu Sigur|)r ursprüng-
lich aufgefasst? „Ursprünglich" ist hier zunächst immer zu verstehen
von der ältesten nordischen Überlieferung. Die behandlung beider
fragen kann aber nicht streng getrent werden, sie greifen ineinander
über.
1.
In der Vqlsungasaga, der einzigen altnordischen quelle, welche
zugleich zusammenhängend und ausführlich über Sigur|)s Schicksale
berichtet, linden wir bekantlich folgende darstellimg:
Nach der erschlagung des d rächen und der er Werbung des hortes
erweckt Sigur|3r die auf Hindarljali schlafende Brynhildr; nachdem sie
ihn runen und Weisheitsregeln gelehrt, schwören sie sich ewige treue
(('. 20. 21). Der held j-eitet weiter zu Heimir, Brynhilds schwager imd
SIGFRID UM) BRÜNHII.n. I 5
pflegei", findet sie duit in oincni tuim mit weiblichen arbeiten beschäf-
tigt iiiul verhibt sich ahcrnials' mit ihj- (c. 2.'). 21). Darauf gelaugt er
an liji'ikis hof; durch einen vergx'sscnheitstrank, den die zauberkundige
(Ji'imhildr ihm reicht, vergisst er Brvnhild und hält hochzoit mit (jru[)-
nin (c. 2()). (iunnai'r beschliesst um Brvnhild zu werben. Er und
Sig-ur|)r reiten znci'st zu ihrem vater Bu[)li, (hwauf zu ilirem ])tleg-cr
Heimir, die beich^ der Brynhikl di(^ freie wähl lassen zu nehmen, Aven
sie wolle. Ihr saal , sagt IcztiM'ci', sei nahe bei, ot lern) fm/ l'UUHjfi
dt juDni ei im iiiKiidi hon cigd ri/Ja, rr ri/)/ rhi hrrinuiinhi , er slcfihrii.
rr Hin sa/ hc.iiiKir. Sie kommen zur flammenumloderten bürg; verge-
bens sucht Gunnarr erst sein eigenes ross, dann Grani durchs teuer
zu ti'oiben. Erst, nachdem sie die gestalten getauscht, trägt Grani
seinen hei-i-n durch die lohe. Die saga citiert hier zwei schöne Stro-
phen, die den flammenritt anschaulich schildern-. Die lohe erlischt,
und im saale findet Sigur[)r. Brynhikl, gepanzert und den heim auf
dem haupto. Er neut sich Gunnarr G;jvikason; sie stuzt, fühlt aber,
dass sie ihrem gelübde treu bleiben muss, dem manne zu folgen, der
das teuer durchritte. Drei nächtc teilt 8igur[»r ihr lager, durch ein
nacktes scinvert von ihr gotrent. Als Brynhildr wider zu Heimir komt,
erzählt sie ihm was vorgefallen: „Er durchritt die waberlohe und sagte,
er sei gekommen sich mit mir zu vermählen; er nante sich Gunnarr.
Ich aber meinte {sar/pa „sagte mir"?), dass SigurjH' allein das volbrin-
gen wäirde, dem ich eide schwor auf dem berge, und er ist mein
erster gatte". Heimir aber erklärt, es müsse nun dabei sein bewenden
haben (c. 27).
Die darstelhmg der V(;;lsungasaga, so wichtig auch die einzelnen
teile der erzählung, namentlich c. 27, für die erkentnis der sage sind,
ist in ihrem Zusammenhang das ergebnis der combinierenden arbeits-
weise des sagaschreibers (Paul-Braunes Beitr. 3, 255 — 262. 272 fg.
277 fgg.). Es unterliegt keinem zweifei, dass die doppelte Verlobung
mit Brynhikl auf dem berge und bei Heimir sein werk ist, während
seine hauptquelle, die noch volständige liedersamlung, zwei frauengestal-
ten unterschied: Sigrdrifa und Brynhikl. Die identificierung beider
Ij ok at'nrpu nd dpa af nyja c. 24 (Bugge lo8-''), vgl. Paul -Braunes Beitr.
3. 272 fg.
2) Es ist natürlich völlig wilkürlich , wenn Golther, der den beweis zu führen
sucht, dass der vafrlogi durch unberechtigte Übertragung von Sigrdrifa an Brynhikl
gekommen sei, behauptet (Studien s. 53 a. 2): „es ist gleicbgiltig, wo diese verse jezt
stehen, bei Brynhikl oder bei Sigrdrifa, jedenfals stammen sie aus der Sigrdrifasage
. . . ." Es ist vielmehr von gröster bedeutung.
durch den Verfasser der Vs. ist also für die beurteilung der sage ohne
belang. Wir dürfen vielmehr mit bestimtheit behaupten: die Vols-
ungasaga, obgleich sie Brynhildr und Sigrdrifa zusammenwirft, weist
durch die ganze art ihrer darstellung und manche einzelheiten (a. a. o.
272 fg. 279 fg.) noch deutlich darauf hin, dass ihr Verfasser sie in
seinen quellen getrent vorfand. Er hat sich im wesentlichen darauf
beschränkt, den namen Sigrdrifa durch Brvnhildr zu ersetzen, sowie
zwischen der Verlobung mit Sigrdrifa auf dem berge und der Verlobung
mit Brynhildr bei Heimir einen notdürftigen chronologischen Zusam-
menhang herzustellen. Auch der NornagestsI)ättr c. 5 (Bugge 65*)
nent die auf Hindartjall erweckte valkyrie Brynhildr, ohne dass sich
daraus für die ursprüngliche nordische Überlieferung etwas ergäbe.
Die Spaltung in Sigrdrifa -Brynhildr, welche die Y^lsungasaga
beseitigt hat, wird in ihrer quelle, tler liedersamlung, denn auch
wirklich bestätigt. Der samler, welcher um 1240 oder 1250 die ihm
bekanten mythologischen und heroischen lieder zu einem grossen cor-
pus vereinigte, hat für die Sigur|)slieder offenbar eine biographische
anordnung angestrebt. Trotz der gerade in diese partie fallenden grossen
lücke des Codex Regiusi wird dieses princip der anordnung sowol aus
der reihenfolge der erhaltenen lieder wie aus den capiteln 23 — 29 der
Vglsungasaga (s. Beitr. 3, 286. Edzaixli Yolsunga- und "Ragnars-Saga,
1880, s. XXI fg.) zur genüge klar. Wahrscheinlich existierte dieser
teil der samlung — d. h. die lieder, welche den abschnitt der sage
von Sigur^js geburt bis zu Brynhilds tode behandeln, mit zusammen-
hängender und chronologisch fortschreitender prosa untermischt —
bereits früher für sich- und wurde als ganzes vom samler seiner
liedersamlung einverleibt (Edzardi, Germ. 23, 186 fg. 24, 356. 362 fg.;
vgl. Ztschr. f. d. phil. 12, 111 fg.). Der samler kante neben Brynhildr
Bu|3ladöttir eine valkyrie Sigrdrifa. Diesen eigennamen verwendet er
in dem prosastücke vor Sgrdr. 5^ (Bugge 229 1. ^K -^). Auf Hindar-
fjall erblickt Sigur]ir ein helles licht, svä sem cldr hrynni, ok Ijömapi
1) AVol aber verbietet die lücke, wie mir scheint, die aufstellung der gruiid-
sätze, welche E. M. Meyer, Ztschr. f. d. a. 32, 402 fgg. für die anordnung der
eddischeu heldenlieder nachzuweisen sucht.
2) Als Sigurparsaya? Ansprechend erklärt Edzardi durch diese annähme die
berufung des N|). c. 5 (Bugge 65^) auf eine saga Sigurpar, womit keinesfals die
VQlsungasaga gemeint ist, wie MüUenhoff Ztschr, f. d. a. 23, 113 u. a. wolten. Für
die Brynhild-Sigrdrifafrage ist aber der umstand, dass der Nf). gelegentlich dieses
citates von Brynhildr auf Hindarfjall spricht, ohne belang.
3) Die Eddalieder eitlere ich stets nach Bugge und zwar nach dessen kurz-
zeilen.
SICtFKID UNO HHrNlllLD. I
(if lil himiiis. Trotz dci- unklaiin'it drs aiisdriicks, wuhoi sich auch
die V(dsung'asagH c. L'O (Hii,i;;i;'c 1 L' I -"' fi;.) hcnihi,^t. kann niii' dci' vatV-
log'i i^Piiipiiit sein. Ohne sch\vicrii;kcito]i ^'cht ah(M' dci- iicld in die
schihlbiiru', dort tiiidct ci- die schlafende -anz ^ewafnete juiiutVau. Kr
ninit ihr den iiehii \<ini haupte, schli/J. ihi' den jianzei- aul' mit seinem
Schwerte (iram und zieht ihn al). Da ei'wacht sie. So erzählt (hjr
samlei- odiM- (h-r vert'assei' {\vy Sii;urjtarsai;a in (h'in prosastücko
(Bn,ui;-(> '-'27), das in den ausi^'ahen die oinhutuni;' zu (h'u soii;ontinten
Siuivh'ifumel liihh't. in d<'r handschiift al)er olme jede trennun,^' auf
die schiussprosa zu bVd"nism(}l foli^t. In einem weiteren prosastücke
(r)Ui;g'e 229) nent die erwachte valkyrie sicli Sip-drita; sie erziihlt ihre
<;'eschichte. Dieses prosastück ist unbestritten aut'lösun,i;' von verson,
deren Wortlaut dem sandei' bis auf einen luibcdeutenden rcst nicht
mehr in ^\ov eriniierunu' war oder deren Avörtlicho aufzeichnunji;' er sich
ersparte, weil sie in (h'r Helrei]> S — 10 in wesentlich derselben fas-
suni;- erhalten waren. Dass aber in der alten poetisclien form der
ei'zjihiunu- der valkyrie von ihrem i^escbick dieselbe 8ig-rdrifa genant
war, darf natürlich nicht ohne weiteres angenommen werden, um so
weniger, als die nelrei[) dasselb(^ von Brynhildr erzählt. Diese frage
wird uns mjcli zu beschäftigen haben. Wie der samler si("h die
weitere entwicklung des Verhältnisses zwischen 8igur[)r und Sigrdrifa
dachte, bleibt dahingestelt, da mitten in Sigrdrifas Weisheitslehren die
liicke des Codex Regius begint. Hier genügt es festzuhalten, dass die
liedersamlung als solche eine valkyrie Sigrdrifa, welche 8igur[>r aus
dem zauberschlafe erweckt, von Brynhildr Bu[)lad(')ttir nnterscheidet,
welche er für üunnarr erwirbt. Für die in der samlung enthaltenen
oder einstmals enthalten gewesenen lieder ist damit selbstverständlich
nicht das mindeste entschieden.
Wie die Volsungasaga, so steht auch die erzählung von den Nibe-
lungen in der ausführlicheren redaction der Skäldskaparmäl c. 39 —
42 unter dem einflusse der liedersamlung, wie ich in dieser ztschr.
XII, 103 fgg. gezeigt habe (s. auch Müllenhoff, DA. V, 1, 185 Igg.
232). Snorris nrsprünglichem werke gehört nui- die in U enthaltene
erzählung an, welche mit der ermordnng Hreilimars durch Fäfnir und
Reginn, allerdings etwas gCAvaltsam, schliesst (c. 100 Jh Sn. E. II,
359 fg. = c. 39. 40": Sn. E. I, 352 — 356i'"). Dieser teil ist frei und
unabhängig, während die fortsetzung, die zu einer volständigcn Über-
sicht der sage wurde, in der Überarbeitung (hier fast allein durch r
vertreten 1) unter benutzung der liedersamlung hergestelt ist. Bei die-
1) Li W fehleu c. 39 — 42. Ein nicht ganz kleiueri stück bietet das fragment
ser Sachlage, die auch Golther anzuerkennen scheint (Studien s. 73 fg.).
muss es auffallen, dass dieser gelehrte der fassung, welche die erzäh-
lung der überarbeiteten Skspm. von Sigurps Verhältnis zu Brynhildr-
Sigrdrifa bietet, so grossen wert beimisst. Der bericht lautet bekant-
lich: Sigurpr erweckt auf dem berge die valkyrie Hildr; hon er kql-
lup Brynhüdr ok var valkyrja. Er reitet weiter an Gjiikis hof, ver-
mählt sich mit dessen tochter Gu|)rün und schliesst blutbrüderschaft
mit Gunnarr imd HQgni. Dann gewint er für Gunnarr und in dessen
gestalt Brynhildr Bupladüttir, Atlis Schwester, die auf Hindafjall sizt,
von einem flammenwall umgeben, und geschworen hat, nur demjenigen
gehören zu wollen, der denselben zu durchreiten wagt. Am morgen
nach dem keuschen beilager gibt er ihr den Andvaranaut zur morgen-
gabe und erhält von ihr einen anderen ring tu minja. — Der Verfas-
ser unterscheidet also, wie der samler, eine valkyrie, die er aber nicht
Sigrdrifa, sondern Hildr- Brynhildr nent, von Brynhild Bu})lis tochter,
die bei ihm auf Hindafjall wohnt. Die waberlohe haftet an lezterer.
Eine frühere Verlobung Sigur|)s mit Brynhild erwähnt er nicht, und
somit durfte auch der liebes- oder vergessen heitstrank fehlen. Den
ringwechsel erzählt die Snorra Edda anders und besser als die VqIs-
ungasaga c. 27 (Beitr. 3, 280 fg. Golther, Studien s. 74). Aus die-
sem umstände darf man jedoch „die Selbständigkeit der Snorra Edda"
der liedersamlung gegenüber schon deswegen nicht folgern, weil die
VQlsungasaga hier offenbar eigenmächtig geändert hat und es keinem
zweifei unterliegt, dass das beiden berichten zu gründe liegende, durch
die lücke verlorene lied den ringwechsel gerade so dargestelt hat, Avie
es die Snorra Edda tut. Dass eine frühere Verlobung und damit auch
der zaubertrank in der darstellung der Snorra Edda fehlen, wird noch
im verlaufe unserer darstellung genügende erklärung finden: es war
eben die sagenform des zu gründe liegenden liedes, desselben, auf Avel-
chem der kern des c. 27 der YQlsungasaga beruht. Aus einem der
durch die lücke verlorenen lieder wird auch die sonst unbekante Gjü-
katochter Gu|)ny stammen (Sn.E. I, 360 1''), ebenso GotI)ormr als Gjükis
Stiefsohn, wie im Hyndluliede 27 (MüUenhoff, Ztschr. f. d. A. 10, 155.
DA. V, 1, 186). So werden wir auch bei dem namen Hildr, „die Bryn-
hildr genant wird", für die in der samlung als Sigrdrifa auftretende
valkyrie zunächst an Helrei}) 7 zu denken haben:
heto iiiik aller i Hlymdqlom
Hilde und hjalme, hverr es kunne.
leß oder richtiger (s. Katalog over den Arn. häudi^kriftsaml. I, ö) cod. AM 748, 4"
(Sn.E. II, 573 fgg-), der einen älteren text als ;• enthält.
SIGFKID UNI) BRUNllILD. T 9
Was bedeutet alicr dei' /ii^atz: Jxiii i'r /,q///(J) Jir//nhildr? Jedeafals
nichts anderes, als dass der liherarbeiter der Snorra Edda der Schei-
dung;' zweiei- frauengestalten, wclclie er im anschliiss an die liedersani-
hinfi' v(»i-nalun, selber nur sehr be(Ungt l)eiptlichtete. Und in der tat
fraiit man erstaunt, Avas nach seiner darstelluni;- (Ue (M'wcckung der
Ilildr ül)erhaupt soll, welcheu portisclien zweck sie crt'ült. In der lie-
dersauüung, d. Ii. in der uns üb(n'liet'ertcn ini(M'polierten und am schluss
abbrechend*Mi i;'estalt d(>r Si<;rdrit'umol , lehrt die erwachte vaJkyrif^ (\en
jungen hehlen wenigstens runcn und spri'u'he (h;r w(Msheit. In der
Snorra Edda fehlt sogar dieser, freilich äusserst wirkungslose, zweck
des besuchs. Wenn (lolther, »Studien s. 45 äussert: „die wenigen auf
die Zusammenkunft mit Hildr sich beziehenden werte kiinten leicht
ausfallen, oIhk^ dass der handlang dadurch ii-gcndwie ei ntrag geschähe",
so hätte ihn diese unzweifelhaft richtige bemerkung zur einsieht füh-
ren müssen, dass eine so überflüssige, nichtssagende episode nimmer-
mehr alte sage und dichtung widerspiegeln kann. Beruht also die
erzählung von den Nibelungen in der überarbeiteten Snorra Edda nach-
Aveislich auf der liedersamlung, wobei natürlich stets die lücke des
Regius in anschlag zu luingen ist, und trägt die bemerkenswerteste
abweichung das deutliche gepräge des unursju'ünglichen , so haben wir
durchaus nicht das recht, diesem berichte selbständige oder gar ent-
scheidende bedeutung beizumessen. Mit MüUenhoÖ', DA. V, 1 , 186
haben wir darin nur „eine zw^ar eigenmächtige, aber wohl bedachte
combination" zu erblicken.
Unter den heldenliedern der Edda ist die (xripisspä das einzige,
welches die schlafende Jungfrau auf dem berge deutlich unrl unzwei-
deutig von Brynhildr Bu[)lad6ttir unterscheidet. Die (iripisspä ist
anerkantermassen ein junges Übersichtslied über die Öigur|»ssage in
gestalt einer prophezeiung, das der samler nicht ohne guten grund an
die spitze der lieder von den Nibelungen stelte. Sie sezt ausser Reg-
insniQi, Fäfnismöl und Sigrdrifum()l die lieder voraus, welche dem
Verfasser der Volsungasaga für c. 23 fg. 26 — 29 zu geböte standen,
kann also kaum viel älter sein als die liedersamlung und ist am wahr-
scheinlichsten um die scheide des 12. und ] 3. Jahrhunderts anzusetzen.
Ich sehe keinen zwingenden grund, mit Edzardi (Germ. 23, 325 fgg.
vgl. 27, 399 fgg.) anzunehmen, dass die Gripisspä in älterer gestalt mit
Str. 23/24 abgeschlossen habe, brauche aber in diesem zusammenhange
nicht auf die frage einzugehen. Reine wilkür aber ist es, Avenn Gol-
ther (Studien s. 47) die altQ Gripisspä mit str. 18 enden lässt, die
„einen offenbaren abschluss" enthalten soll, wovon ich nichts spüre,
10 SIJMONS
fals man nicht Nus pvi lokef 18' talsch übersezt: „damit ist die sache
abgetan" und den übrigen inhalt der strophe unberücksichtigt lässt.
Nimt man das gedieht wie es vorliegt, so ist die reihenfolge der bege-
benheiten folgende: 1) Erschlagung des drachen und Regins und erw er-
bung des hortes 11. IH^^''. — [2) Besuch bei Gjüki 13 ^•'^, sonstiger
Überlieferung (doch s. u.) widersprechend und von Bugge Fornkv. 415''
wol richtig erklärt als misverständnis von Fafn. 40 fg.]. — 3) Erweckung
der schlafenden Jungfrau auf dem berge, die SigurJ) runen und heil-
kunst lehrt 15 — 18. Ihr nanie wird nicht genant {f'ijlkcs dötter hjqrt
i hrynjo)^ die waberlohe nicht erwähnt \ von einer Verlobung ist nicht
die rede. — 4) Besuch bei Heimir, wo sich Brynhildr , Bu[)lis tochter,
Heimirs föstra befindet. Sigurpr verliebt sich in sie und verlobt sich
mit ihr 19 ^-\ 27 — 31'^ — 5) Nach einnächtlichem aufenthalt bei
(Ijüki vergisst der held, durch Grlmhilds betrug betört, die Brynhild
geleisteten eide; er erwirbt dieselbe für Guunarr (blutbrüderschaft zwi-
schen Sigurl3r, Gunnarr und Hogni 37^-^^ gestaltentausch 37 ^ — 39-*,
keusches beilager 41) und vermählt sich selber mit Gulu'ün 31-^ — 43.
Doppelhochzeit. Yon der waberlohe ist auch hier keine rede ^ —
Bemerkenswert ist in dieser darstellung die strenge Scheidung zwischen
der (ungenanten) schlafenden Jungfrau auf dem berge und Brynhildr
Bu|jladöttir, die Verlobung mit lezterer bei Heimir, die nichterwähnung
der waberlohe soavoI bei der erweckung der Jungfrau d fjaJle als bei
der erwerbung Brynhilds.
Die Gripisspä ist der älteste uns bekannte versuch, SigurJ^s
lebensgeschichte in chronologischen Zusammenhang zu bringen; sie
zuerst hat aus dem nebeneinander verschiedener sagenformen ein bio-
graphisches nacheinander hergestelt, das für den samler und damit
auch für den Überarbeiter der Snorra Edda und den Verfasser der
Volsungasaga bestimmend geworden ist. Die trennung der Jungfrau auf
dem berge von Brynhildr, ihre auffassung als besondere figur, ist,
1) Bugge Fornkv. 412 sucht die waberlohe in der verderbten halbzeile IS'*
ept(ir) bana Helga, wofür er vorschlägt mid bana seljo. Die conjectur hat mehr-
fach Zustimmung gefunden, und Golther Studien s. 52 benuzt sie sogar zu seinem
beweise, dass der vafrlogi ursprünglich nur zu Sigrdrifa gehörte. Bugges besserung
hat für mich nichts überzeugendes, da der fehler vermutlich mit in bana steckt, das
in z. 8 noch einmal c. gen. gebraucht ist.
2) Edzardi, Germ. 27, 402 glaubt, dass eine hinweisung auf die waberlohe bei
der Schilderung der Werbung um Brynhild ausgefallen sei. Auch diese Vermutung ist
sehr fraglich: der dichter der Grip. kann den tlammenritt absichtlich fortgelassen
haben, da er nach der Spaltung der Brynhildr - Sigi'drifa uugewiss war, wo derselbe
anzubringen sei.
SIGFRID UND BRUNHILD. I 11
soweit die uns vdrliegendcn (juelleii ein urteil gestatten, das "sverk des
dichters der Giipisspä.
2.
Dass die ältere nordische Nibelungendichtuug die identität von
Brynliildr und Sigrdrifa ausdrücklich oder stilschweigend voraussezt,
ist die ansieht der meisten älteren deutschen forscher gewesen. Gele-
gentliche äussorungen Jacob und Wilhelm Grimms ^ lassen keinem
Zweifel räum, auch Lachmann muss diese auffassung geteilt haben.
Müllen hoff (Ztsclir. f. d. a. 10, 155) äusserte: „Brynhildr heisst im
norden bekantlich auch »Sigurdrifa" und betrachtete beide namen als aus
der deutschen sage herübergenommen. „Als Brunihild, Bellona loricata,
ist die Walküre die doppelgängerin der nibelungischen Grimhild, der
Bellona larvata oder galeata; als Sigutriba .... aber ein dem echten,
lichten göttersolme, d. i. dem Walsung Sigufrid gleichartiges wesen'".
Auch ^Y. Müller- (Myth. der deutschen heldens. s. 81 fgg.) sah
in Sigrdrifa nur einen anderen namen für Br\"jdiild, nahm aber an,
derselbe sei speciell nordisch, wie denn überhaupt nach der ansieht
dieses gelehrten die Verlobung bei Heimir ursprünglich, die Verlobung
mit der Jungfrau auf dem berge ausschliesslich nordische dichtung wäre.
Andererseits hat es nicht an stimmen gefehlt, die eine trennung
der beiden figuren von altersher befürworteten. Die wichtigsten der-
selben hat Golther, Studien s. 49 gesammelt. Von skandinavischen for-
schem vertreten u. a. F. Magnussen (Lex. myth. s. 414), Bugge
(Fornkv. s.XXXYIII), Grundtvig (Edda^ s.230='), Rosenberg (Xord-
boernes aandsliv 1, 289 fg.) diese ansieht. Rydberg (Undersökningar
i germ. myth. 1, 732. 2, 272 fgg.) betrachtet „Segerdrif\^a" als eine in
die heldensage übertragene mythische figur, die ursprünglich mit Brj^i-
hild Buplis tochter nichts zu schaffen hatte. Die weitere ausführung
dieses gedankens, wonach erst „redaktören af FafnersmaL' die weit
älteren Sigrdrifumol in den SigurJ)scyclus gezogen und dem beiden, der
Sigrdrifa erweckt und von ihr runenweisheit lernt, den namen des
Sigurpr Fäfnisbani gegeben haben soll, ist so phantastisch, dass ich
auf eine Widerlegung verzichten darf. In Deutschland haben sich in
neuester zeit Heinzel mid Golther für die Scheidung erklärt. Heinzel
in seiner inhaltreichen und gelehrten schrift über die Nibelungensage
(aus den Sitzungsberichten der Wiener akademie, phil.-hist. cL, CIX,
1) S. z. b. J. Glimm, Myth. ■'351. 111, 119. Xl.sclu-. 2, 276 fg. — AY. Grimm,
Hds. 349.
2) Auch schon in seinem „Yöi'such einer unihol. erkläruug der Nibelimgen-
sage" (1841) s. 63.
12 SIJMONS
s. 671 fgg.), Wien 1885, s. 22 fgg. entscheidet sich für die ursprüng-
lichkeit der sagenform, welche zwei valkyrien kent, die valkyrie SigurJ)s
Hildr oder Sigrdrifa und eine andere, „welche Brünhild heisst und
Günthers gemahlin wird". Auf Heinzeis vorzugsweise ästhetischen
gründe wird noch einzugehen sein. Golther hat in den „Studien"
s. 44 fgg. der frage eine eingehende Untersuchung gewidmet, als deren
ergebnis sich herausstelt, dass in den Eddaliedern die valkyrie Sigr-
drifa oder Hildr überall scharf getrent wird von Brynhildr Bupladöttir.
„Nirgends wird ein näheres Verhältnis zwischen Sigurd und Sigrdrifa,
ein Verlöbnis erwähnt; Sigrdrifa verschwindet, nachdem sie Sigurd
runen gelehrt hat" (s. 49). In seinem aufsatze in der beilage der Allg.
Zeitung 1890, nr. 60 wird diese ansieht so formuliert, dass „in der
nordisclien dichtung diese Sigrdrifa von der Brynhildr durchweg unter-
schieden wird und erst die spätesten -quellen des 13. Jahrhunderts den
imglücklichen versuch machen, die beiden gestalten in eine einzige
zusammeniliessen zu lassen."
In den Beitr. 3, 255 fgg. habe auch ich, ohne die ursprüngliche
mythische einheit der Sigrdrifa -Brynhild anzufechten, die ansieht auf-
gestelt, dass, soweit wir auf quellen zurückgehen können, eine Spal-
tung eingetreten sei, die sich als sehr alt erweise durch feststehende
charakteristische züge. Dieser ansieht hat sich Edzardi (Übers, der
YqIs. s. 92** u. ö.) angeschlossen. Wie sich aus dem bisher erörterten
bereits ergeben hat, kann ich dieselbe nicht mehr als richtig anerken-
nen. Vielmehr bin ich durch eine neue erwägung der fi'age und fort-
gesezte beschäftigung mit den Eddaliedern zur Überzeugung gelangt,
dass erst der Verfasser der Gripisspä die Spaltung der Brynhildr in
zwei gestalten vorgenommen hat^. Die berechtigung zu dieser auffas-
sung muss sich zugleich mit ihrer näheren begründung aus einer ana-
lyse der eddischen heldenlieder ergeben. In betracht kommen nament-
lich die Schlussstrophen der Fäfnism^l, die Sigrdrifuni(»l und Helrei|)
Brynhildar.
In den Fäfnism()l str. 32. 33. 35. 36. 40 — 44 sind uns frag-
mente eines liedes aus dem SigurJ)scyclus im fornyrpislag überliefert.
Demselben liede mögen auch Reg. 13 — 18. 26, sowie Sgrdr. 1. 5 nebst
der halbstrophe im prosastücke vor 5 angehört haben. Ähnlich urteilen
Ettmüller, Germ. 17, 13; Edzardi Germ. 23, 319 fgg.; G. Vigfüsson,
1) Dieselbe ansieht äussert, wie ich erst später bemerkte, W. Eanisch in
der ersten der hinter seiner dissertatiou „Zur kritik und metrik der Ham{)ismal "
(Berl. 1888) abgedruckten thesen: „Brynhildr und Sigrdi-ifa sind erst durch den dich-
ter der Gripisspä als zwei verschiedene pei'souen gefasst".
SIÖFKIU UND BRliNHJLM. I 13
Cpb. 1, 157 Igy. und h\ Joiissoii in seiner ausgäbe. Nach der t(itung
Rogius erteilen die vögel dem Sig-ur{tr ratsciiliige:
■10 /)'/// Jui, Si(/r(ti/t/\ h<(ii<i<i raiijKi!
rsd LoiiKHfih'kt lirijxi /t/oiyo:
///(// rcilk cina iiilklo fcfirslu^
(/(>//< i/(')(/(/(t , ."/ (/(f(t Hurllcf.
■1 1 I-'iHilj" lil ({ji'ih'ii jiröudr Urin(f(')\
l'niiu r/s// .s/,(>j) j/)lhl/p(ti//l/)ii/ ;
h/fr /l/'/rr l:/n/i////ir /lülh/r ali//i,
!>// Il//tl/l , ^^i'Jf'i' f"'i inKii/lc l>/l.//j)/l.
In sti'. 41 ist von (ifujirrui die rede; ob die vorhergehende stii»phe sie
oder Hrynhild meint, liisst sich mit Sicherheit allei-dings nicht entschei-
den. Die herausgeber und commeutatoren schwanken; es mag genügen
auf die enirtei'ungen Bugges (Furnkv. 41;")) und Edzardis ((rem]. L*;),
v!22 fgg.) zu verweisen. Mit di(>sem bin icli geneigt, auch in der Jung-
frau, von welcher die vTjgel in sti'. 40 singen, (iu|ii'ün zu erblicken,
nicht Br\nhild. Es ist an sich natürlicher, in str. 41 eine furtsetzunc
des gedankens der vorhergehenden strophe zu sehen. 'Die „mit gold
ausgestattete maid" erinnei-t an (ru|)rüns \voi'te (Ui|>r. 11, 1''' "^i /mx
11/ iJ: (Iji'/k/' [/(/!//■ r/i ['])/■ , ///>///' r/'i ['[)/•, (j/if Slijv/'rjtr; nach Sig. sk. 2 wird
dem heldeu mit der jnngfrau mcijnna fjr)lp geboten. 8odann führt die
aufforderung der vögel 40 \ die roten liuge zusammenzubinden, tVdge-
reelit zu der prophezeiung 41'. dass er sie brauchen wird nm (Ju|)rüu
mit dem maischatz zu kauten. In den werten r/' ficf/i iiu'ett/'r 40 '^
liegt kaum, wie Bugge meint, ein hinw^eis darauf, dass das Schicksal
8igur|) nicht gestatten werde, sich mit der Jungfrau zu vermählen, viel-
mehr eine ermunterung: ,, suche sie zu erlangen!" (s. Edzardi a. a. o,
824 a. 2). Dei- gewolte Zusammenhang der beiden Strophen scheint
dieser zu sein: „Binde zusammen, SigurJ}, die roten ringe! Nicht ist
es königlich, viel zu fürcliten; eine w'uuderschöne Jungfrau kenne ich,
goldgeschmückt, köntest du sie erlangen! Zu Gjüki führen gi'üne
wege, vorwärts weist das Schicksal den recken^; es hat der edle könig
eine tochter gezeugt, die wirst du mit dem malscbatz erwerben".
Es folgt die schlafende Jungfrau auf dem bei-ge:
42 Scflr's d hövo Hindarf jalle,
allr es ütan ekle sveipemi,
1) fulldipqndum 41'* dat. pl. soll heissen: „umlierzielionde reckeu, wie du''.
De^r plural in dieser algemeinen sentenz gestattet die anweiidnng auf den vorliegen-
den fall. Ähnlich steht der plural Sig. sk. 14'', etwas abweichend (Jlu|)r. IT, .'>*'.
Helg. Hu. II, 46'*, vgl. Bugge Fornkv. 249 ^ K. Oislason Njala 11, 562 fg.
14 si.BroNS
])ann hafa hoi'sker haier of gqyvan
ör ödekkoni ögnar Ijöimi.
43 VeHk d fjallc folkvUt sofa, ■
ok leikr yfer lindar vdpe;
Yggr stakk Jwrne — aj>ra felde
hQ?rjefn hale, an hafa vilde^.
Auf Hindaiijall im flammenumloderten goldenen saale schläft eine
valkyrie, die ÖJiinn mit dem schlafdorn gestochen hat, da sie andere
männer getötet hatte, als der gott ihr befohlen. Die einzelnen züge
sind wesentlich dieselben, wie in der prosa vor Sgrdr. 5 und Helr.
Brynh. 8 — 10, nur absichtlich in unsicherer märchenhafter beleuch-
tuug, wie sie der Situation angemessen ist. Zweimal wird die schlä-
ferin in str. 48 umschrieben, ihr name wird nicht genant, so wenig
wie Guf)runs in str. 40 fg. Nun aber heisst es weiter:
44 Kndft, tnqgr, sea mey und. hjaliue,
päs frd vige Vi7igskorne- reip;
mät sigrdrifa(}j svefne hregpa,
skjqldunga riipr, fyr skqpom. )iorna.
In der zweiten halbstrophe bietet die Überlieferung sigrdrifar, wäh-
rend Bugge Fornkv. 415'' Sigrdrlfa änderte. Jedenfals versteht Bugge
mit recht skjqldimga nipr als anrede, wie mqgr z. 1, nicht als Subjekt
zu indt. Denn, wenn F. Jonsson Eddalieder 2, 126 unsere stelle
erläutert: „wenn der vogel sagt, dass Sigrdrlfa niemals erwachen kann,
so ist es ein versuch, SigurJ)r vom schlafenden weibe fern zu halten'',
so liegt es nahe dagegen zu bemerken, dass der vogel diesen zweck
einfacher und kürzer hätte erreichen können, wenn er der valkyrie
überhaupt nicht erwähnt hätte. Keinesfals aber durfte der vogel
behaupten, dass Sigurpr ihren schlaf nicht zu brechen vermöge, ohne
eine wissentliche Unwahrheit zu sagen. Der held wird die behelmte
maid schauen, die (oder, wie sie?) auf ihrem streiti'oss aus dem kämpfe
ritt. Ihr schlaf kann nach dem ratschluss der nornen nicht gebrochen
werden: dass der skjqldunga nipr, Sigurpr, allein dies vermag, wird
verschwiegen, wie es der haltung dieser prophezeiung wol entspricht 3.
1) 43** — ** nach der überzeugenden lierstellung oder richtiger deutimg der Über-
lieferung vonGrundtvig und Bugge. R liest: ap'a feldi liavrgefa hali e hafa midi.
Ergänzung von es vor a^ra ist unnötig und metrisch nicht empfehlenswert.
2) 44* vingscornir B; Vingskorne lesen mit recht die alten Kopenhagener
und die neueren herausgeber seit Bugge.
3) G. Vigfiisson Cpb. T, 158 übersezt richtig: „Sigrdrifa's sleep eanuot ])e bro-
ken, thou son uf the Shieldings, becauso of tlie Fate's decrees". Es geiit nicht an,
SIGFKII) TWIl RRTTNUILn. I
Ob mit der liaiulschrift sijirdnfar oder mit ßugge siyrdrifa gelesen
wii'd, ist für den sinn freilicli gleichgültig. Die Überlieferung Hesse
sich syntaktisch wol verteidigen, aber der gQn. sigrdrifay sezt einen
nom. '■Siiinhif voraus, der sonst nicht überliefert, wenn auch sehr
wol deidvbar ist (s. unten); für Bugges änderung dürfte ferner die ana-
logie von 8grdr. 1 -, 2 ■'■ '^ sprechen. A''on grösserer bedeutung ist aber
eine andere frage, die sich an dieses wort knüpft, für unseren zweck
von entscheidender.
8igrdrifa()j ist bisher wol algemein als elgenname verstanden
worden. Ich lial)o wenigstens nirgends eine andere auffassung ange-
deutet gefunden und verdanke selber die anregung zu meiner jetzigen,
in Pauls Grundriss II, 1, 28 bereits angedeuteten, hier näher zu be-
gründenden auffassung einer brieflichen bemerkung meines freundes
H. Gering. Es wäre das einzige mal, dass Sigrdrifa in den Eddalie-
dern genant würde; ihr sonstiges vorkommen beschränkt sich auf die
prosa vor str. 5 der Sgrdr. (Bugge 229 1- ^^- ^i). Str. 40. 41 reden von
Guprün, ohne sie zu nennen; in str. 42. 43 Avird von der flamnien-
umgebeneii valkyrie gesungen, ohne dass ein name genant wird; auch
str. 442 spricht nur von der behelmten maid: auffallend wäre es, wenn
plötzlich am Schlüsse der name der dreimal umschriebenen hervorträte,
um sonst nirgends in den liedern Verwendung zu finden! Sieht man
zunächst ab von anderen Überlieferungen und betrachtet unsere Stro-
phen für sich, so liegt es näher, sigrdrifa appellativisch zu verstehen
als eine neue poetische bezeichnung der valkyrie, die stilistisch nicht
bedenklicher wäre als foJkvitr. 43-, hqrgefji 431 Die fornyrpislag-
strophen der Fäfn. verwenden kenningar in ziemlich ausgedehntem
massstabe: SigurJ)r heisst spiller hauga 32 "\ hildemeipr 36-, skjqldunga
nipr 44'^ (dazu kommen Yngva konr Reg. 14 3, hrynpings npaldr
Sgrdr. 52), das gold ögnar Ijöme 42 8, ^^^ fQxxQT Undar vdpe 43^, das
herz fjqrsege 32' (das schiff Ecevels kestr Reg. 16 2, seglvigg 16^, väg-
7narr 16^, scetre 17'-, hlunvigg 11'^). Auch hers japarr Fäfn. 36-^ (baue
Sigmundar Reg. 26 3, hilmes arfe 26^) gehören einigermassen in die-
sen Zusammenhang. Eine Umschreibung sigrdrifa für die valkyrie
Brynhildr wäre dem stile unseres fragmentes gewiss nicht zuwider:
vgl. Edzardi Germ. 23, 320 fg. Der samler hätte aus der appellativi-
schen bezeichnung einen eigennamen gemacht, und Sigrdrifa, sei es
nun als zweiter name der Brynhildr, sei es als name einer besonderen
skjqldunga n/pr (als Subjekt zu j/idf) von anderen königssöhnen (im gegeusatz zu
SigurJ)!-) zu verstehen; nocli viel weniger kann fyr sl:qpom. noma beissen .,eli die
uoruen es fügen" (Simroek).
16 SIJMONS
figur, würde auf einem misverstäudnis beruhen. Die mögliclikeit eines
solchen misverständnisses dürfen wir getrost behaupten: hat doch der
samler in der prosaischen einleitung zur V0hindarkvij)a sich nachweis-
hch einen ähnlichen irtum zu schulden kommen lassen^.
Nach Golther Studien s. 37 wäre tSiyrdrifa eine Zusammensetzung
mit drifa „Schneesturm, schneetrift". Weit richtiger hatte bereits
J. Grimm Myth.^ 741 in Sigrdrifa „die nordische Victoria oder Nlk^j^'-
gesehen und Müllenhoff Ztschr. f. d. a. 10, 156 hatte an ahd. wig trt-
han Graff 5, 482 erinnert. Mit altn. drifa in der bedeutung „schnee-
trift" ist nichts anzufangen. Allerdings wird dieses wort in der skal-
densprache zu Umschreibungen für kämpf verwant: so ist hjqrdnfa in
der Gräfeldardräpa des Glümr Geirason (Hkr. U. 136-^") eine leicht
verständliche kenning „schwert(schnee) stürm = kämpf" (vgl. hjqrregn,
hjqrgräp Lex. poet. 348 fg.); vgl. ierner hjcdmdrifa [lijalmdrifo vipr
Sighvatr Hkr. U. 307 21], hlemmidnfa Hüdar Hatt. str. 54 » Mob.,
loptdrifa Fms. I, 170, pingdrifa [Jringdrifo me/ui Sighvatr Hkr. U.
522 2*"' „die zur voiksversamlung strömenden menschen"]. Die mhd.
volksepik liebt es, die geschosse oder die heerschaaren mit schnee zu
vergleichen (W. Grimm zu Athis E 146 = Kl. sehr. 3, 306; Jaenicke
zu Bit. 10193), und die nordische skaldendichtnng tut wesentlich das-
selbe, nur dass sie den vergleich in eine kenning zusammendrängt.
Damit ist aber für sigrdrifa wenig gewonnen, man müste denn mit
Golther DLZ 1890, sp. 333 annehmen, dass eine kenning für kämpf
als bezeichnung für die valkyrie gebraucht sei. Aber näher liegt eine
andere deutung des namens.
Die quantität des zweiten /" von sigrdrifa (r) Fafn. 44'' ist mit
Sicherheit nicht zu bestimmen. Ich fasse die halbzeile mdt sigrdrifa (/j
als den Sievers'schen typus 0 3 ( X -^ 1 ^ X ) und das i von -drifa,
demnach als kurz. In sigrdrifa hätten wir ein weibliches nomen agen-
tis mit n- Suffix, zu welchem das masculinum -drife vorliegt in hring-
drife Akv. 31 ^^ [frohi hringdrife, d. i. -i | jl -^ X typus D 2), mit
regiüärer schwächster vokalstufe, wie liveldripa , inyrhripa : haldripe
usw. (vgl. Hj. Falk Beitr. 14, 14 fgg.). Neben -drife kent die altn.
dichtersprache -drifr (mit praesensvocal), so mit liri^igd/rife gleichbedeu-
1) Die Sache liegt dort wol folgendermasseu. Der uom. sing, alvitr u^uja 10'
(über akrltr s. Sievers Beitr. 12, 488) verführte den samler dazu, auch 1'^ und 3"
den gleichlautenden nom. plur. als sing, zu behandeln und demgemäss ungar durch
unija zu ersetzen. In seiner prosa hat er dann ahntr als beinamen der Hervcjr ange-
sehen, ebenso vielleicht svanhinf 2-' als beinamen der Hla]jgul)r. Allerdings ist 4'"
svanhvito der tonn nach eigeimame: stand hier ursprünglich svanhvUre'^
SIGFRID UNI) URTTNHILI». I 1*7
teiul hriit(i(h'ifr (Lex. poet. H!l()), bauijdrlf)- [baniidrif vom li. Olaf
Geisli 17'' nach Bergsbok ^ hrainhlrif V\i\i.\^ fornor qrdrifr Korni. s.
str. 55' Mol). \Jij<)rdnfr Cod., hringdrlfr? F. -lonssoii bei Möbius s. 147J.
Wie hr'uHjdiife oder lirhigdnfr den milden tursten als (k^n „ringspen-
der'' bezeicbnet, so s'njrdnfii (oder sigrdrif) die valkyrie als die „sieg-
speuderin". Die bildiingen schliessen sich an drifd in der bedentnng-
„stauben, streuen", einer specialisierung der ursprünglichen b(!deutung
des germanischen verbums dr/'han „in eilige bewegung versetzen".
Styrdrifa als bezeichnung der valkyrie erinnert an sigrmeijjay (Fms. Y,
246), sijjrfljop {(/jöpovf ■'^'f/r/ljojx/ „den raben" Eyrb. 1864, 114 2): ist
es doch das amt der valkyrien, des sieges zu walten {räpt slyri Gylf.
c. H6: Sn. E. I, 120. II, 275). Wenn in dem bekanten ags. bienen-
segen der ausdruck si^eirif auffallender weise auf schwärmende bienen
angewant wird (Grein -Wülker 1, 320; vgl. Zupitza Anglia 1, 189 fgg.),
so wird man annehmen dürfen, dass er ursprünglich valkyrien bezeich-
nete und erst später auf bienen bezogen wurdet
Als ergebnis dieser erörterung glaube ich aufstellen zu dürfen:
sigrdrifa in Fäfn. 44 ist appellativische bezeichnung der valkyrie, die
nicht genant wird, aber unter der nur Brynhildr verstanden Averden
kann. Die prophezeiung der ig[)ur kent also mir zwei frauengestalten,
die in Sigur[)S Schicksale eingreifen werden: Guprün, die er heiraten,
und Brynhildr, die er aus dem zauberschlafe durch den tlanmienritt
erwecken wird. Diese reihenfolge ist, wie sich ergeben wird, nicht
wilkürlich. auch nicht mit Bugge Fornkv. 415 und Edzardi Germ. 23,
323 so zu deuten, dass die vögel zuerst die hauptbegebenheit, dann
die frühere begegnung mit der schlafenden valkyrie hervorheben, son-
Ij (jalten etwa bienenscliwärmt} dem ausziehendeu krieger als gutes onieu und
daher die bienen als „siegspendende frauen" (si-^eivtf)? Ich kann die frage nur auf-
werten, mache aber darauf aufmerksam , dass im märchen die bieneukönigiu sich auf den
mund ihres günstlings sezt (KHM. nr. 62. Myth.-* 579). — Den Eömern galten frei-
lich im algemeinen bienenschw.ärme als üble Vorzeichen, sowol im lager (Liv. 21, 46.
Valer. Maxim. 1, 6, 12j, als auf dem markte in der stadt (Liv. 24, 10. 27, 23)
und so uocli bei Ammian. Marcell. 18, .^, 1 im jähre 359 n. Chr. Auf eine andere
auffassung könte allerdings Plinius n. h. 11, 55 deuten: scdere (apes) in caitlris
Dnisi imperatoris, ckhi prosperr pwjnaiuDi apud Arhaloiin)! est, haud quacpMui
perpetna harnspicum conjectura, qui dirum id ostentmn existimant semper. Diese
auffassung steht vermutlich unter griechischem einflusse. Als Dionysius I. von Sici-
lien einmal die band in die mälme seines pferdes schlug, um dasselbe zu besteigen,
und ein bienenscliwarm sich darauf niederliess, erklärten die Wahrsager, oti tuOtu
^loi'HQyiuv S>]}.oi (Aelian. Yar. Hist. 12, 46 = Cic. de div. 1, 33, 73. Plin. n. h.
8, 158); vgl. auch Diodor. 19, 2, 9. Bei diesen nachweisen haben mich prof. Yaleton
in Amsterdam und mein liiesiger College prof. Boissevain ft-eundlichst unterstüzt.
ZEITSCHRIFT F. DEUTSCirE PHILOLOGIE. Bl). XXIV. 2
18 SIJMONS
dern nach der einen der beiden ältesten nordischen sagenfassungen
auch chronologisch richtig.
Hinsichtlich der Sigrdrifumöl kann ich mich in allem wesent-
lichen den ausfiiln'ungen Müllenhoffs DA. Y, 1, 160 fgg. anschliessen.
Die kritische analyse dieses „liedes", d. h. der Strophen, welche die
samlung ohne andeutung ihres verschiedenen Ursprungs als ganzes bie-
tet und die ausgaben unter dem titel Sigrdrifumöl zusammenfassen,
führt zu folgendem ergebnisse. Den grundstock bilden bruchstücke
eines gedichtes in Ijöjjahättr (A), dessen stoff die erste begegnung Sig-
urj)s und seiner valkyrie bildete: str. 2 — 4, zu lesen in der reihen-
folge 3. 4. 2 (Miülenhoff s. 161), 20. 21. (22. 23. 24. 26. 28. 29. 31.
32. 33. 35. 37, von denen gleich näher die rede sein wird). Bereits
in der mündlichen recitation verschmolzen mit diesem gedichte Stro-
phen eines anderen liedes aus dem Sigurf)scyQlus in fornyrpislag (B),
dem möglicherweise auch Reg. 13 — 18. 26. Fäfn. 32 fg. 35 fg. 40 —
44 angehörten (s. oben s. 12. dazu aber auch unten s. 30 anm.). Der
aufzeichner hatte nur noch str. 1 und 5 im gedächtnis, die erzählung
der valkyrie von ihrem geschick war in ihrer alten poetischen fassung
bis auf einen geringen rest (die halbstrophe in der prosa vor 5) ver-
gessen. Eine jüngere einschaltung, die aber die Verbindung von A
und B voraussezt, da sie offenbar veranlasst wurde durch die erwäh-
nung der gamanrünar 5^, ist das rünatal str. 6 — 13'^. Daran haben
sich in der Überlieferung angeschlossen verschiedene bruchstücke alter
gedichte: str. 13-*~^°. 14. — 15 — 17 (eine zwölfzeilige jHila). — 18.
19 (leztere strophe wol als abschluss des runenabschnitts und Überlei-
tung zu 20 fgg. gemeint). Endlich haben sich an die lebensregeln der
valkyrie str. 22 fgg. einige verwante geheftet (str. 25. 27. 30. 34. 36),
die schon Bergmann, Die Edda-gedichte der nord. heldens. s. 89 fgg.
als jüngere zutaten ausschied.
Für unseren zweck komt die strophenreihe A vorzugsweise in
betracht. Die aus langem zauberschlafe erwachte valkyrie fleht in
zwei herlichen vlsur den tag und die nacht mit ihrer sippe um sieg
an, die äsen und asinnen und die segenspendende erde um redegabe,
Weisheit und heilende bände für sich und den berühmten geliebten
beiden. Darauf leitete die strophe Le7ige svafk usw. die erzählung
ihres geschickes ein, deren weiteren verlauf die prosa, wie sich aus
der vergleichung von Helr. 8 fgg. ergibt, im ganzen treu bewahrt. Nur
den namen der valkyrie hat der samler hinzugefügt, die „siegspende-
rin" von Fäfn. 44 wurde zu Sigrdrifa, und diese namengebung ist für
SICiFRID UNI) BRüNini.n. I 49
die auffassune,- dos liodes vorhiini;-nisv()ll g'owordon. Mit Müllenhoft'
müssen wir das ii'matal und die sich anschliessenden strophen (0 — 19)
sclionun£csh)s entfernen. Krst str. 20 und 21 g^eliören wider dem alten
gedichte an. Hrynhild, zur strafe für ihr eigenmächtiges eingreifen in
schlaf versenkt, hat dem gotto verheissen oder wol richtiger — nach
Hell-. 5) — ihm das versprechen abgerungen, keinem sich zu vermäh-
len, der sich fürchten krtnne. Der furchtlose erwecker, der ihr bestirnte
bräutigam, ist erschienen: in glülienden worten hat sie glück und sieg
herabgefleht auf den geliebten mann und sich selber. Und wozu soll
diese vielversprechende einleitung dienen? Damit Sigrdrifa runenleh-
ren und sprüche der Weisheit auskramen könne, um dann spurlos 7a\
verschwinden! Dies mag bereits die ansieht des samlers gewesen sein,
wie es die ansieht neuerer forscher ist: der alte dichter unsres Bryn-
hildliedes, wie man die Sigrdrifumul richtiger zu nennen hätte, bezweckte
anderes. In str. 20 sagt die valkyrie:
„Nu skaÜ kjüsa, per's kostr of hojtrint,
hrassa vnipna hlynr!
sqgn epo pqgn haf per sjalfr l hug,
oll ero )»ein of meien".
Welche wähl stelt sie dem beiden? Die antwort kann nur z. 8 geben:
sqcpi cpa pqgrt , d. h. sprechen oder schweigen. Über die bedeutung
dieser ausdrücke an unserer stelle gibt Sigur|)s erwiderung in str. 21
auf klärung :
,,]\Io)ikak floja, pöt mik feigjon viter,
euiküh mep hlegpe horemi;
dstrqj) phi vilk qll Imfa,
sra lenge seu/ ek life".
Wenn der held emphatisch beteuert, er w-olle nicht fliehen, wenn
er auch dem tode verfallen sei, denn er sei kein feigling, so ist es
undenkbar, dass der dichter damit die folgenden durchaus uncharak-
teristischen lebensregeln einleiten wolte. Diesen standzuhalten war
allerdings etwas gedukl, aber weder mut noch todesverachtung erfor-
derlich. Folglich kann 20^ unmöglich bedeuten: „überlege dir, ob ich
weiter reden oder schweigen soll", vielmehr soll Sigurpr sprechen
oder schweigen, d. h. er soll sich entscheiden, ob er der eben erlösten,
ihm zur braut bestimten Jungfrau entsagen oder ob er ihr CAvige treue
schwören will. Aus seiner antwort darf man schliessen, dass Brynhild
ihn in verlorenen Strophen darauf gewiesen hat, dass aus ihrem bunde
Unheil entspriessen und Zerwürfnisse sich entwickeln werden, die den
tod des beiden herbeiführen. Nur durch diese annähme wird die erste
2*
20 SIJMONS
hälfte von str. 21 verstäudlioh; ihre zweite hälfte bringt SigurjDs ent-
scheidung-. Hier macht nun freilich der ausdruck ästrqp Schwierig-
keiten. Die bedeutung, welche das wort dsträp sonst hat, „liebevoller,
freundschaftlicher rat ", ist hier unpassend. Der Zusammenhang erfor-
dert, wie Müllenhoff mit recht hervorgehoben hat, dass Sigurpr einfach
sagt: „deine liebe will ich ganz haben, so lange als ich lebe". Man
könte auf den gedanken verfallen, die stelle habe ursprünglich gelau-
tet: äst pina vilk aUa hafa, und erst die Interpolation von str. 22 fgg.
habe die änderung veranlasst. Wahrscheinlicher aber ist der umge-
kehrte Vorgang: wie die zufällige erwähnung der gamanrünar 5 die
einschaltung von str. 6 fgg.^ so konte die falsche auffassung der ästrqp
die anfügung der sitten- und lebensregeln str. 22 fgg. veranlassen.
Kann ästt^qp pln dem dichter von str. 21 als „die ehe mit dir der
geliebten" gegolten haben (vgl. göpra räpa Grip. 45*. Brot 3^ und
Oxf. dict. s. V. rää II, 3)? Sind nun aber die ratschlage der valkyrie
str. 22 fgg. ein jüngerer zusatz, so kann der alte, durch die grosse
lücke des Codex Regius verlorene schluss des alten Brynhildliedes kein
anderer gewesen sein als das strophenpaar, dessen prosaauflösung die
Volsungasaga am schluss von c. 21 (B. 133 ^^~i5) bewahrte Sigur[u'
und Brynhildr schwuren sich ewige treue. So nimt Müllenhoff a. a. o.
s. 161 mit recht an gegen Bugge Fornkv. 235*' fg. und mich Beitr. 3,
255 fgg. Der Inhalt der sogenanten Sigrdrifumql, den die kritische
Zergliederung und Säuberung der unter diesem namen herkömlicher
weise zusammengefassten strophenmasse mit Sicherheit ergibt, war dem-
nach die erweckung der Brynhildr durch SigurJ) und ihre Verlobung.
Yon hervorragender Wichtigkeit für unseren zweck ist das viel-
fach misverstandene lied HelreiJ) Brynhildar. Bekantlich hat Sv.
Grundtvig (Edda^ 230) die Strophen 6. 8 — 10 (Bugge) ausgeschieden
als dem gedichte ursprünglich nicht angehörig und sie in die Sigrdrifu-
m^l verpflanzt. Dieser ansieht hat sich Bugge nachträglich ange-
schlossen (Fornkv. 416". 423), und Golther (Studien s. 37 fgg.) ist noch
einen schritt weiter gegangen, indem er auch str. 7 als interpoliert
betrachtet und somit Helr. 6 — 10 auswirft. Eine etwas modificierte
ansieht über unsere Strophen vertrat Edzardi (Germ. 23, 413 fgg.), der
aber auch str. 8 — 10 einer anderen fassung der Sgrdr. zuwies. Wenn
neuerdings Mogk (Pauls Grundriss II, 1, 88) sagt, in der Helrei{), die
1) Völlige treue der paraphrase soll damit nicht behauptet sein. Namentlich
erregt der ausdruck engi fmnx per vitrari maßr bedenken, er sezt die vorausgehen-
den Weisheitssprüche voraus und ist wol nicht ursprünglich.
SIGFRID UND BRUNHILD. 1 21
er als „eine rein nordische pflanze späterer zeit" charakterisiert, sei
Brynhild vom dichter mit der Sigrdrifa zusammengeworfen, so scheint
er Avesentlich derselben ansieht zugetan. Fragt man, was den Urheber
dei-selben zu seiner ausscheidung bewogen hat, so wird die antwort
lauten müssen: weil in den betreffenden Strophen der HelreiJ) von Bryn-
hild erzählt Avird, was sonst (d. h. in der prosa der Sigrdrifumöl) von
Sigrdrifa ausgesagt wird. Grundtvig erklärt ausdrücklich: „es verdient
besonders hervorgehoben zu werden, dass, sobald man anerkent, dass
diese Strophen von rechtswegen zu Sgrdr. und nicht zu dem gedichte
von Brynhild gehören, jede stütze in den alten liedern selber für die
identität der beiden personen wegfält". Offenbar eine petitio princi-
pii! Sehen wir zunächst zu, ob wir mit der Überlieferung fertig wer-
den können, ohne unsere z\iflucht zu so verzweifelten mittein zu neh-
men. Ich sehe davon ab, dass die erzählung in der oben besprochenen
prosa vor str. 5 der Sigrdrifa nicht in jedem einzelnen zuge genau
übereinstimt mit den entsprechenden Strophen der Heireif). Soll aber
eine Interpolation glaubhaft gemacht werden, so muss der nach weis
gefordert werden, dass die verdächtigten verse den Zusammenhang stö-
ren oder sich durch äussere kenzeichen als fremdartiges einschiebsei
herausstellen. Dieser nachweis ist in unserem falle weder versucht
noch zu erbringen. Ein machtspruch erledigt die sache nicht. Wenn
wir das gedieht nehmen, wie es vorliegt, und die erzählung an und
für sich, ohne vorgefasste meinung von der sage, zu verstehen suchen,
so ergibt sich der folgende Inhalt.
Auf ihrer todesfahrt berichtet Brynhildr einer riesin die lu'sache
von ihrem und Sigurps tode. Str. 6 ist schwer verderbt (vgl. diese
ztschr. XYIII, 110 fg.); ich sehe von ihr imd der halbstrophe 7 zunächst
ab. "Wegen ihres eigenmächtigen eingreifens in Öpins ratschluss ist
Brynhildr von dem erzürnten gotte in schlaf versenkt, in eine schild-
burg eingesclilossen und durch einen feuerwall umgeben. Nur der
furchtloseste held {es hverge lands hrdpask kyntie 9 ^" *), der ihr
Fäfnirs gold bringt, soll sie erwecken, d. i. Sigurf)r (str. 8 — 10). Der
erlöser komt auf Granis rücken, allein, statt mit ihr die Verlobung zu
feiern, behandelt er sie wie seine Schwester:
12 svqfom ok unpom i sceing einne,
sem minn hröper of borenn voere;
hvdrtke kndtte hqnd of annat
ätta nötto)n okkart leggja.
Es ist Sigurpr in Gunnars gestalt. Brynhildr fügt sich in die umstände,
bis ihr dunkler argwöhn sich durch die vorwürfe der Guprün (str. 13)
22 SIJMONS
als gegründet ausweist und es sich herausstelt, dass nicht Gunnarr,
sondern Sigur|)r, der ihr bestirnte bräutigani, sie wirklich erlöst hat:
pä varpk pess vis, es vildegak, cd velto mik i verfange. Da beschliesst
sie mit dem geliebten beiden zu sterben, da sie nicht mit ihm leben
kann. Die hier gegebene deutung des Zusammenhanges ist, obgleich
sie zuversichtlich auf widersprach stossen wird, meines erachtens die
einzige, welche der Überlieferung gerecht wird^ Diese ist nur ergänzt,
soweit der sprunghafte stil des liedes es notwendig machte. Es blei-
ben aber Schwierigkeiten übrig, die meiner deutung entgegenzuhalten
ich nicht erst andern überlassen will.
Die in der Helr. auftretende sagenform, an sich logisch und poe-
tisch unanfechtbar, ist nicht in Übereinstimmung mit allen anderen
nordischen quellen. Ihr zufolge wird der ritt durch die waberlohe nur
einmal unternommen, und zwar sogleich für Gunnarr. Folgende sagen-
fassung ergäbe sich als dem gedichte zu gründe liegend : SigurJ)r Fäfn-
isbani ist der der Brynhildr bestimte erlöser und bräutigam, er erwirbt
sie aber nicht für sich, sondern für Gunnarr, mit dessen Schwester er
sich vermählt hat. Das scheinbar eigentümliche dieser sagenform liegt
nun darin, dass SigurJ)r nicht bei Brynhildr gewesen ist, bevor er sie
für Gunnarr erwirbt. Der flammenritt ist hier also durchaus begrün-
det und keine müssige widerholung. Zugleich aber erklärt sich aus
dieser sagenform die oben (s. 17) noch unerklärt gelassene reihenfolge
in der vogelprophezeiung am Schlüsse der FäfnismQl. Diese wurzelt
gleichfals in der anschauung, dass Sigur|)r nach der erschlagung des
drachen und der erwerbung des hortes sofort an Gjükis hof zieht und
sich mit dessen tochter vermählt, dann erst die valkyrie aus dem zau-
berschlafe weckt '^. Andererseits ist die deutsche sage, wie jedem sofort
einleuchtet, die erwünschteste bestätigung der hier vertretenen ansieht
über die ursprüngliche gestalt der nordischen Überlieferung. Es scheint
aber, im interesse einer leichteren Übersicht und um zusammengehö-
riges nicht zu trennen, besser die betrachtung der deutschen sage einst-
weilen noch aufzusparen.
Aber in der HelreiJ) selber, so klein das denkmal ist, finden
sich Widersprüche. In str. 11 3- * wird sehr auffallender weise die
1 ) Zu rneiuer freude ersah, ich aus einer brieflichen niitteilung von dr. R. C. Boev,
dass er zu derselben auffassung der Helr. gelangt ist.
2) Dagegen vermag ich in der oben (s. 10) besprochenen Ordnung der begeben-
heiten in der Gripisspä, wie gesagt, nur ein misverständnis oder richtiger ein mecha-
nisches nachschreiben der schlussstrophen von Fatu. zu erblicken. Jedenfals fehlt
dem jungen liede alle beweiskraft. — Ygl. auch das faeröische Brinhildlied str. 64 fgg.
Heinzel Über die Nibs. s. 25.
SIGFBID UND BRUNHILn. I 23
begegniing zwischen Sigur[> und Brynhild nach Heimirs wohnort ver-
legt, pars föstre minn fletjom styrpe. Heimir, den älteren quellen
sonst fremd , ist in der Gripisspä und der Vqlsungasaga Brynhilds pflege-
vater und, wie algemein anerkant, ein später aus wuchs der sage. Nach
Strophe 7 "^ wird Brynhildr / Hli/nfdqlom erzogen; Hlymdalir aber ist
nach der Vqlsungasaga (vgl. auch Sn. E. I, 370^. Landnäma, Vidba3ttir:
Isl. SS. 1843, I, 324 fg.) Heimirs wolmsitz, und auch dem dichter
der Helr. muss diese auffassung geläufig gewesen sein. Es stimmen
demnach die halbstrophe 7 und str. 11 in ihrer sagenform überein,
und schon dieser umstand hätte Golther^ von der athetese der halb-
strophe 7 abhalten sollen. Aber auch in str. 6 spielte wol Heimir
eine rolle. Ich habe in dieser ztschr. XVIII, 110 fg. eine Vermutung
aufgestelt über die stark verderbte, im N}). in sehr abweichender ge-
stalt überlieferte strophe, die ich in der hauptsache auch jezt noch
aufrecht erhalte. Brynhildr scheint auch in ihr auf ihre erziehung in
Heimirs hause hingedeutet zu haben. Mit dieser auffassung würde
auch für die von Grundtvig ausgeschiedene str. 6 die Zusammengehö-
rigkeit mit str. 11 erwiesen werden. Es bleibt nur die annähme, dass
in unserem liede eine sehr alte und ursprüngliche sagenfassung mit
einer jüngeren Vorstellung verquickt ist. Mit der einzig der alten sage
entsprechenden anschauung, welcher der flammenritt als die bedingung
galt, deren erfüllung den freier zur Brynhild dringen lässt, ist natür-
lich die rolle eines die Jungfrau hütenden pflege vaters unvereinbar,
womit die durchreitung des feuerwalls zum kinderspiel herabsinkt. Die
Helreip mag immerhin in ihrer auf uns gekommenen fassung ein jun-
ges lied sein, wie auch die einführung Heimirs andeutet; dies braucht
nicht auszuschliessen, dass ihr ältere lieder vorgelegen oder alte Über-
lieferungen zu geböte gestanden haben können, und uns nicht irre zu
machen in der Überzeugung, dass die in ihr auftretende form des Ver-
hältnisses zwischen Sigurpr und Brynhildr nicht weniger ursprünglich
ist als irgend eine andere in den nordischen quellen vorkommende.
Die übrigen heldenlieder der Edda haben zwar für unsere frage
verhältnismässig nur untergeordnete bedeutung. Doch sind einige anga-
ben derselben nicht ohne wert. Das in betracht kommende soll hier
in kürze geprüft werden.
Die eingangsstrophen der Sigur])arkvipa en skamma (str. 1 — 5)
sind mehrfach dem ursprünglichen gedichte abgesprochen worden
1) Was Golther Studien s. 39 fg. für den mythischen Ursprung des namens
Hlymdalir vorbringt, ist in keiner weise überzeugend.
24 SIJMONS
(s. Beitr. 3, 260. Edzardi Germ. 23, 174 fg.). Sicher ist, dass diesel-
ben, mögen sie nun dem alten dichter oder einem bearbeiter zufallen,
eingehende beachtung verdienen. Wenn es zu anfang heisst:
Ar vas pats Sigvqrp?^ sötte Gjüka,
Vqlsungr unge, es veget hafpe,
so lässt sich diese angäbe wol niu- unter der Voraussetzung verstehen,
dass Sigurjir an Gjükis hof gelangt unmittelbar nach dem drachen-
kampfe (es reget hafpe). Also die Voraussetzung von Fäfn. 40 fg. und
der Helreiji! Der junge held schliesst blutbrüderschaft mit Guunarr
und ÜQgni (l ^-s^, vermählt sich mit Gudrun (so ist 2 ^-^ doch not-
wendig zu verstehen), verweilt bei Gjüki lange zeit in freude und
freundschaft (25-8): diese reihenfolge entspricht dem c. 26 der VqIs-
ungasaga. Dann die Werbung um Brynhildr str. 3:
Un% Bry7ihildar hipja foro,
svät peim Sigvqrpr reip i sinne;
Vqlsungr unge, ok vega kunne,
liann [1. ha7ia?\ of dtte, ef eiga kncette.
Mit Bugge Fornkv. 248* u. a. verstehe ich vega als inf. praes. Zwar
hat Bugge in den nachtragen seiner ausgäbe s. 419 mit rücksicht auf
die stelle der Jidrekssaga c. 226, wo Sigurd zu Gunnarr sagt, dass er
alle wege (allar leipir) zur Brynhild kenne (Unger s. 208^3)^ der schon
von Grimm angedeuteten auffassung von vega als acc. plur. den Vor-
zug erteilt, aber sein grand ist nicht stichhaltig. Eddastellen aus der
niederdeutschen Überlieferung ^ zu deuten, geht nicht an, und der Yqls-
ungasaga ist dieser zug fremd: c. 26 (Bugge 144 2-3). Der relativische
gebrauch von ok ist aus anderen Eddastellen bekant (Gering Gloss. 123"):
den altgermanischen sprachen ist diese eigentümlichkeit, ein rest älte-
rer parataxis, überhaupt nicht verwehrt, und mhd. beispiele sind jedem
zur band 2. Die alte Übersetzung der Kopenhagener „qui pugnare
sciebat" triff demnach den richtigen sinn der stelle. Eine frühere
bekantschaft Sigurps mit Brynhild, bevor er in Gunnars gestalt zu ihr
komt, braucht aus ihr nicht gefolgert zu av erden, und darf es nicht,
weil str. 1 dieser anschauung widerspricht. Auch der allerdings dunk-
len Schlusszeile: kann [l.hana?] of dtte [ätte F. Jönsson gegen die hs.],
1) Dass der betreffende abschnitt der I's. deutscher Überlieferung entstamt,
ergibt sich aus der Übereinstimmung mit Nib. 367, 3: die rehten tvazxersträxe sint
mir ivol bekant. Wie Bugge auch Zupitza Ztschr. f. d. ph. IV, 446, ich selber
Beitr. 3, 259 und neuerdings F. Jousson Eddal. 2, 128. Heinzel Nibs. 25 entschei-
det sich nicht.
2) Aus ags. prosa gibt Kern Taalk. Bijdr. 2, 207 beispiele.
SIGFBID UND BRÜNHILD. I 25
ef eiga kncktte, lässt sich wol nur bei dieser annähme ein sinn abge-
winnen. „Er hätte sie (zur ehe) gehabt, wenn er sie hätte haben dür-
fen", mit andern werten das Schicksal verweigert ihm die braut, die es
ihm doch bestirnt liat und die seiner hart. Str. 4 schildert dann das
keusche beilager, in Übereinstimmung mit Helr. 12. Brot 18 fg., vgl.
auch Sig. sk. 28. Ys. c. 27 (B. 146 « fgg.).
Einer sonderbaren version begegnen Avir im hauptteil desselben
liedes (Sig. sk. 34 — 41)i. Die Ys. c. 29 (Bugge 150^ fgg.) und c. 31
(Bugge 160 ^ fgg.) berichten auf grund dieser sti'ophen Avesentlich das-
selbe; über das quellenverhältnis hat man verschieden geurteilt (Bugge
Fornkv. 253. Hildebrand Edda 227 fg. Yerf. Beitr. 3, 284 fg. Edzardi
Germ. 23, 176 fg.). Es müssen mit Hildebrand und Edzardi str. 36 —
38 als einschub aus einem anderen liede erklärt werden; sie wider-
sprechen dem schon vorher gesagten und der auffassung der sage in
unserem gedichte. In str. 34. 35 berichtet Brynhildr dem Gunnarr
von ihrem unbesorgten, freien leben in ihres bruders hause (34 5—»)
und ihrem entschlusse, unvermählt zu bleiben (Ne viklak pat at mik
verr ceite). Als aber die Gjukunge zu ihr geritten kommen, pri7' d
hestom pjqpkmmngar, da (sti-. 39 Bugge = 36 Hildebrand) gelobt sie
sich dem volkskönige, der mit dem golde auf Granis rücken sizt, d. h.
dem töter Fäfnii's. Nicht das gold lockt sie, sondern an Fäfnirs gold
glaubt sie den ihr bestimten bräutigam zu erkennen, der durch die
erschlagung des drachen sich als furchtlos erwiesen hat und ihrem
eide somit genügt (vgl. Helr. 9). Dass Sigurpr der erlöser ist, dafür
scheinen ihr auch seine strahlenden äugen und sein aussehen über-
haupt zu zeugen (39 5-« Bugge = 36 5- s Hildebrand, vgl. Ys. c. 29:
Bugge 152--). Es kann meines erachtens gar nicht die rede davon
sein, den überlieferten Zusammenhang von str. 35 und 39 (36) zu zer-
stören. Ja, wenn in der Überlieferung die str. 36 — 38 dazwischen
ständen, so müste die trennung beseitigt werden. Man lese die beiden
Strophen nur im zusammenhange:
35 Ne vüdak pat at mik verr cette,
äp7' Gjükimgar at garpe ripo,
prir d hestom pj6pkonungai%
en peira fqr pQrfge vcere.
1) Nach Bugge. lu E ist clie reihenfolge der Strophen 34. 35. 39. 36 — 38.
40. 41 , ivnd in Hüdebrands ausgäbe ist dieselbe mit recht wider zu ehren gekommen.
F. Jonsson schliesst sich Bugge an. Meine hemerkung Beitr. 3, 285 anm. 3 nehme
ich zuiück: s. Edzardi Germ. 23, 187 fg.
2& SIJMONS
39 peim hetomk pä pjöpkonunge (36)
es mep golle sat d Grcma hogom;
vasat hann i augo ypr of glikr,
ne ä enge hliit ät älitom.
[p6 pgkkesk er pjöpkonungar.]
Diese version lässt sich mit derjenigen, welche die soeben besproche-
nen eingangsstrophen der Sig. sk. voraussetzen, wol vereinigen. Yon
einer früheren Verlobung ist keine rede. Sigur|)r erwirbt Brynhildr
für Gunnarr, während sie in ihm den ihr bestimten erlöser zu erken-
nen glaubt. Aber die alte fassung ist schon verdunkelt, wenn Bryn-
hildr bei ihrem bruder Atli [ä flete bröpor 34 ^'') erzogen wird und
un vermählt bleiben will (35^). Dass der flammenritt fehlt, wird nur
dem einschub von str. 36 — 38 zuzuschreiben sein, wodurch ältere Stro-
phen verdrängt wurden. In dem liede, das der Verfasser der Y^lsunga-
saga für sein c. 27 benuzte, und das wesentlich auf derselben stufe
der sagenentwickelung stand als die Sig. sk., wurde das durchreiten
des vafrlogi mit grosser lebhaftigkeit geschildert. Auch dieses in
Ys. c. 27 paraphrasierte lied sezte keine frühere bekan tschaft zwischen
Sigurpr und Brynhildr voraus, wie sich namentlich aus der erzäh-
lung vom Wechsel der ringe (Bugge 146 ^^ fgg.) klar ergibt (Beitr. 3,
279 fgg.).
Ganz andere sagenauffassung atmen die eingeschobenen Strophen
36 — 38 des kurzen Sigurpliedes. Ihnen zufolge erzwingt Atli die Ver-
mählung von seiner Schwester, um sich vor den angriffen der Gjuk-
unge und Sigur|)s zu schützen. Atlis bürg wird bestürmt. Er sucht
Brynhildr zur freiwilhgen Vermahlung zu bestimmen, indem er andern-
fals ihr das erbe zu entziehen droht. Sie ist schwankend, was sie tun
soll: nachgeben 1 oder kämpfen. Schliesslich wählt sie die Vermählung,
durch Sigurps schätz geblendet. Wesentlich dieselbe auffassung finden
wir in Oddrünargrätr 17 fgg. Auch nach Gut)r. I, 25 fg. wird dem
Atli die schuld alles unheils zugeschrieben; die stelle ist aber dunkel
und bleibt besser aus dem spiele. Es setzen also die Interpolation der
Sig. sk. und Oddr. eine gewaltsame erwerbung der Brynhildr voraus.
Namentlich Oddr. 17 fg. deutet mit gröster bestimtheit auf kämpfe bei
Brynhilds erlösung oder bezwingung. Sie sizt stickend im gemache
(vgl. Ys. c. 24: Bugge 136 ^^ fgg.). Da, heisst es, erdröhnte (düsape,
1) vega 37" ist jedenfals verderbt: Rask schlug vceffj'a vor, was Grundtvig
aufnahm (dagegen Bugge s. 421), F. Jönsson ändert ansprechend rcr eiga. Eben die
von Bugge hervorgehobene häufigkeit der Verbindung von vega und vaJ fella erklärt
die corruptel.
SIGFRID UND liRUNHILD. I 27
s. Bug;go Foinkv. 427'' fi^.) hinimel und erde, als der toter Fäfnirs die
Imi-^- (Ml)lickto. Und weiter:
pci ras ly'u) rcf/ef vqluko svcrJ)C,
ok borg hrofni, s?'(s Br///i////(/r <i/fr.
^'ün einer ,,anspi('lunü- auf den valVIogi", die (iijlthei' Studien s. 55 im
anschluss an Buggo u. a. in'Al'" '' findet, steht nichts (hi. Das
rrdi'öhnen von hinniicl und (M'de ist e})ischer ausdruclc für die i^üwalf
tloi^ ang'riiles, wie ahnlieh ailt^ bei'ge erzittern beim herannahen I'('»rs
liok. 551, wie die oidc erbebt, als o]»in zu lEcIs hause reitet J^dr. 8''
und 8kirnir sich (iymirs gehöften naht 8km. 14 '. Aaelmehr ist in der
Version, der wir in Oddi-. 17 fg., Sig-. sk. oG — 88 (Vs. c. 29: Eugg;e
150'' fg-g.: e. Hl: ßugge KiO '^ t'gS-)' vielleicht auch in (iul>r. 1, 25 fg.,
begegnen, der tlammenritt durch kämpfe ersezt. Denselben zug kent
['s. c. 168 in anderer Verwendung, nämlich kämpfe, welche 8igur[)r
in Brynhilds bürg bei der erkiesung Granis zu bestehen hat, während
bei dei- Werbung um Brynhild für Gunnar c. 227 weder flammenritt
noch kämpf eine rolle spielen. Mit Golther Studien s. 55 fgg. Germ.
84, 267. 274 fgg. ist c. 168 als eine erfindung des Überarbeiters dei-
l's. zu betrachten; die kämpfe luit den Wächtern gehörten ursprüng-
lich zur Werbung und sind von ihm in falschen Zusammenhang ge-
bracht. Auch dem Verfasser dieses capitels war also eine Überlieferung
bekaut, die die Averbuug der Brynhild nicht mit dem flammenritt.,
sondern mit kämpfen verknüpfte. Dass er dabei nordischer sage folgte,
ist wahrscheinlich, muss aber einstweilen dahingestelt bleiben. — End-
lich findet sich auch in dem faeröischen liede von Brinhild str. 77 fgg.
(Hammershaimb s. 23) bei der erwerbuug Brinhilds, mit dem flammen-
ritt verbunden, die spur von kämpfen. AVenn hier 8jürdur mit seinem
Schwerte die hei/gsdijr erbricht, so kann direkte beeinflussung des
berichtes der I^s. vorliegen, welche dem Schlüsse des liedes ja unstrei-
tig zu gründe liegt (Golther Studien s. 57. Ztschr. für vgl. litteratur-
gesch. n. f. 2, 279 fgg.), während der daneben behaltene flammenritt
nordischer Überlieferung, speciell der Volsungasaga, entstamt.
Die nordische sagenfassung, die Brynhilds Werbung mit anwen-
dung- von gewalt voraussezt, ist als eine jüngere Umgestaltung leicht
kentlich. Sie hat den flammenritt durch kämpfe ersezt: nur Vs. c. 29
(Bugge 150 ^'^ fg.) ist beides durch contamination des sagaschreibers
verbunden. Fäfnirs gold ist nicht mehr, wie in der älteren sage, das
merkmal des erwarteten erlösers, sondern das lockmittel, das die Jung-
frau gefügig macht (Sig. sk. 88. Gu|)r. I, 26; vgl. Germ. 23, 177).
Atli erzwingt ihre Vermählung, er ist gewissermassen an die stelle des
28 SIJMONS
erzürnten gottes getreten. Nimmermehr darf man daher in dieser
sagengestalt mit Golther (Studien s. 58) „einen älteren stand der nor-
dischen sage" mutmassen, wo vielmehr alles auf eine verflachung und
Verwischung des alten mythus deutet.
3.
Es erübrigt, die resultate der vorstehenden Untersuchungen über
die formen, in denen das Verhältnis Sigfrids zu Brunhild in den nor-
dischen quellen für die Mbelungensage erscheint, kurz zusammenzu-
fassen.
1. Der eigenname Sigrdrifa^ den der samler der Eddalieder für
die von Sigur{)r aus dem zauberschlafe erweckte valkyrie verwendet?
findet seinen Ursprung in mis verständlicher auffassung von Fäfn. 44 5,
wo sigrdrifa eine appellativische bezeichnung (kenning) für Brynhildr
ist (oben s. 15 fgg.).
2. In keinem der Eddalieder, mit einziger ausnähme der Gripisspä,
kommen zwei valkyrien neben einander vor oder findet sich eine deut-
liche bezieh ung, aus welcher sich entnehmen liesse, dass sie die auf
Hindarfjall schlafende Jungfrau, welche Sigurpr erweckt, als ein von
Brynhildr Bupladöttir, welche SigurJ)r für Gunnarr erwirbt, verschie-
denes wesen aufgefasst haben.
3. Die aufstellung der schlafenden Jungfrau auf dem berge als
einer besonderen, von Brynhildr verschiedenen figur, rührt ver-
mutlich vom dichter der Gripisspa her, in der wir den ersten uns
bekanten versuch erblicken dürfen, aus dem nebeneinander der ver-
schiedenen sagenformen, in denen Sigurps Schicksale der nordischen
dichtung geläufig waren, ein biographisches nacheinander herzustellen
(oben s. 9 fgg.). — Der samler der Eddalieder (resp. der Verfasser
der „Sigur{)arsaga") ist auf diesem wege weiter gegangen, indem er
der in Gripisspä noch namenlosen valkyrie den misverständlich erschlos-
senen namen Sigrdrifa erteilt (s. 6 fg.). Der Überarbeiter der
Snorra Edda, welcher eine valkyrie Hildr, auch Brynhildr genant,
von Brynhildr Bujjladöttir unterscheidet, bietet in seiner unter dem
einflusse der liedersanilung stehenden erzählung eine zwar geschickt
angefertigte, aber eigenmächtige combination ohne selbständigen sagen-
geschichtlichen wert (s. 7 fgg.). Der Verfasser der Yqlsungasaga end-
lich beseitigt zwar die doppelbenennung widerum, unterlässt es aber,
die aus diesem schritte sich ergebenden consequenzen zu ziehen und
gelangt somit zu einer doppelten Verlobung Sigurps und Brynhilds,
bevor jener sich in Gunnars gestalt ihr naht (s. 4 fgg.).
SIGFRID UND BRUN'IIII.n. T . 29
Ich möchte an dieser stoHe dem einwände bcgejo-nen. den Heinzel
in (hn- »il)en s. 11 angeführten schrift (Über die Nil)s. s. 27) gegen die
hier begründete auffassnng des entwickehnigsganges erhebt. Heinzel
meint, es sei von vornherein waiirschoiniich, dass die sagenform, welche
zwei valkyrien unterscheide, (his iiltrre bewahrt habe, „da allerdings,
sobald die sage zu biographischer behandlung vorschritt, sich eine
ästhetische veiiudassung ergab, aus den zwei Walküren eine zu machen,
d. i. die in t\('\- leb(>nsgeschichte Siegfrieds ganz isolierte Sigrdrifa mit
l!i\nhil(lr zu verschmelzen, nicht abei- aus dei- einen Brvnhildr, wenn
dies das urspi'üngliche ist, zwei wulküren zu machen". Ich glaube
zuniichst, dass diese argumentation des ausgezeichneten forschers das
gegenseitige Verhältnis und den dadurch bedingten w^ert unserer quel-
len nicht genügend lierücksichtigt. Ferner betone ich den wesentlichen
unterschied zw^ischen der von Heinzel vorausgesezteu und abgelehnten
aimahme, dass die doppelheit der valkyrien dui'ch bewuste Spaltung
einer urspiiinglichen figur entstanden sei, und der meinigen, dass sie
auf Vereinigung abweichender sagenformeu zu biogi'aphischer darstel-
luug beruhe. Vor allem aber, welche „ästhetische veranlassung" konte
für die alte sage und dichtung vorhanden sein, ihrem lieblinge eine
tat beizulegen, die für seiu ferneres Schicksal jeglicher bedeutung ent-
behrte und somit keinem einzigen poetischen zwecke entsprach? Lässt
es sich der alten sage wol zutrauen, dass sie Sigrdrifa bloss dazu ein-
geführt haben solte, um sie nach ihrem erwachen spurlos verschwänden
zu lassen (vgl. oben s. 9. 19 und Literaturbl. für germ. und rem. phil.
1890, sp. 217)?
■1. Die älteren Eddalieder kennen zwei hauptformen des Ver-
hältnisses zwischen Sigurjtr und Brynhildr. Beiden geraeinsam ist der
name der valkyrie Brynkildr oder Hüdr (Helr. 7 ^, vgl. Sn. E. I, 360 1») i,
1) Es ist bekantliuh gerni. und weiterhin idg. brauch, statt des zusammen-
gesezten eigeunamens nur das eine der beiden glieder zu setzen. Die kürzung
gescliah zwar in den meisten fällen durch weglassung des zweiten gliedes, aber
auch das erste glied wird zuweih^n gespart. Es ist Hildr also blosser kurzname für
BrynkUdr, wie Bcra — Kostbera Atlm. .34 ^ 53»; vgl. pj6fr = Frippjöfr Fas. 11,
91 fgg. [Brugnianu Grundriss II, 1, 33 führt aus Jord. Get. c. 54 an Vulfits =:
Him-ulfus, aber nach Mommsens kritischem apparat (Mon. Genn. Auct. antiq. V, 1,
130) ist uuidfo verlesen aus unulfo in den handschriften der zweiten klasse = hun-
ulfo A].
Eine Hildr Bupladöttir kent die Asniundarsaga kappabana (Fas. II, 463 fgg.).
Nach der Egilssaga ok Äsmundar (Fas. III, 36.ö fgg.) hat könig Heiiryggr von Russ-
land zwei töchter, die beide Hildr heissen. Die ältere rar kqllup Brynhildr; koin
ßaf tu Jji'ss, af hnn iHindi\ vip riddaru ipröttir. Die jüngere nam hamiyrpir oh
30 SIJMONS
ihre erlösung durch und ihre liebe zu SigurJ)r, sowie zauberschlaf und
flammenritt, die in der alten sage tatsächlich unzertrenlich zusammen-
gehörten. Die wichtige abweichung zwischen beiden hauptformen aber
ist diese:
a) SigurJ)r erweckt die schlafende valkyrie durch den flammen-
ritt und verlobt sich mit ihr [Sigrdrifumql , ergänzt durch die para-
phrase der Y^lsungasaga c. 21 (oben s. 18 fgg.)]-
h) Sigurl)r erweckt die ihm bestimte schlafende valkyrie durch
den flammenritt, erwirbt sie aber nicht für sich, sondern für Gunnarr,
dessen Schwester er geheiratet hat. Der tragische conflict entsteht
nicht durch Sigurps treulosigkeit, sondern durch den betrug bei der
erwerbuug [Helrei|) Brynhildar (s. 20 fgg.), das lied, von welchem die
Vs. c. 27 zwei Strophen bewahrt (s. 26); vorausgesezt wird diese sagen-
form in Fäfnismol 40 — ^44 (s. 12 fgg.)^ und vermutlich auch in Sigurjj-
arkvipa sk. 1 — 4. 34 fg. 39 fg. (s. 23 fgg.)].
5. Diesen beiden hauptformen treten in den Eddaliedern spuren
von zwei neben formen zur seite, deren kenzeichnende eigentümlich-
keiten folgende sind:
c) Brynhildr wird bei ihrem bruder Atli [in Sig. sk. 34 mit b
verbunden (s. 26); die Vs. c. 31 (Bugge 160*^) hat Atli durch Bryn-
hilds vater ersezt] oder bei ihrem schwager Hei mir erzogen [in Helr.
mit b verbunden (s. 22 fg.); selbständig erscheint diese fassung in dem
Vs. c. 23. 24 zu gründe liegenden liede].
Dass in dieser sagenform jüngere speciell skandinavische Umbil-
dung vorliegt, bedarf keines beweises. Ist doch das verwantschaftliche
Verhältnis zwischen Brynhildr imd Atli, der Guprün zur sühne als frau
erhält, ein wenig glücklicher versuch der nordischen sage, zwischen
der Sigfridssage und der Burgundensage ein bindeglied herzustellen.
Als das Verständnis für die alte mythische sage verblasste, fand der
norden in Atlis oder Heimirs pflege eine neue form für Brynhilds
geschieh te, die weiter ausser betracht bleiben kann. Erst für den ver-
sat i sketmnu, ok var hon Bekkhildr kqllup. Vermixtlich eine reminiscenz der
Vs. c. 23 (Bugge 135 i^-^o): vgl. Golther Studien s. 12 fg.
1) "Wenn, wie oben angenommen wurde (s. 12. 18), die fornyrJ)islag- Strophen
derSgrdr. demselben liede angehörten, wie Fäfu. 40fgg., so muss mindestens Sgrdr. 1
bei der Verbindung der fornyrl)islag- und lj61)ahättr- Strophen eine Umgestaltung
erfahren haben. In der sagenform b nante der erlöser sich nicht Sigurl)r (Sgrdr. 1 ^- *).
sondern Gunnarr (wie Vs. e. 27 : Bugge 145 '"). Die jetzige fassung von Sgrdr. 1 ist
in Übereinstimmung mit der in den Ijöljahattr-strophen der Sgrdr. herschenden sagen-
form a.
SIGFRIP UND DRUNHILD. I 3-1
tasser der Volsun_i;a-Ragnarssag-a (vi^l. Heitr. 8. 199 fg'fx. Heinzel Nibs.
4 aiun.) \\ iirde Heiinir eine b(Ml(>iituii2,svolle persrnilielikoit, da ihm
Aslaug zur (M-zielmng übergeben wird.
d) 15ryiihildr wird von Atli (dafür: Ijii|»li Vs.) zin- Vermählung
bestirnt und (hnch anwcndung von gewalt erworben [die interpolation
der Sig. sk. 3() — HS; Oddrünargrätr 1 7 fg.; (iuj>rünarl<vjj)a T, 25 fg. (?) —
vgl. Ys. c. 29. 81 (oben s. 26 fgg.)|.
Inwieweit diese form einer erneuten beeintlussung der nordischen
sage durch die deutsche zu verdanken ist, mag einstweilen dahingestelt
bleiben.
H. l)i(^ älteste uns bekante biogi'aphische darstellung von Sigurps
Schicksalen in der (iripisspä beruht nachweislich auf einer reihe von
liedern, die dem dichter in einer ähnlichen pseudo- chronologischen
folge vorlagen, wie die durch Volsungasaga ergänzte liedersamlung sie
aufweist (oben s. 9 und dazu Edzardi Germ. 23, 325 fg.). Er fand
also in seinen quellen hintereinander vor die sagenformen rt (Sgrdr.),
c (das durch die lücke in R verlorene lied von Sigurps besuch bei
Heimir = Vs. c. 23. 24), b (das gieichfals bis auf zwei Strophen ver-
lorene lied von der erwerbung Brynhilds durch Sigur|) für Gunnarr =
Vs. c. 27). Diese drei abweichenden sagenformen für ein und dasselbe
factum verarbeitete er zu einer chronologischen aufeinanderfolge von
drei verschiedenen begebenheiten, indem er gleichzeitig die eine figur
der valkyrie in zwei spaltete (s. unter 3). Das misliche einer doppel-
ten vorverlobung (auf dem berge und bei Heimir) konte ihm natür-
lich nicht entgehen: diese wunderliche erzählung blieb dem Verfasser
der Vqlsungasaga vorbehalten (Beitr. 3, 2(52). Der Verfasser der Grip-
isspä vereinigt die drei sagenformen in der weise, dass er Sigur}.is
veriiältnis zu der bei ihm namenlosen erweckten Jungfrau auf dem berge
auf belehrung beschränkt, die begegnnng bei Heimir aber als eine vor-
verlobung auffasst, so dass der held, um Brynhild für Gunnarr erwer-
ben zu können, erst vergessen muss, dass er ihr eide geleistet hat.
Diesem zwecke dient der betrug der Grlrahild (sti*. 33): der vergessen-
heitstrank wird freilich nicht geradezu erwähnt und kann also auch
erst vom Verfasser der \"olsuugasaga nach anderen zaubertränken, von
welchen die sage berichtet (Golther Studien s. 60), eingeführt sein.
Wenn nicht alles täuscht, trägt der dichter der Gnpisspä die schuld
an der bedenklichen Verwirrung, welche nicht nur die jüngeren skan-
dinavischen prosabearbeitungen, sondern auch die heutzutage geläufigen
Skizzen der nordischen form der Nibelungensage entstelt. Die Spaltung
der valkyrie in Sigrdrifa-Brynhildr ist dabei nicht das schlimste: da
32 SMMONS, SlGVRID UND BRUNHILD. I
sie ergebnislos blieb und den verlauf der sage nicht weiter berührt,
so ist sie harmlos in vergleich mit der weit wesentlicheren neudichtung
einer früheren Verlobung. Denn diese tastet den ethischen gehalt der
sage an. Die reinste und edelste heldengestalt, welche die germanische
phantasie erschaffen, erniedrigt sie zu der rolle des treulosen liebhabers,
oder sie lässt ihn, unter dem verhängnisvollen banne eines minne-
tranks, zum willenlosen Werkzeuge herabsinken, dem unsere mensch-
liche Sympathie versagt bleiben muss. Wie sehr auch die erhabene
gestalt der Brynhild an tragischer grosse verliert, wenn sie den beiden
kent, der sich für Gunnarr ausgibt, ihm sogar ewige treue geschworen
hat, bedarf keiner ausführung. In diesem punkte schliesse ich mich
ganz den erörterungen Golthers an (Studien s. 64 fg.). Durch die
annähme einer früheren Verlobung wird aus dem grossartigen drama,
welches die gigantische macht des Schicksals verkörpert, ein schwäch-
liches intriguenstück. Nur zeihe man nicht die alte nordische sage
einer entstellung, die erst dem Ungeschick und der verstand nislosigkeit
eines späten dichters zur last fält. Die beiden alten formen der nor-
dischen sage (a und b) spiegeln vielmehr die ursprüngliche fränkische
sage im wesentlichen getreu und unverfälscht wider. Zu ihrer recon-
struktion bedarf es zunächst einer prüfung der deutschen sagengestalt
in ihren verschiedenen traditionen^ sowie einiger quellen, welche die
als a bezeichnete form der nordischen sage in anderem zusammenhange
überliefern. Diese nebst den sich ergebenden folgerungen bleibt einem
zweiten artikel vorbehalten.
GRONINGEN, WEIHNACHTEN 1890. B. SIJMONS.
ÜBEE DIE „NEUTEALEN ENGEL" BEI WOLFEAM VON
ESCHENBACH UND BEI DANTE.
Der gralmythus hat bei Wolfram bekantlich folgende von den
übrigen grallegenden abweichende gestalt. Der gral ist ein kostbarer
stein — etwa in der form der patene ■ — , welcher sich in der hut
jener engel befand, die einst im kämpfe Lucifers gegen gott sich indif-
ferent verhielten:
Parz. 471, 15 di neivederhalp gestuonden,
da strtten hegunden
Lucifer und Trinitas,
swaz der selben enget was,
.1. SEKBEK, NEUTKALE ENliEI, 33
die edc/eti mit die ircrdcii
muosen üf die erden
XHO demselben steine,
der stein ist i})))ner reine,
ieii enn:ei\ , op (jot itf si rerkus,
ode ob ers fürl)a\ verlos,
ircis dax sin reJd, er na in se nider.
In l)r/u,u' auf die strafe kerrigiort sicli (\('y dichter, indem er Tre-
vrizent an einer späteren stelle (798, (5 ig.) sagen liisst, die neutralen
engel seien ewig \-crloren.
]\Ian mag, \nn sicli die entstehung dieses gralmytlms zu erklären,
einerseits an die er/iddung im „Wartburgkrieg'' denken, wonach der
gral ein aus Lucifers kröne gebrochener edelstein ist, andererseits
annehmen, dass Wolframs (xewährsmann Kyot eine jüdisch -moham-
medanische sage von einem heiligen stein als Unterpfand alles glückes
benüzte — die frage nach den „neutralen engein" ist damit nicht erledigt.
Redet doch auch Dante davon, wenn er Infeiiio o, oT fg. sagt:
Vermischt sind, sie mit jenem feic/en eliorc
Der enget ^ welelie nicht empörer nriren,
Xoc}/ (jott (jctren , für sich gesondert lileiliend.
Er versezt sie in eine art vorhölle und geselt sie der verächtlichen
schar jener bei, die einer fahne im ewigen kreislauf nacheilen müssen:
Nicht seinen glair, \n triitjot, sties.s der liiiiuin't
Sie ans, urjch nin/t sie auf die tiefe liölle,
Weil sinnier .stol: auf sie doch blichru /:ö//ten.
Es liegt nahe, in der alten theologie nach dieser anschauung zu forschen.
Die Scholastik des mittelalters vertritt die lehre, dass der stolz
die Ursache vom stürze Lucifers und seines anhangs gewesen sei (Tho-
mas Aquin. summ. th. P qu. 03, 2); dieser stolz aber begründete nach
scholastischer auffassung eine begehungssünde, peccatum commis.siotris,
schloss daher jede blosse Unterlassung, pnira omissio, jede sogenante
neutralität von vornherein aus. Also konte von „indifferenten engein"
im sinne AVolfi'ams und Dantes nicht die rede sein.
Indessen findet sich doch bei einem jüngeren hauptvei-treter der
Scholastik, bei Suarez, eine erwähn ung von indifferenten engein, frei-
lich, in ablehnendem sinne. Es hatten nämlich einige theologen — wie
Hervaeus, Cajetanus, Eerrara, Aegidius und Bussolis — eine abwei-
chende erklärung von Lucifers sünde versucht und waren dadurch
genötigt worden, diese als ein peccatum omissionis., als unterlassungs-
ZEITSCHRIFT F. DEUTSCHE PHILOLOGIE. BD. XXIV. O
34 .7. SEEBKR
Sünde zu fassen (Suarez, tom. 2 de augelis, 1. 7 c. 10, n. 16). Gegen
diese wante sich nun Suarez und erklärte (ebd. c. 18 n. 24): nidlus
angelorum fuit quasi indifferens , sed omnes fuerunt aut honi aut
mali; und n. 25: quod autem in illo initio secundae morae nidlns
fuerit quasi indifferens, prohari potest, tum quia praeceptum Dei pro
illo momento urgebat, et ita non statim obedire esset resistere et pec-
care, quod 7ion per omissionem puram, sed per superbiam factum est.
Die lezte bemerkung- richtet sich auch gegen Bonaventura (in
2. dist. 5. a. 2. qu. 2), der behauptet hatte, die von Lucifer verführten
engel ^audientes Ludferum (eius suasionem) potuerunt non statim
Uli consentire, sed prius circa sibi proposita recogitare et postea con-
sentire''''.
Daraus ergibt sich, dass die Scholastik der ansieht von neutralen
engein durchaus nicht günstig war^ die oben berührte controverse aber
immerhin für Dante, den theologen unter den dichtem, gelegenheit
bot, den „Neutralen'" im Inferno einen platz anzuweisen. Gilt dies
auch von Kyot- Wolfram?
Mir scheint die (Parz. 471, 15 fg.) eigentümliche strafe und die
— später widerrufene — rettung der indifferenten engel darauf hinzu-
weisen, dass die theologischen anschauungen hiemit nichts zu tun hat-
ten. Zwar stelte Origines die lehre auf, dass auch die dämonen einst
gerettet werden; er zog aber den satz nach der reprobation desselben
zurück, und seitdem sprechen die theologen einstimmig von der ewigen
Verwerfung der gefallenen engel. Wir müssen uns also nach einer
andern quelle für Wolframs darstellung umsehen. Diese meine ich in
der deutschen volkssage gefunden zu haben und folgere daraus,
dass der gralmythus, wie ihn der deutsche Parzival bietet, Wolfram
selbst und nicht seinem gewährsmann angehört. Ich bringe folgende
belege bei.
In Tirol besteht der glaube, „dass nicht alle engel, welche dem
Lucifer anhingen und vom himmel gestürzt wurden, in die hölle kamen.
Yiele, die sich nur hatten aufreden lassen und nicht eigentlich
böse waren, blieben im stürze an bergen und bäumen hängen und
wohnen noch jezt in hohlen räumen. Sie müssen bis zum jüngsten
tage auf der erde bleiben". (Zingerle, Sagen, märchen und gebrauche
Tirols, s. 39). Alpenburg erklärt (Mythen und sagen Tirols): „Die
volkssage bringt die entstehung der zwerge mit dem falle der engel in
beziehung", und teilt ähnliches über die „Pütze" mit.
Aus der Schweiz berichtet A. Lütolf (Sagen, brauche und legen-
den. Luzern 1865) speciell über die entstehung der „ erdleutchen " :
NEUTRALE ENGEL 35
Als Lucifer fiel, wurde ihm und seinem anhange von gott eine trist
gesezt, in der sie in der höUe ankommen solten. Da fielen die ein-
stigen engel so dicht wie Schneeflocken; aber nicht alle waren, da die
trist verstrichen, schon in der hölle angelangt. Die andern blieben
zwischen himmel und erde hängen und wurden die „erdleutchen".
Daraus ist ersichtlich, wie die heidnische sage von den zwergen —
oder, wenn wir uns an die klassifikation von Grimm und "Wolf hal-
ten, die sage von den döckalfar — noch bis heute im volke fortlebt,
nur im christlichen gewande. Die vergleichung der Tii-oler- und Schwei-
zersage ergibt zugleich, dass man bemüht war, den christianisierten
mythus nun auch aus der christlichen lehre zu entwickeln. Den an-
knüpfungspunkt bot wie von selbst der fall der engel, namentlich die
stellen Ephes. 11: .^prindpem potestatis ae'ris huius^' imd I. Petr. V:
^^adversarius fester diabolus, tamquam leo rugiens circuit quaerens,
quem devoret"-, was Augustin (Sup. Genes. 1. 3, c. 10) in den satz
zusammenfasst : „aeV caliginosus est quasi carcer daemonibus usque
ad tempus iudicii''^.
Nun kann ich eine parallelstelle aus dem 14. Jahrhundert anfüh-
ren, die nach der einen seite den Übergang von den obigen volkssagen
zu Wolframs auffassung bildet, nach der andern diese in engere bezie-
hung zur theologie bringt. Die stelle findet sich in der chronik, welche
Hans Sentlinger im auftrag seines herrn Niklas dem Vintler auf Run-
kelstein geschrieben und „einen teil gedichtet" hat (1394) i. Er be-
schreibt:
1) Lucifers sünde: Bl. 4^ col. 2, z. 31 fg.:
Do tut unz die gesckr'ift chunt
dax, Lucifer ein hMhew stunt
in dem hi7nel aldo wa%
in seiner schon ein Spiegel glaz.
sein hochvart in niht mer da Hex,
die in in die hell stiez
und all sein volgar
in immer werndew sivar.
2) Die neutralen engel: Bl. 4'', col. 1, z. 30 fg.:
etleich engel tateyi schein
daz si gedahten m irm müt,
swer under in daz pest tut,
1) Der pergamentcodex befindet sich im besitze des berni Fi-iediicb v. Vintler
in Bruneck.
36 J. SEEBER, NEUTRALE ENGEL
da süll wir pei beleiben.
wer onag ünx dann üstreibe?i?
die selben warn Zweifler,
da von tvam si immer
dem vil hoch gelobten got.
da von si Uten grozzefi spot.
3) Ihre bestrafung: Bl. 4^ col. 2, z. 1 fg.:
Ufid da got dax icort vol sprach,
die engel man do vallen sah
auz dem him^melreich
all gemainleich.
die mit Lucifer tvarn an der schar,
die sah man 7nit im vallen gar.
Mit im si verstozzen sind,
da von si sind der hell chind.
Und auch die zweiflar
die sint got vil unmar,
wan si sind verstozzen
mit andern im genozzen
von got ewicleich.
ez regent von dem himelreich
drei tag nnd drei nacht
alz im got het gedacht
Nicht wan teivfel her ze tal
ditz waz ein jamerleicher val.
si vielen in der hell grünt,
do in ward ach und we chunt
immer in der hell glüt ...
Die verse: ez regent von dem himelreich usf. schliessen sich eng
an die ausführuiig der Schweizersage an, sodass man wol schliessen
darf, die „neutralen engel" der chronik seien direkt aus den erdleut-
chen, norgen und putzen der volkssage entstanden; dasselbe scheint
mir umsomehr von den „Neutralen" im Parzival zu gelten, weil Wolf-
ram noch zwei ursprünglichere züge des zwergmythus bewahrt hat.
Die zwerge sind die hüter verborgener schätze; im Parzival
haben diese engel den gral, das kostbarste kleinod, zu hüten, welches
allen menschen verboigen bleibt, ausser denen, die in geheimnisvoller
weise dazu berufen werden. Die zwerge, erdleutchen, norgen usf.
werden gerettet, ebenso Wolframs „Neutrale". Später allerdings wider-
KÖSTl.lN, HEITKA'IK /.TK F.KKLÄ I.T.Ni 1 LriUKIJS 37
nit't (lies (lor (lichter, und zwar in einer form uiul ^■edaiikenvorbindun^',
die es wahrscheinlich nuirht, dass seine erste darstcllung tad(;l und
Widerspruch gefunden habe (so auch Bai'tsch, Ausg-. III, 178). Parz.
798, 6 heisst es: du reit (iblvitciis /ist habe Trcvi-izcnt geloj^en.
MÄlunSClI WEISSKIKCllKN. JOSEF 8EEBER.
BElTElGE AUS LUTHEES SCHRIFTEN ZUM DEUTSCHEN
WÜRTERBUCHE.
1. Mit lungon auswerfen.
In der vorrede, welche Luther der ausgäbe seines Grossen kate-
chisnuis vom jähre 1580 beigab, redet er von nutz und frucht des
göttlichen wertes, fragt dann „Und Avir solten solche — — frucht so
leiciitfertiglich verachten — — ?" und fährt fort: „So solt man uns
doch — — mit hunden aushetzen und mit lungen auswerfen"
usAv. (Luthers Averke, Erl. ausg. bd. 21 s. 29).
Was heisst „mit lungen ausAverfen"?
Die alte, nicht von Luther selbst abgefasste Übersetzung, Avelche
in der ofticiellen samlung der lutherischen bekentnisschriften , dem
concordienbuch, aufnähme gefunden hat, sagt dafür nui" „digni sane
essemus — — qui canibus etiam exagitareraur". Hat sie das Avort
von den lungen nicht verstanden oder aus anderer Ursache Avegge-
lassen?
Mir sind keine älteren deutungen des Avortes oder erörterungen
darüber bekant^. Es mag dies damit zusammenhängen, dass ältere
und AvunderlicherAveise auch noch neuere und heutige theologen unse-
ren katechismus, auch in gelehrten deutschen abhandlungen und büchern,
lateinisch zu eitleren, also avoI auch nur in jener Übersetzung zu lesen
pflegen.
Endlich neuestens, in der ausgäbe von Luthers Averken für das
christliche haus, BraunscliAveig 1890 (bd. 3 s. 130), hat der bearbeiter
des katechismus, W. Bornemann, die erklärung versucht: „mit der
kraft der lungen ausAverfen, ausspeien". Ich selbst, damals über meine
meinung gefragt, Avolte erklären: „einen verfolgen und hetzen mit
[1) Das Deutsche \YÖi-tL'rljiicli (VI, 1304), welches ausser deu beiden von Köst-
lin besprochenen stellen noch eine dritte, ebenfals aus Luther (Hauspostille, festteil,
bl. 58"), beibringt, hat eine deutung nicht versucht. Red.l
38 KÖSTLIN
einem geschrei, mit dem man sich die langen ausschreit". Ein mit
der spräche jener zeit vertrauter germanist, dem ich die sache vortrug,
stimte mir bei.
Seither aber ist ein ganz gleichartiger ausdruck aus einer andern
Schrift Luthers an den tag gebracht worden, nämlich aus der schritt
„Dass diese werte, das ist mein leib, noch feststehen" vom jähre 1527,
Erl. ausg. bd. 30 s. 33:
„0 das wäre ein kühner held, den man solt' anspeien und mit
lungen zum dorf auswerfen".
Mit dem beisatz „aus dem dorf" muste mir meine erklärung, die
mir schon vorher seltsam schien, vollends unwahrscheinlich werden.
Und hier haben wir nun eine alte Übersetzung in dem 1558 erschie-
nenen, durch eine vorrede Melanchthons vom jähre 1556 eingeführten
7. bände der Wittenberger lateinischen ausgäbe von Luthers werken.
Sie übersezt (s. 384''), offenbar mit dem bestreben, genau zu sein:
„Heros sane fortis et egregius, dignus qui foedatus ora vultumque sputu
et pilis ex stercore equino confectis e pago ejiciatur". Ohne
allen zweifei hat sie also unter den lungen dasjenige verstanden, was
wir rossbollen oder pferdeäpfel nennen, und unstreitig passt dies vor-
treflich in den Zusammenhang. Nicht zu verwundern ist dann auch,
wenn der Übersetzer des katechismus die werte ebenso verstand, aber
aus einem katechismus lieber wegliess.
Wie selten aber „lungen" zu dieser bedeutung gekommen sein?
Mein herr kollege Sievers, der die frage getreulich mit mir überlegte,'
wies mir den weg, den ich unter seiner Zustimmung auch noch andern
fachmännern hier zur erwägung vorlegen möchte. Man vergleiche dazu
namentlich die angaben im Grimmschen wörterbuche.
Fest steht die bedeutung von klunge = knäuel; so schweizerisch:
fadenklung. Daraus wird „lunge" in jenem sinne (= belle) geworden
sein, und zwar zur zeit und an orten, wo der sonstige gebrauch des
wertes klunge in abgang kam.
Wir haben hieran um so weniger zu zweifeln, da „klung" und
„lung" auch sonst eigentümlich nebeneinander herläuft und ineinander
übergeht. So hat „lungel" neben der bedeutung „lunge" (lat. pulmo)
auch die bedeutung „liederliche weibsperson" und hiemit eben dieselbe
bedeutung mit „klungel, klüngel", was 1) knäuel, quaste, 2) lieder-
liches Weibsbild und schlingel heisst. Ferner steht nebeneinander
„klungern" = sich faul herumtreiben, und „lungern", herumlungern.
Ganz ähnlich steht im englischen noch heute nebeneinander
„clump" und „lump" = klumpen, stück (woher der neuere deutsche
name „lumpenzucker" stamt).
BEITRÄGE Zn{ EKKLAHrNd LT'THERS 39
Auch an aiuleni bcispiokMi dafür IVlilt os nicht, dass an die stelle
eines Wortes, das in al),i;'ani;' kam und nicht niciir recht verstanden
wurde, ein viel f^-ebrauchtes gleichklin<;-endcs anderes wort trat, dessen
eigentliche bedeutung doch eine ganz andere war und blieb. Ja merk-
würdiger weise bietet gerade hiefür auch wider das wort lunge mit
noch ganz anderer Verwendung sich als beispiel dar. In gewissen
gegenden Deutschlands nämlich reden gebildete und ungebildete von
„lungenbraten". Sie meinen damit lendenbraten. Ihrer wnnderlichen
l)enennung aber liegt ohne zweifei zu gründe das wol nur wenig mehr
im Volk fortlebende wort „lummel" = lendc.
2. Spielen tragen = aufziehen.
In (>ben derselben gegen Zwingli und Ökolampad gerichteten
Schrift sagt Luther im Schlussabschnitt (a. a. o. s. 149):
„Es trägt mich auch ihre rotte spielen mit solchem urteil,
dass, weil ich wider die bauern geschrieben habe, sei der geist von mir
gewichen, dass ich verstockt nicht möge verstehen die helle Wahr-
heit usw."
Mir wurde, als ich über den sinn dieser worte von den heraus-
gebern der oben genanten Braunschweiger ausgäbe befragt wurde, die
Vermutung vorgelegt, das tragen könte hier den sinn des lateinischen
ferunt haben: „sie (die rotte) berichten"; und was sie von ihm sagen,
wäre das, dass er mit ihrem urteil spiele.
Nie aber hat Luther „tragen" so gebraucht. tJberdies zeigt auch
die alte Übersetzung, dass nicht von Luther gesagt sein kann, er spiele
mit dem urteil. Sie lautet: vestrae haereseos asseclae me hoc quoque
nomine et judicio passim calumniantur, quod — — Spiritus a me dis-
cesserit. Sicher gehört vielmehr „spielen tragen" zusammen, ebenso
Avie wir sagen: spazieren fahren, ein kind spazieren tragen.
Was dies bedeute, wird freilich durch jene Übersetzung noch
nicht näher erklärt. Man möchte zunächst denken: herumtragen wie
ein Spielzeug, einen als Spielzeug gebrauchen mit gerede über ihn.
Nach der analogie mit „spazieren tragen" möchte mau aber erwarten,
dass der getragene selbst irgendwie zum spielen kommen werde.
Auch hier hat nun Sievers weiter geholfen durch hinweis auf die
reichen mitteilungen in Schmellers Bayer. Wörterbuch ed. Frommann
bd. 2 s. 664. Hiernach heisst „einen ausspielen": ihn zum scherz und
spott nachäffen. ,, An der Um", sagt Schmeller, „ist besonders zur
fastnachtszeit üblich das leut- ausspielen, Avobei einzelne lächerliche bege-
benheiten, die sich das jähr über im orte ei-eignet, im kostüme und
40 KÖSTLIN
mit den gebärden derjenigen, die sich dabei biosgegeben haben, zur
belustigung der Zuschauer scenisch vorgestellt werden". Schmeller
führt auch an: „aufspielen über einen — ihn zum gegenständ der
Unterhaltung, gewöhnlich der boshaften, nehmen". Ferner erwähnt er
ein „ aschermittwochgericht der zwölf jungfi-auen zu Burgebrach (in
Oberfranken, Baiern) über eine ausgestopfte figur".
Hiernach Avird Luthers sinn klar sein: die gegner verhöhnen und
lästern ihn hin und her, wie man bei solchem brauch einen in effigie
umhertrag, vorführte, spielen liess, lächerlich machte mid wol auch
aburteilte (vgl. jenes aschermittwochgericht). Dazu passt auch, dass
Luther das urteil bezeichnet, das eben hiebei die gegner über ihn spre-
chen. Auch dass er diese gerade hier eine rotte nent, wird im Zusam-
menhang damit bedeutuug haben: sie gleichen den mutwilligen und
boshaften aufführern jener spiele, die haufenweise herumzogen.
Yon hier aus wird endlich auch die herkunft der bedeutung von
„aufziehen" = sich über einen lustig machen, festzustellen sein.
Grimms Wörterbuch 1, 784 denkt an ein „ziehen auf die spötterbank",
daneben auch an eine gieichbedeutung mit aufhalten, hinhalten; M.Hey-
nes deutsches Avörterbuch 1, 704 fg. ans leztere. Dabei steht fest (vgl.
bei Grimm und Heyne), dass man nach dem älteren Sprachgebrauch
einen nicht bloss „aufzieht", indem man ihm selbst etwas vorhält, um
sich über ihn lustig zu machen, sondern ganz algemein, indem man
ihn um irgend einer sache willen und in irgend einer Situation zum
gegenständ des lachens macht. Als einfachste erklärung aber bietet
sich nun gCAviss der ursprüngliche sinn dar: man zieht ihn auf auf
jener spottbühne; noch bestimter: man zieht ihn dort auf wie die am
faden oder draht hängenden spielpuppen.
3. Quecksilber in den teich werfen.
Keine entscheidung, sondern nur eine Vermutung oder frage wage
ich mit bezug auf einen anderen, offenbar sprichwörtlichen ausdruck,
den Luther in jener schrift s. 19 fg. gebraucht hat. Er führt dort aus:
dem teufel zum trotz habe er mit saurer arbeit im gegensatz gegen
die menschengebote wider die heilige schrift hervorgebracht usw\; jezt
habe dagegen in seine und der seinigen mitte der teufel leute ein-
gemengt, die seine lehre nicht dazu aufnehmen solten, um ihm in jener
arbeit und jenem kämpfe beizustehen, sondern um, w^ährend er und
die seinigen vorne stritten, in ihr beer von hinten einzufallen und sie
so zwischen zwei feinde zu bringen und desto leichter zu verderben.
ISEITK.'UiE ZVH KK'KLAIirNi; I.nHERS 41
„Das'', sagt Luther, „licisst (moin' ich ja) qnccksilbcr in den teich
geworfen ''.
Die hiteinische Übertragung sezt an die stelle dieser worte ein
otfenbar auch sprichwörtlich gewordenes lateinisches bild: ,,Hoccine est
floribus immittore austros". Sie kann damit nur heissc Südwinde mei-
nen, welche den blumen verderben bringen.
Im (Trimmschen Wörterbuch (7, 2836) worden die Avortc Luthers
auf die bewcglichkeit des quecksilbers und seiner unendlich vielen
küg(>lchen bezogen. Was soll aber diese in jenem zusanuuonhang? in
ihm han(h?lt es sich ja jodenfals um eine verderbliche Wirkung, die
das (juecksilbei- im teich üben soll. Man müsste nur etwa an einen
aberglauben denken, wonach das quecksilber dort mit seiner beweg-
lit'hkeit verderbliche bewegungen oder stürme hervorbringen solte. Yon
einem derartigen aberglauben ist mir wenigstens nichts bekant.
Eben dort lesen wir aber, dass das quecksilber, und zwar nament-
licii nach Paracelsus, auch als gift diente, wobei dahin gestelt bleiben
mag, in welchem zustand oder w^elcherlei Zubereitung es so gebraucht
wurde. Hat es nicht diese bedeutung auch hier? Es wird heim-
tückisch und heimlich in eiuen teich geworfen, um seine fische zu
verderben. Man denke an die damals so zahlreichen fischteiche.
4. Wenn thät.
In bd. XXIII, 41 und 293 dieser Zeitschrift wurden fünf belege
mitgeteilt für die bedeutung von „thet" = „entete'^ = „nicht thäte,
nicht Avirksam oder vorhanden wiire'^ Hier folgen zwei weitere aus
Luther i.
In der schrift wider Hans Worst vom jähre 1541 (Neudruck her-
ausgegeben von Knaake bei Niemeyer 1880, s. 54; Erl. ausg. 27, 55) sagt
Luther von den Papisten: Es ist nun dahin kommen, „dass sie das
licht unverschämt scheuen, ja viel ding selbst itzt lehren, das sie
zuvor verdammt, dazu nichts zu lehren hätten, wenn unsere bücher
theten''.
In Luthers Bibelübersetzung 1. Kön. 21, 7 ist es zwar üblich
geworden zu drucken: „Was wäre für ein königreich in Israel, wenn
du so thätest^', und hiefür ist dann in der „revidierten Bibel'', soge-
nanten „Probebibel" vom jähre 1883 (Halle, buchhandlung des Waisen-
hauses) gesezt worden: „wenn solches geschähe". Bei Luther aber
hiess es: „wenn du thätest". Mein herr College Burdach, mitarbei-
1) Vgl. dazu noch s. 43 dieses heftes. Red.
42 KAWERAU, IN BUS CORREPTAM
ter an der superrevision jener bibel, hat mich darauf aufmerksam ge-
macht als auf ein neues beispiel jener eigentümlichen ausdrucksweise,
die also Luther ohne bedenken dort, bei einer rede der schlimmen
königin Jesabel an ihren gatten Ahab, ohne bedenken auch fürs deutsch
seiner Bibel verwante. Eigentümlich ist dort das Verhältnis Luthers zum
hebräischen grundtext. Dieser besagt nämlich eigentlich: „Du, nun übe
königsmacht (dasselbe wort im hebräischen mit königreich) über Israel!"
oder fragend: „du, übst du nun königsmacht usw.?" Und zwar ist
dieses „üben" mit dem gewöhnlichen worte für „thun" (nip^-n) aus-
gedrückt. Es fragt sich, wie weit Luther, der hier jedenfals selbstän-
dig, ganz abweichend von der falsch übersetzenden Yulgata, und zu-
gleich frei übersezt hat, hiebei die einzelnen hebräischen worte genau
verstand. Und hiebei mag ihm nun das „thun" im grundtext ein
besonderer anlass gewesen sein, sein „Wenn du thätest" in der Über-
setzung anzuwenden, so sehr auch dessen sinn von dem des „thim"
im hebräischen abweicht. Jedenfals aber wird er es in ebendemselben
sinne, wie in den zuvor ausgehobenen belegsteilen gebraucht haben.
HALLE A. S. JULIUS KÖSTLIN.
„IN BUS COEEEPTAM'^ — EINE ANFEAGE.
Luther ruft 1530 in seiner „Vermanung an die geistlichen ver-
samlet auff dem reichstag zu Augsburg" (Erl. ausg. 24 2 s. 363) den
deutschen prälaten in erinnerung, wo sie wol nach dem Wormser
reichstage geblieben wären, wenn damals ein prediger das volk zur
gewaltsamen Vertreibung der geistlichen aufgestachelt hätte: „ — wäre
nur ein prediger aufgestanden, der dazu geraten hätte, wo weitet ihr
geistlichen itzt sein? In bus correptam!" Ebenso lesen wir in
den tischreden (Erl. ausg. 61, 282) in einer Schilderung des todes des
Wiedertäufers Hetzer: „Als er nun gerichtet werden und sterben sollte,
da führe er auch in bus correptam. Denn das war sein leztes wort
gewesen: Herr Gott, wo soll ich hin etc." An beiden stellen ist es
also sichtlich sprichwörtlicher ausdruck für ein ende mit schrecken, ja
wie es scheint, gradezu für die hölle. An der zweiten stelle gibt eine
neuere ausgäbe es sachlich zutreffend wider mit „in des teufeis rä-
chen". An der ersten umschreibt es J. Ficker in seiner bearbeitung
der Schrift für die Braunschw. Luther -ausgäbe III, 353 mit: „zu schar-
fer busse, zu Züchtigung". Weder du Gange noch Dietz geben aus-
kunft und anhält für das Verständnis dieser sprichwörtlichen redeweise.
BIRLINCtEH, thfli' 43
Ich möclitr daher die aufmorksainkcit auf diesoll)(> loukon und fragen:
kann jcniand ihn aiisdnu'k sonst nocli in (h>r littoratur na(•h^v(Mson?
kann jemand den schhissel zur sprachlichen und sachlichen erklärung
bieten? Dass an einen druckfehler nicht zu denken ist, beweist das
vorkommen in zwei ganz verschiedenen Schriften.
KIEL. KAWKRAU.
THETE DAS, THET, THÄTE = MHD. ENTETE.
Die Studien über Luthers spräche und die revision des bibeltex-
tes lenkten auf das kaum beachtete fhei, thlit = mangelte, fehlte das,
wiire das nicht vorhanden. Ich habe bd. XVI, s. 374 dieser Zeitschrift,
aus Sebastian Francks spiichwörtersamlung und Conrad Dieterichs pre-
digten über das buch der Weisheit eine anzahl beispiele mitgeteilt,
was den Verfassern der beiden artikel ztschr. XXIII, 41. 293 entgangen
ist. Dieser gebrauch ist süddeutschen denkmälern durchaus fremd. Die-
terich war ein Hesse, von Hayna oder (rmunden, von 1614 — 1639 in
Ulm. Ich füge zwei weitere belege hier bei. Boltes ,, Der bauer im
deutschen liede 1890" hat einen liederdruck von 1647 s. 15; str. 12:
König, fürsten und herren
Muss er mit gott ernehren,
Schlösser vnnd städt die weren nicht.
Hatten nicht zu verzehren
Wenn der bawer nicht thet.
Älter, wol noch in die zweite hälfte des 15. Jahrhunderts gehö-
rend, ist „Der bawrn lob" s. 109 fgg. nürnbergisch, v 55 fgg. :
Ich lob dich, du edler bawr
Für alle creatawr,
für alle herrn auf erden
Der kayser muss dir gleych werden.
Dir scholt nymer geschehen kain layt,
Das sprich ich auf!' meinen ayt
Thestn, so müst mancher in sorgen allda.
Bolte fügt bei: etwa thetestu nit.
Ygl. Verwys-Verdam mittehiederl. woordenboek II, 240: ruclor^
endfde (en dact = en dadc hei), en hadde gedae/i wenn (eine person
oder Sache) es nicht getan hätte, nicht gewesen wäre, es nicht gehin-
dert hätte".
BONN. ANTON BIRLINGER.
44 ZINGERLE
PEEDIGTLITTEEATUE DES 17. JAHEHUNDEETS.
I.
Die katholische predigtlitteratur des 17. Jahrhunderts ist viel zu
wenig beachtet und gewürdigt — und doch erschliesst sich, beson-
ders in den predigten der volkstümlichen Franziskaner und Kapu-
ziner eine reiche, frische quelle für kultur- und Sittengeschichte ^ Die
spräche ist meist für das volk berechnet, an treffenden gleichnissen,
derben vergleichen und an hunior fehlt es diesen kanzelrednern nicht.
Für die gebildeten zuhörer gibt es citate aus lateinischen Schriftstellern
oder stellen aus der alten mythologie. Da kehren gewisse fornieln
wider, die sich bei den Kapuzinern bis in die mitte dieses Jahrhun-
derts erhalten haben. Nachdem aussprüche der kirchenväter für die
Sache angeführt worden, wird als höchster beweis ein spruch eines
griechischen oder lateinischen Schriftstellers gegeben mit den werten
„und selbst der blinde beide Ovidius" oder „wie der blinde beide Cicero"
sagt. Die citate werden zuerst in lateinischer spräche, dann in deut-
scher gegeben, stellen aus lateinischen dichtem oft in gereimten ver-
sen. Ich habe mir einige verschollene predigtsamlungen aus jener zeit
erworben, die ich mit vergnügen las. Eine führt den titel: „Cande-
labru7n apocalypticum Septem lu7ninaribus coruscans ode?^ Äpocalyp-
tischer Leichter mit sibefi Liechtern und Facklen flammendt, das ist:
Sibenfache Predigten durch siben Jahrgang, auff alle Sonn- und
Feyrtäg ieglichen gantzeri Jahrs aiißgetheilt. Ersten Leichters oder
ersten Jahrs Dominical oder sonntäglicher Theil. Verfasst und be-
schriben, wie auch mit nutzlichen Marginalien und viererley Registern
aufs beste versehen. Durch R. P. F. Joannem Copistranu7n Brin-
zing, S. Fra7icisci Ordens, der strenger7i Observanz', Straßburger Pro-
vintz Priestern 7md der Zeit ordinari Pfarrprediger7i bei U. L. Frawen
in Ba7nberg. ■ — Stüfft Ke7npten, get7'uckt durch Rudolff Dreher, im
Jahr 1677. 4^. 451. s. Die register nicht eingerechnet. Der zweite
teil: y,Erste7i Leichters oder ersten Jahrs Festivalodenden feiertäglicher
TheiV" Kempten, im jähre 1681. 4*^ hat ohne register 544 selten. Der
erste teil ist „Dem Hoch würdigsten des H. Rom. Reichs Fürsten und
1) Einen Kapuziner -prediger aus dem 17. Jahrhundert behandelte auf meine
anregung mein freund Adolf Hueber in der schrift: Über Heribert von Salurn.
Beitrag zur künde deutscher spräche am ende des 17. Jahrhunderts. Innsbruck,
Wagnersche Universitätsbuchhandlung. 1872. Birlinger hat schon seit 25 jähren
diese litteratur gepflegt, und viele kapuzinerpredigten, wie werke der Franziskaner
für spräche, sittenkunde, mythologie ausgebeutet.
l'KEDKiTI.ITTERATUR DES 17. .IHS. ' 45
HpiTii, Herrn Pctro riüli])])!), .l^ischoHV'ii zu Banibere,- und Würtzburg,
Hertzogen in Fraucken", der zweite dem „Reverendissimo et celsissimo
S. R. T. Principi Domino Domino Rupcrto AW)ati ('ampidononsi, Augu-
stissimae Imperatricis Arcliimarschallo" gewidmet.
Der erste teil ist in demselben jähre ei'seliienoii, in dem Abra-
iiam a Santa C-lara liofpredlgrr in Wien wurde. Beide sind geistes-
verwante redner ihrer zeit. Auch Bi'inzing ist „volkstümlich und
von mächtiger darstellungskraft" \ auch er sieht in seineu predigten
auf elVckt und iiutcihaltung, liebt derbe spässe und Wertspiele, geschich-
ten und sclnvänke, prunkt nicht selten mit gelehrsamkeit, und man
begreift, dass damals die lente lieber zu den kurzweiligen predigten
giengen, als heutzutage zu den huigweiligon erbau ungsreden, die lei-
der alzuoft von politik durchzogen sind.
Schon die inhaltsgaben im ersten register sind für unsern P. Jo-
hannes bezeichnend, z. b. : „Wie erschröcklich am Jüngsten tag in dem
förchtigen tiial Josaphat das letste gericht seyn werde", „warheit
bringt feindschaft", „wie man lebt, so stirbt man", „die weit ist eine
betrogene wüste", „ein böses weib ist das grösste übel von der weit".
„Am sontag Quinquagesimae. Thema: sepeliatur sepiütura asini Je-
rem. 22, 19. Er soll in des esels grab begraben werden. Jerem. 22, 19.
Innlialt. Leiclipredig Bacchi deß Faßnachtgotts". „Das vertrunekne
Elend", „Jetziger Welt Politic ist des Teuffels Hauß-Regel", „Großer
Reichtunib, großer Untergang", „Ein Geitziger ist einem Wassersüch-
tigen gleich". Im festteile ist der Inhalt ernster und weniger volkstüm-
lich angegeben. — Charakteristisch ist die „Leichpredig Bacchi" I, s. 116
— 125, eine wahre fastnachtspredigt voll hunior und derben witzen.
In der erwartung, dass ein P. Franziskaner das gedächtnis seines
redemächtigen mitbruders durch eine ausführliche besprechung und
Würdigung dieser predigten ehren wird, beschränke ich mich zunächst
darauf, das Sprichwort in diesen reden zu verzeichnen und anderes
darüber mitzuteilen.
I. teil.
„Die Wahrheit sagen bringt Ungunst" s. 4.
„Der wolf artet den hofleuten nach" s. 17.
„Gar zu grob, wenn man es greiften kau" s. 17.
„Wie man lebt, so stirbt man" s. 21.
„AVann das kind stirbt, so hat die gevatterschaft ein end" s. 57.
1) W. Scherer, Geschichte der deutschen litteratur 338.
46 ZINGERLE
„So muss man die fiichs fangen" s. 59.
„Böse weiber sind bissiger als die hund" s. 60.
„Alles verthon vor meinem endt Macht ein richtigs testament"
s. 24.
„Beim wein ist es gut lustig sein, sprechen die durstigen brü-
der" s. 150.
„Wenn den esel das futter sticht, so gumpt er" s. 155.
„Fürwitz wird theur bezahlt" s. 163.
„Man lebt wie hund und katzen" s. 177.
„Gleich und gleich geselt sich geren. Der wolf sucht wölf und
flieht den beren" s. 199.
„Da ligt der haas im pfeffer" s. 202. 297. 430.
„Der wolf grabt ihme selbsten ein gruben" s. 205.
„Der loser an der wand Hört seine eigne schand" s. 205.
„Untreu schlägt sein eignen herren" s. 206.
„Stärker ist das gelt. Als sonst die gantze w^elt" s. 208.
„Außwendig schön, inwendig faul Yerführt das aug, betrügt das
maul" s. 329.
„Der fux wüste wol, wo der has im pfeffer lag" s. 362.
„Du gehst auß oder ein, So steht der tod und wartet dein"
s. 374.
„Wer sich mischet under die klew, Den fressen die säw" s. 395.
„Wer die Wahrheit geiget, dem zerschlagt man die geigen am
köpf" s. 395.
IL teil.
„Was die alten sungen. So zwitzern die jungen" s. 6\
„Je böser der mensch, je besser das glück" s. 89.
„Zu hoff leben ist ein gefährlich leben. Lang z' hoff, lang z' höll"
s. 257.
„Es ist keen messer, das schärpfer schirt. Als wenn ein betler
zum herren wird" s. 263.
„Auf leid folgt freud" s. 282.
„Wo der teufel nit kan, so schickt er ein böses weib" s. 287.
„Wo der teufel nit hin kann, da schickt er ein böses weib"
s. 309.
„Böse weiber sind ärger als der teufel" s. 287.
1) „Kegis ad exemplum totus componitur orbis" s. 5 wird damit glossiert.
rREDlOTUTTF.RATn? DKS 17. .IHS. 47
„Der Tcutsch sagt im spricliwort: Der neid wird zu hott' gcbuh-
i-cn. in düsteren auferzogen und stirbt im spital" s. ;>87.
„Das glück will einen neider haben" s. r>38.
„Der unschuldig muss leiden" s. 338.
„Glück und glas. Wie leicht bricht das" s. 344.
„Wer auf gott traut, hat wo! baut'' s. 425.
Häufiger begegnen lateinische sprüche und versus memoriules,
oft mit ül)ersetzung in reimen.
I. teil.
„Tempus gemma pretiosius omni.
Die zeit ist das theurest auf der weit,
Wird nimmer kauft umb alles gelt" s. 38.
„Die zeit verschwiudt Wie rauch im wind.
Zergeht behendt, Wirdt nimmer gweudt" s. 40.
„Sine crux et sine lux, ohne reu und laid, ohne buss und
belebt" s. 58.
.,Qui tetigerlt plcem, inqulnabitur ab ea. Wer mit bech umb-
geht, der besudelt sich leichtlich" s. 77.
.,Figulus figulum odit, der hafner neidet den liafner" s. 85.
„Etiam capillus unus habet suani umbram, auch ein kleines liär-
lein hat seinen schatten" s. 88.
,,Anserum convivia sunt gratiora, mit den gänsen ist es gut
essen" s. 150.
,,Quod cito fit, cito perit, was bald wird, das vergeht bald" s. 165.
,,Ut enim avis cantii, sie bomo loquela notatur, dann gleichwie
der teutsche poet singt:
Den vogel am gsang.
Den hafen am klang.
Die Jungfrau am gang" s. 199.
„Ex uihilo nihil tit, sagt der Lateiner im sprichw^ort: Auß nichts
wird nichts, als w^olt er mit dem Teutschen sagen: Arme leute haben
nichts, wer nacher geht, der findet nichts" s. 262.
„Felix quem faciunt aliena pericula cautum, \\o\ dem, der an
anderer leuten schaden witzig wird.
Wo so vil gefallen, Kan mir nit gefallen" s. 359.
„Omue trinum perfectum, alles was sich dreiet, das ist volkom-
men" s. 394.
48 ZINGERLE
„Deliberandum est diu, quod statueudum est semel, was eimuabl
muss geschehen, das soll zuvor wol erwogen sein" s. 436.
IL teil.
„A Jove principium" will mit dem Teutschen sagen: „Der erst
geht voran" s. 2.
„Qualis rex, talis grex: Wie der könig, also die imderthanen,
wie der pfaff, also die pfarrkinder, wie der hirt, also die schaff, wie
der pfeiffer, also die dantzer" s. 4. „Wie der hirt also sinnd die schaf,
wie der pfaff, also die pfarrkinder" s. 5.
„Non est conveniens cantibus ille color:
Traurig sein und schwartz sich kleiden
Tauget nit, wo lauter freuden" s. 78.
„Volat irrevocabile verbum:
Das wort fliegt fort,"kombt nit mehr her,
Nit haben gredt, oft besser wer" s. 172.
„Qui cito dat, bis dat: Wer gschwind gibt, der gibt zweimal"
s. 203.
„Non est in pota saepe salute salus:
Gesundheit trinken Machet hinken" s. 223.
„Yil getrunken. Hart gehunken" s. 223.
„Insanire facit vel sanos copia vini:
Auch die weisen werden narren.
Fahren auf dem schellen -karren,
Wann des weins zu viel genossen,
Wann das glas oft eingegossen" s. 223.
„Finis coronat opus: Avans end gut ist, so ist alles gut, oder
mit dem poeten zu singen:
Wol geschlossen, Gut geschossen" s. 231.
„Exeat ex aula, qui cupit esse pius:
AVillst bleiben fromm, Gen hof nit komm" s. 257 u. 308.
„Omnia vincit amor:
Die lieb ist stark und überwindt,
Die lieb die ist, so alles bindt" s. 260.
„Conveniimt rebus nomina saepe suis:
Was die sach von selbsten ist.
Zeigt der nam oft zu der frist" s. 262.
„Hast du auch nomen et omen?
Ist dein nam Wie dein fam?
Ist dein prob Wie dein lob?" s. 264.
PREDIGTI.ITTERATUR DES 17. .THS. 49
„Fortunao comes iiividia ^agt der Lateiner im spriicliwort, will
mit dem Teutschon sag-en: Das o-lück will einen neider haben''' s. 277.
„Andaees fnrtuna jnvat, timidus(|ue i'epellit: j-^iscli n'ezuekt ist
halb ,i;etbchteu" s. 324.
„Ubi nil potest h3onina, assuatur pellis vulpina, saj^t der poli-
ticus: Kannst nichts mit gwalt außrichten.
Vorteil kann den liandel sehlichten,
Wo des lewon zoni niclits ist,
Gebrauch dich dos fuchsen list" s. 324.
„8(datiuin est miseris, socios habuisse dolorum, sagt der Lateiner
im spriiehwort, will mit dem deutschen poeteu singen:
Muss ich leiden und soll es sein.
Freut michs doch, bin uit allein" s. 34L
„Parturiunt montes, nascetur ridiculus mus:
Yil geschrei und wenig woll,
Außen liier und innen lioL' s. 378.
„Nnnqiiam deorsuni' Nimmermehr under sich:
In der höh bei meinem gott
Halt ichs stet in freud und spot s. 40 L
„Graviora non tiniet amor:
Dieß und noch vil mehr dazu
Acht die lieb vor lauter ruh" s. 459.
Ich gebe noch eine reihe anderer stellen, welche freie Übertra-
gung zeigen.
I. teil.
„Lautam statim intulit coenam, quam non paraverat: Er hatte
alsobald speiß und trank genug ohne koch und keller'' s. ()3.
„Misit eum in carcerem: es half nichts dafür, er nuißte fort ins
nobishaus" s. 69.
„Fortuna patitur invidiam, sagt dei- Lateiner im spiiiclnvort, als
wolt er mit dem Teutschen sagen: das glück muss einen neidei- haben:
oder mit dem poeten singen:
Gleichwie auf d' freud folgt gwisses leidt.
Also wirdts glück mit haß verneidt" s. 79.
„Tollatur ergo e medio causa et cessabit elTectus: So werf man
dann ein solch stinkendes todten-aaß, einen solchen glüenden höUen-
brandt auß der gemain hinauß in ein kothlachen, so wird das übel
aufhören" s. 223.
ZEITSi HK'n^T F. DEUTSCHE rilll.OLOraE. P.D. XXIV. 4
50 ZINGERLE
„Mortis inevitabile fatum
Aequa sorte destinatum
Mihi, tibi, omnibiis.
Pomp und pracht,
Hoffart und macht,
Gelt und gut,
Freud und muth
Führt der todt ins grab am strick" s. 267.
„Natat in aquis et saltat in terris:
Es schwimmt im wasser wie ein fisch.
Und springt auf erden wie ein hirsch" s. 299.
„Mel in ore, fei in corde, das ist: Honig im mund, gall im her-
tzen, als wolt er sagen:
Süß in Worten und conversieren.
Aber schau, thues hertz probieren,
Für das hönig gibt er gallen,
Laß dir, freund, solch vögl gfallen" s. 330.
„Plus dare non habes, plus petere nequis:
Mehr zu schicken ist nit mein.
Mehr begehi-en ist nit dein."
„Plus dare non habes, plus petere nequeo:
Mehr zu geben ist nit dein.
Mehr begehren ist nit mein.
Nemb mir mein hertz, gib mir das dein.
Laß beede hertzen ein hertz sein" s. 391.
„Nimb du mein hertz, gib mir das dein.
Laß beede hertzen ein hertz seyn" H, 19.
„Tibi soll: Dein allein Soll alles seyn" s. 393.
„Dulcis amor patriae, quem non bona patria mulcet, saxeus est
adamas, bestia, nuUus homo:
Gleich dem vich Halt den icli,
Härter als ein adamant,
Wie ein stein Muß der sein.
Der nit liebt sein vatterlandt" s. 446.
n. teil.
„Ad omnia utilis:
Alles, was kann nützlich seyn,
Hat der palmbaum gantz allein" s. 100.
PKEDIGTLITTEItATUl; DES 17. JUS. 51
„Niiiniiiis umbra:
(iottos wcscii al)i;t'nialilt
Zeii;t <lie tatel so o-ostalt" s. 144.
„(j)iii(l (lico, iiiinus dico:
Was icli sag, ist alls nit i^mig,
Wer soll reden liior mit fui^?
Aber was ralits? soll leb schweigen?
Gnug' hier rechni kan nit seyn,
Gar stillsciiweigen ist nit fein'^ s. 179.
,.Fraeiia pati discant et (hirnni qnodqiie subire:
Juneti uiio pariter t'oemiiia virqne jugo:
Lelirne meiden, lehrne leiden.
Der du wilst im ebestand seyn,
Dann alldorteu aller Sorten
Findest schmertzen, creutz und pein'' s. 234.
„Quantum potes tantum aude:
Mach es nur wies dir gefällt.
Tragt es ein, so ists schon recht.
Alles ist in dich gestelt,
Fi'age nur nach keinem recht.
Kanstu dirs zu nutzen machen,
Laß die weit darwider pochen.
Du must trutzen, du must pochen,
D' weit politic rieht solch sachen" s. 317.
„Nusquam honestius moriar quam hie:
Nirgends werd ich besser sterben.
Nirgends grössers lob erwerben" s. 41ü.
„0 suavis sors, o bona mors:
0 süsses glück! o guter tod,
0 schöner sieg! o gnad von gott!" s. 411.
„Ümnia amato.
Nichts ist mein. Alles sein" s. 449.
Unser prediger liebt es, mit klassischen Schriftstellern zu prun-
ken und seine kentnis der alten litteratur mit historien und versen zu
zeigen. Er wirkte ja zur zeit der renaissance, welcher der jüngere
klerus mit besonderer hebe huldigte. Im „Elenchus alphabeticus aucto-
rum, quorum potissimum opera in hoc de sanctis tomo sum usus"
sind folgende schriftsteiler des altertums verzeichnete
1) Er macht die bemerkung: „Notes tarnen veliiu, Lector caiulidissime , quod
iiuUateuus rae iactitcm, quasi omnes legissem ego propriis in opei'ibus, cum ob hbro-
4*
52 ZINGERLE
„Aelianus, Aristoteles, Aiilus Gelliiis, Herodotus, Homeriis, Ho-
ratius, Juvenalis, Liicaniis, Martialis, Mela historicus, Ovidius Naso,
Pausanias, Plato, Plautus, Plinius, Plinius junior, Plutarcbus, Seneca,
Solinus, Siietonius, Yalerius Maximiis, Yirgilius Maro''.
Den aus lateinischen dichtem entlehnten versen gibt er eine
gereimte Übersetzung oder Umschreibung bei. Ich gebe beispiele davon.
I. teil.
„Virgilius: Quid non mortalia pectora cogis
Auri Sacra fames?
All hertzen zwingt.
All gmüther gwint
Deß golds sehr grosser hunger,
Das gelt die weit
Steiff gefangen helt,
Ist stärcker als der donner usw." s. 108.
„Quisque suum nomen portabat, quivis honorem:
Ein jeder gott sein namen hett,
Ein jeder trug sein anibt.
Was jeder zu verrichten hett,
Miecli (sie!) ihn der weit bekannt" s. 173.
„Audaces fortuna juvat timidosque repellit:
Frisch gezuckt ist halb gefochten.
Es fällt kein aich
Vom ersten straich" s. 201.
„Horat. I. epic. fJ. Et genus et formam regina pecunia donat.
Adl, gstalt, form, auch was da liebt die weit
Bringt bey, bezahlt und gibt das gelt" s. 208.
Hör. I, ode 37. „Nunc est bibendum, nunc pede libero pulsanda
tellus etc.: Bald essen, bald trinken. Bald frölich Ju schreyen,
Bald hupfen, bald springen, Bald führen ein reyen etc."
s. 240.
„Grandia concessit überaus pondera mundus:
Alles, was ich hab begehrt. Hat die weit mir geben:
Schöne gaben hats beschert, Darzii auch langes leben" s. 209.
„Est anior ingratus, si non sit amator amatus:
Lieben und nit geliebt werden
Ist der gröste schmertz auff erden" s. 277.
rum defectuiii fei'ine ordiiiarium vix lülus modoi'uoriun scriptoriim hoc sibi ari'Ogare
ausit; inultos taiiien lej^i, ast ])hii'ps ab aliis liiuc iude citatos reperi et iuserui".
PK'EIlIOTUTTERATUK 11ES 17. .IHS. 53
„Virg-ilius, (ItH' Piditur könii;'. i\[ille triihens varios opposto solo
colores: Tausend tarhii;- liocli£2,'eziehrot
Braii^'t am iiiniinel au%efiiliret
In dem f;wiilck der reji^-enbog'on
Von der sonnen glantz ci'zogen" s. 291 '.
„Oninia si jierdas, taniani servai'C momonto:
Geht alls /u nTund Tn böser stund,
Schau, bhalt (hnu clir Dir wird nit mehr" s. 303.
.,(-^,uo plus sunt |)otae, plus sitiimtur aquae:
Wer da vi! hat, noch mehr beii;ehrt,
Durchs trinken wird der durst vermehrt'' s. 376 u. 378.
„Facilis descensus Averni etc.:
Zum uiidergang' ist breit der steg,
Ins lu'Hlish feur ist baut der Aveg" etc. s. 403.
„Post nubila phoebus: Nach regen wirds gern schön, oder:
Es ist nun wahr, Kunclt, offen bahr,
Auff trübe zeit Folgt fröligkeit" s. 410. 411.
IL teil.
„Et via sublimis cnelo manifesta sereno lactea nomen habet:
Am fii'mamont ein weg sich weißt
Von milch, schön über d'massen,
Den potcntaten allermeist
Zum hiramel zeigt die Strassen" s. 5(3'-^.
„Diesem Ludovico hätte der poet Martialis wol mögen jenen vers
vorsingen, den er in seinem 4. buch Epigrammatum 8eptimo innter-
lassen: 0 nox quam longa es, quae facis una senem?
Wie lang bistu, o tolle nacht.
Die junge haar so graw gemacht" s. 129.
1) S. 2'J3 gibt er die reime über den regeubogen:
„Will zwar was seyn, Ist doch nur scliein.
Außwendig schön, Inwendig nichts.
Verführt das aug, Spott des gesichts.
1j') Über die milchstrasse sagt er s. 55: „Die milchstrassen, von dem gemeinen
manu aber Via sancti Jacobi: Sanct Jacobs Straße. S. 56. Endtlich fingieren
die poeten, es sey via lactea dia Jacobsstrassen deßwegen genennt, weilen die himm-
lische Juno an selbigem ort Ilerculem und Mercurium die götter mit ihrer milch
getränkt und solch schöne farl)en hinderlassen. Andere aber als wie Ovidius und
Maro sagen: Es sey die Strassen, durch welche könig und kayßer, fürsten und poten-
taten gen himmel fahi-eu''.
54 ZINGERLE
„Foecundi calices, quem non fecere disertum? singt zwar Hora-
tius Flaccus, der Yeniisinische poet:
Wer trimcken hat vom siessen wein
Soll dessen zimg ja bredt gniig seyn" s. 143.
„Unde? Tam subito corvus, qui modo cygnus erat:
Woher? Ein schwartzer rapp und jener mann,
Der weisser war, als nie kein schwan" s. 258.
„Magnum iter ascendo, sed dat mihi gloria vires,
Non juvat ex facili lecta corona jugo
hat unser betler mit Propertio dem poeten gesungen:
Kaucher weeg steht noch bevor,
Förcht mir nit, der glory thor
Steht mir offen, Das macht hoffen,
Leichter streit Verdient kein freud" s. 366.
„Ovidius der poeten printz imd könig in seinem buch de arte
amandi singt so:
Qui non vult fieri desidiosus, amet:
Lieb, so wirstu nimmer trag.
Lieb, so hastu gschäfftig tag" s. 401.
Heiter stimt folgende stelle, bei der am rande Homer e. 5
I(l)iad steht:
„Hermenides, der berühmt kunstvoll trojanische baumeister,
wie Homerus singet, ward also sehr von Minerva, der königin,
geliebt, dass sie ihm einst anerbotten, er solle von ihre begehren, was
er immer wolle, so werd ers erhalten. Worauff er lüstiglich:
Lingua ferat regimen, supplimat ipsa necem:
Meiner zungen gib die kraft,
Ubern todt, daß hab sie macht.
Welches er auch glücklich erlangt; Mieche (sie) alsobalden die prob,
eilete zu dem verblichenen todten-cörper Latoma seiner holdschafft,
(welche die eifersüchtige Jnno umbs leben gebracht), berührt selbige
mit seiner zung. Et ecce und nemmet wahr! Jussa redire parat:
Sie lebt, steht auff, geht heim nach hauß,
Danckt ihrem mann schön überauß" s. 166.
II, s. 3 beruft der prediger sich suf Diodorus 6. buch und erzählt:
„Gandericus der Wandalische könig fragte einest bei einem panquoth
oder mahlzeit Socraten den weltweisen, was er darvon hielte, Avem ein
monarch, ein könig, ein kaiser, ein obrigkeit von füglichsten zu ver-
gleichen wäre? Auf welchs Socrates: Oculo; einem aug."
rKEDTfiTLITTEHATUR DES 17. .IIIS. 50
An iüinlichcii aiiacluduisincn und irtümorn fehlt es bei dvn cin-
g-efüg-ten „historien^^ nicht. So liest man 1, 1.7: „in der weltborühnib-
ten insel Ponto. in w(>lelier Cicero sein exiliuni und elend außst(;hon
niulJte^\ und I, 419 „Rosiniunda, könig Heinrichs in Engehindt ange-
hende ges])(>ns und braut, wie Aulus (iellius schreibt, l)rannte der-
massen in feuriger liebe aufV gegen ihrem gemael könig Heinrichen,
daß sie sich nicht gesclieuet, aiter und giff't auß seinen wunden mit
iln-eni eigenen mund herauB zu saugen usw."
Noch einige beisi)iele dvv Übertragung aus spiltern lat. gedichten:
„Mille annis jam peractis
Nulla fides est in pactis,
Mel in ore, verba lactis,
Fei in corde, fraus in factis:
Schon über tausent jähr man zehlt,
Daß man kein glaub noch trew mehr hält,
Sieß wort im nuind, doch lauter lug,
Im hertzen gall, im w^erck betrug." I, s. 295.
„0 felicem sortem
Talern occumbere mortem,
0 wie ein grosses glück
Bringt ein solch letster augenblick" I, 247.
„Wer sollte da nit billig auffspringen und mit dem newen poeten
weinendt singen:
Eheu! quid homines sumus?
Et pulvis et cinis et fumus.
Unser leben kürtzlich besteht.
Wie der rauch im wind zergeht" I, 369.
Dass hymnen und Sequenzen vom prediger benüzt wurden, ist
selbstverständlich. Jedoch gebraucht er dieselben seltener, als man
vormutet. Einige beispiele:
„Vagit infans inter arcta conditus:
Eingefätscht in windelein
Weint das kleine kindelein" I, 315.
„Loquens magnis parvulis
veritatis jaculis
aeque feriebat:
Allem z'gleich, arm und reich
Hat die warheit er gesagt.
Niemand gscheudt, alle gmahnt.
Blibc immer unverzagt" I, 431.
56
„Qui Paraclytus diceris,
Doniim Dei altissimi,
Föns vivus, ignis, charitas
Et spiritalis unctio.
Du wirst der tröster recht genant,
Ein gab vom hohen himmel gsandt.
Du bist die lieb, der brunn, das feur
Uns armen auff der weit zur steur" II, 115.
„Veni Creator Spiritus
Mentes tuorum visita,
Imple superna gratia
Quae tu creasti pectora:
Komb heiiger geist, erforscher der weit.
Besuche die gmüther, wies dir gefält,
Erfülle mit gnaden vom himmel herab
Die hertzen erschaffen durch deine genad" II, 122.
„Mors est malis, vita bonis.
Yide paris sumptionis
quam sit dispar exitus:
Todt und leben
Kan es geben
Beden eins zu gleicher frist.
Nutzt dem grechten.
Schadet dem schlechten,
Schaw, wie ungleich dises ist" II, 154.
„Sacra beato conjuge,
Sacratior e filia,
Nepote sacratissima:
Heilig ist sie durch den mann.
Höher bringts die tochter an.
Das größte lob doch ihr entsprießt.
Weil Jesus ihr enkel ist" II, 234. 238. 244.
„Ave maris Stella
Dei Mater alma:
Sey gegrüßt, o meeresstern.
Grosse mutter unsers herrn" s. 271.
„Ergo vivit, Nam adivit,
Aeternao vitae gaudia:
TREDIGTLITTEKATUK DES 17. .IIIS. 57
So lebt er (hinn Der seelig mann,
Weil gott ihm geben Das ewig leben'' II, 3(36.
Ähnliches I, 1 H>, II, 10l>, 149.
Das alte kirehenlied:
„Christ ist erstanden
Von seiner inarter alle
Deß sollen wir alle froh seyn,
Christus will unser trost seyn. Alleluia"
l)il(let den schluss der osterpredigt. II, s. H7.
Einigemal wird ein doutselier poet angeführt, /.. b.: ,Jch aber
beschließ es mit dem teutschen poeten, sag und sing dir also:
Mein rath will ich dir geben,
Bitt, sey mir nit entgegen.
Lieb gott mehr, als die weit.
Das bringt allhier die grösto freud
Und dort die ewig seeligkeit:
Laß die weit fahren
Bey deinen jähren'' I, 27 L
„Du bist anß jener leuthen zahl, von welchen der teutsche poet
singt: Yiel schmeichlen und liebkosen,
Sie reden zucker und rosen,
Seynd unter äugen gut,
Beynebens ist ihr hertz ein schalck,
Gefüttert mit dem katzenbalck.
So vorneu freundlich lecken
Und binden hecken" I, 297.
„Was der teutsche poet singt:
Wir streben auff der Avelt
Nach vilem gut und gelt,
Und wann wir solches erwerben
So legen wir uns nieder und sterben" 1, 373.
Der schlussvers lautet I, 375:
,,So fallen wii- nieder und sterben".
„Lingua Deorum! Das ist die zungen der götter! oder wie es
der teutsche poet vertiert:
Weil die himmel uns betrohen,
Ghorchen wir gar gern all.
Diese stimmen seynd vom hohen
Unser götter zorn — schall" II, 173 — 175.
58 ZINGERLE
„Auf gott und unser liebe frawen
Steht all meine hofthung und vertrawen:
singt der einfeltige teutsche poet" II, s. 269.
„0 schöne gottes hand,
Wie bist allhier zu land
So schmerzlich zu gedulden,
Ach, wie muß man so theur
In diesem strengen feur
Bezahlen alle schulden" II, s. 375,
wobei am rande steht: „Der teutsche poet in einem bekannten gesang".
„Die viertzigste predig. Am vierzehenden sontag nach pfingsten"
I, 362 — -67 schliesst mit den reimen:
„Mein rath will ich dir geben,
Bitt, sey mir nie entgegen:
Lieb gott mehr als das gelt,
Das bringt allhier grosse freud
Und dort dir ewig seeligkeit.
Laß gelt und gut fahren
Bey deinen jähren. Amen",
diawol dem prediger angehören. — Die reime:
„Yor geübt Macht beliebt" I, 436
und: vJuiig "^011 jähren Schön von hären,
Schmal von landen. Weiß von bänden usw." I, 437
sind vermutlich entlehnt.
Den alten spruch: „Trink und iß Gott nicht vergiß", ändert er in:
Trink und iß Gott vergiß.
Verschwitz deine ehr Dir wird nicht mehr"
um das lateinische: „Ede, bibe, lüde, post mortem nulla voluptas" zu
geben.
ObAvol Brinzing die meisten seiner historien und exempel der
bibel oder der mythe, legende und geschichte entlehnt, so bringt er
auch volkstümliche anekdoten und orzählungen bei. So z. b. II, s. 83
die bekante geschichte von einem besoffenen bauern, die man in
,„G. Görres und Fr. Pocci's festkalender " in versen findet. Am rande
steht: „Ein schöner schimpf von einem vollen bauern", im register:
„Philippus mit dem zunamen Bonus stelte einst einen lächerlichen
bossen mit einem bezechten bauern an. NB. ist ein gutes ostermährl.
Historia lepidissima." Ich gebe dies exempel volständig zur probe:
Philippus, mit dem zunamen Bonus, der gute, königliche gubernator
riiKDlGTLlTTEKATCK DES 17. .IIIS. 59
ul)cr die s|);mis<'lii' Xidci-hind , der hat ciiiost (.'inen lächerlich- doch
driikwiii'dii^cii schiinpIT anucstclll. Ks fände di(>ser hertzoi;-, als er (üiis-
mals hey srhoii anbrecheiider nacht heiiiib iiacher holT fahren woltc,
anfV der elfeniMi Strassen dort lii;'en einen toll, [)litz, |)lat/,, sternvollon
l)anr(M), \veK'lier mehr ttxlt als lebendig- /n seyn schine, wo ihn nit
(laß helle scdniai'chen noch eniptindtlieh zu sein veri'athen hette: volu-
tatns in luto ae serdibns, (juas \(»inuerat: sag'en die autheres: (>r sey
in d()[)])leteni koth und nin'ath ^■eleij;-en, theils in jenem, so die i^-asson
von sieh hiitte, theils in dem, so er Selbsten i^-omacht. Dison nun
b(>filcht der fürst, solle man als])ald auffheben, in ein caroschen wcrf-
W'n, und mit nacher hotf biüiii^-en: dictum factum: was der herzog
befohlen, das wui'd gehoi'sani liehst vollzogen, usw. Der gut toll- und
volle Hensa, kam nun nacher hoff, wie der Pilatus ins credo, wußte
aber so wenig von sich seibsten, als ein stock aufl" der gassen, man
müßt ihn aus der gutschen hellen, ihre vier die stiegen hinautf tragen,
und wäre vonnothen gewesen, man liätt darzu gesungen:
8chau Hensa schau!
Bist du nit ein sau?
Da trägt man (Tsau die stiegen auf!',
Wers sehen will, der schnauff und laufl':
Schau Hensa schau.
So bald nun dises newe hoffschwein (sit venia verbo), hal) wollen sagen,
diser noAve hoff'junker, doch seiner selbst unwissendt, in das zimmer
gebracht, Avürd er auß befelch des hertzogs außgezogen, säuberlich
gereingt, auff hochspaniscii, mit einem stolzen knöbelhart barbiert,
und also in dem allerscht'inst- und kostbahrlichsten zimmer deß gantzen
pallasts, in das herrlichste beth einlogiert. Es hat diser gute höffling
nit vil wiegens, noch zu singen gebraucht, dann, somno vinoque sepul-
tus, er schliefe so numter uund schnarchte so holdseelig, daß es
schine, auß der hoö'haltung war giUiling ein rauschendto schneidtmühl
worden. Jetz hört wunder! Zu morgens nit gar früh, sonderen in dem
die schöne sonn schon wol einen zimlichen zirkel ihres creises abge-
messen, und unser newer hoif-cavalier den rausch allgemach außge-
schlafi'en, da erwacht er endlich, sieht hin und wider, verkehrt die
äugen, als wie ein kalb im stattelbogen, verwundert sich nit wenig,
daß sein, sonst so harter strohsack, in ein so weiches federbeth ver-
wandlet; greift auff den köpft', und ziecht herab ein ülu'rauß kostbahre,
mit gold und perlein gestickte schlaö'hauben , trähts in den liäuden
oft'termahls herumb, Jean den handel nit genugsamb fassen, setzt doch
wider auff', und fragt sich seibsten voller frewden: sumne ego vel alius?
60 ZINGERLE
bin ichs, oder bin ichs nit? die kunstvoll- und überkostbahre vorhäng
an dem betli, der gantz pur vergulte himrael der bethladen, die schön
planiert nnd kunstlich außgemachte stöhlen und säulen machen ihn
allgemach glauben, er sey einmal kein baiu* mehr, sonderen entweders
in die zahl der götter mit der Minerva verzuckt, oder in einen könig,
wie Diomedes , verwandlet. Endtlich springt er voller frewden auß dem
beth, siebet noch mehr schönes an den tapezereyen, schillereyen , ge-
mählten usw. ünder andern aber einen Spiegel, der das gantze zimmer
gleichsamb in einem epylogo oder kurtzen begriff kunstlich repraesen-
tierte: vor disem stund nun unser Gouemier mit so begihrigen äugen,
daß er schine gar verzuckt zu seyn. Nichts aber auß allem, was er
darinn gesehen, gefiele ihm besser, als sein spaunischer hart, schrye
deßwegen nimmer zweifflendt, sonderen voll deß glaubens auft: Mein
aydt ich bins. Ja du bists, aber -was? der alt bauren Hensa, und
sonst gar nichts. Indessen, ex condicto & jussu principis, lieffen der
diener, der laqueien, der bagi, der edelknaben, der hoffjünkeren so vil
zu, daß das zimmer angefüllt wurde; einer brachte pantofel, der ander
hosen und wammes, der dritte kragen und handdezel, der vierdte etwas
anders; warteten dem frembden printzen nit änderst auff, als war er
ihr natürlicher herr und fürst: Aller aber reden und anbringen war
insgemein: sie erfrewen sich hertzlich, daß ihro durchl(aucht) die ver-
strichene nacht so süeß geruhet und so glücklich passiert hette.
Nach disem allem, in dem er angekleydt, der regierung nun
würklich sich undernommen, sagt Archimedes Christianus: so hab er
sich also maisterlich in den handel geschickt, daß mäuiglich hett glau-
ben sollen, er wäre ein gebohrner printz: tot felicitatibus beatus, tot
honoribus affectus, in aulä se habuit, non ut rusticus, sed ut heros
herum, ut eorum princeps: dann durch so vil gluckseeligkeiten groß
gemacht, und durch so vil ehreutbietungen angefrischt hat er sich zu
hoff nit als ein baur, sonderen als ein fürst eingefunden: bey der taf-
fei, nach der taflfel, under tags, ja die gantze zeit seine grandeza also
spaunisch spendieret, daß er bey sich selbsten , und alle, so deß spüs
unwissendt, vermeynt, ja geschworn hätten, hie est: der ists: allein
mit anbrechendem abeudt, under wehrendten nachtessen name auch sein
regiment ein endt: dann der hertzog Philippus in persohn, als andere
cavalier, so schon darzu underrichtet waren, deckten den guten bau-
ren, so der zeit einen regenten, wenigsts bey sich selbsten und seiner
einbildung nach vertretten, also mit trinken in dem allerkostbähristen
Avein zu, daß er, wie deß anderen tags, abermal plitz, platz, stern voll
worden, in jenes orth, wo er gestern gefunden, mit seinen alten bau-
PRKDIGTT.ITTEHATTIR DES 17. .7HS. 61
1011 kicxdcrcii i;('tr;ij;(Mi, in (l<'in kotli \(H-liel) iicliiucn inürßte, usw.
Dil lictt (hiiiii {\i'y spnl^ ein ciul, das regimcnt ,>;\vanii ein loch, der
hol!" war voller laclicns, und <l('i- t;iito l)aiir wußte ait wie vil es
ü,eschliii;vn, usw. Die cinhilduiii;' allein von seiner i^-eweseuon gluck-
seeliii'keit blibo noch in der ineinori, wie er aber dar/u und darvon
kunnncn, wußte er weniger, als der esel von der lauten.
Unter di^n vielen histurien und fabeln, di<' nicht fremd sind oder
verbreitet waren, kann ich nur folgende nennen: Historia faceta oder
liicherliche geschieht von einem doctor medii-inae mit siiiuem gumpeten
niaulesel 1, löl. Histori von dreien Studenten und einem teufel,
weicher ihren diener vertreten 1, 162. — Lustige histori von einem
Schalksnarren und seinem glückshafen auf dem reichstag zu Regensburg
1, 19(3; im zweiten teile: die weitverbreitete legende, wie eine kloster-
juugfrau sich die schönen äugen ausgestochen habe, um einen in sie
verliebten Jüngling von böser liebe zu heilen I, s. 300, die bekante
legende von Theophilus 11, s. 205, der eine ähnliche legende von einem
Jüngling in Kegensburg folgt s. 205. Von Skanderbegs säbel, der so
gut, dass er einen geharnischten mann entzwT^ien kihmen s. 170.
Unser prediger greift aber auch zu fabeln, um Sittenlehren zu
geben, so z. b. „Fabel vom kranken löwen, ehrabschneiderischem wolf
und dem lustigen fuchs" I, 205. „Fabel vom löwen, baren, wolf und
fucthsen, wie der fuchs sich hr>fflich entschuldigt, daß er nit in deß
Itiwen holen möchte" I, 859. ,, Fabel abermahlen vom löwen, büreMi
und fuchsen, Avie sie mit einander auf die jagt gezogen und den raub
geteilt haben" I, 393.
Für kulturgeschichte, alte brauche gibt der prcnliger auch einige
beitrage. So berichtet er über das „ bliudeniausen " (blinde kuh) fol-
gendes: „Das blindemausen macht mir den eingang! wer es nicht kann,
den will ich es lehren; merkt wol auf: beim blindemausen, welches
die kinder, die buben, die niägdlein, die Jugend vor all anderer kurtz-
weil gern treibt und oft spilt, da linden sich ein dreierlei Sorten der
leut und persohnen. Erstlich sein die zuseher, Avelche da nit mit spi-
lon, doch aber kurtzweil halber dem spil gegenwärtig seynd und zu
schawen: hernacher ist der jenig, weicher den blinden führt und mit
verbundenen äugen suchen muß; und letstlich seyn die, welche in das
spil gehören, mit machen, sich verbergen und suchen lassen. Wann
nun der gute tropf, welcher zum suchen verdampf ist worden, sein
ambt zu verrichten allgemach anlangt, hin und wider mit blind ver-
l)undenen äugen und außgespanten armben seine mitspiler suchet, so
muß er sich in der warheit nur zui' gedult richten, des zupfens, des
62
rupfens, des vexierens, des verlachens, des anfübrens ist kein end;
bald ertapt ibn einer beim armb, ein anderer beim haar, der dritte
beim küttel, der viert beim fuß, der fünft oder sechste anderstwo und
muß sich also nur darein schicken, biß er einen erwischt; under des-
sen aber hat er vil gefahren und elend zu gewarten, er stoßt als ein
blinder binden und vornen an, er lauft an stül und bänk, an tisch
und Öfen, an mauren und wand, ja büeßt so oft ein, daß ihme das
suchen verlaiden möchte, doch hilft nichts darfür, so lang und viel
muß er der sucher seyn, biß er endlich einen ertapt, an sein stell
brino-et und erlößt. Und was noch das ärgist und elendest ist, weil
nit alle im spil, die gegenwärtig, sondern theils leut auch nur Spec-
tatores und zuseher seynd, so bekommt der blinde tropf oftermals den
unrechten, ergreift einen, der nur zusieht und nit mitmacht, vermeint
der handel seye gewonnen, hebt ihn freudig stark, thut die larven
eilends herunder, aber spürt erst am end, wann er die äugen aufthut,
daß es gefählt ist; da lachen ihn alsdann auß seine gesellen und gespi-
len, seine mit-consorten und zuseher, mit einem wort, er wird zu
schänden, muß den spott zum schaden haben und entweders auf ein
newes vorthun und wider anfangen oder aber gar vom spil ausgeschlos-
sen seyn und hinder den ofen schlieffen. Dieß ist und heißt blinde-
mausen, ist also in diesem spil nit alles gold, was glantzet, nit alles
aigen, was man erhascht, nit alles gewinn, was man fangt". I, 167. 68 1.
Auf den totentanz beziehen sich I, 374, 375 die stellen:
„Du gehest aus oder ein.
So steht der tod und wartet dein".
„So komt der tod und heisst: Vade mecuni:
S'ist auß mit dir,
Komb her mit mir.
Leg ab den crantz
Zum todtentanz".
In der ersten predigt des zweiten teiles bespricht er neujahrs-
wünsche und geschenke und weist diese sitte schon bei den alten Rö-
mern und Cretensern nach. S. 2. Ausführlicher spricht er s. 222 fgg.
über das gesundheittrinken. (Am rande steht: „Vor alter hat man
auch schon dapfer gsundheit trunken" und er beruft sich auf den h.
Basilius, den hönigflüssenden kirchenlehrer Ambrosius und Augustinus
1) In ähnliclier weise beschreibt P. Conrad vou Salzburg das bliudemauseu
in einer predigt: Fidus salutis monitor (Salzbui'g 1083) s. 120. Icli habe die stelle
in meiner schrift: Das dentsclie kindersi)iol im mitt<dalter (Tnnsbruck 1873) s. 44
mitgeteilt.
rRKDUn'MTTF.RATl'H HES 17. .TKS. 63
den ii'i'ossoii), wie iib(>r die I u ftniMsfcr. Xiclit alle vci'stossonc eng(d
sind in di'i \u>\\. soiidcni deren \il sind hei nns in d<'r well, in dein
Infi" nsw. I, S'). S(». Aneh iilter die Sai; i tta ri i , die pt'eiiscliützen,
die mit hüte des tent'els InnseliieKeii nnd den eidt'ernfsten verwunden,
maeld er ^rt'issere mitteiluniz,' II, l.')7. Es sind dies die s(»i;eu;inteu
„treisein'itzen".
IJei (\('v so hiiuti^'en vorfiihrnnt;' von ansspi'ü(dien der apostel,
kirelienviiter und dichter nsw. hisst er es an riiinnliehen ej)itheta,
(h'i' antoren nicht fehlen, /,. I). „Der weltpivdi^-ei- l'aulns" 11, 1,
,,l)er ti'i'osse welt|)ic(lii;'ei' l'auius'' il, ',V.V,i. „ i\lath;ins, der joeheime
seci'etai'ius (h'r adei-heiHi^sten dreifaltii^-keif' I, "201. „Der hr)nigflie-
Mende Anihi'osins" 1, LJ79. „Der Iir)nigflieli5en(h' Dernardus" II, 74.
,.Daniel (h>r (JohltVoninie'' I, 4'J7. Auch die heidnisclien schriftsteHer
nent er niciit blind, sondern gibt ilnien ehrende bezeichnungen, z. b.
„Der römische wolrednei' Cicero", II, 1. „Der weise Seneca'' II, 'JO.
„Ovidius der poeten printz nnd JcTuiig" II, 401. „Der bei-idimte poet
nnd gewaltige reimendichtei' Martialis'' I, 191 usw. Esopns nent er
aber den „wunderbarlichen Eabelhans" I, 7(S.
Ein frisclies leben gewinnen diese predigten durch die anreden
an die zuliörer, mit (h'nen er manclunal gespräche führt. Die gewöhn-
lichen formein sind: „Werthiste zuhörer'', „Andächtige zuliörer'', „Liel)-
ste Zuhörer", „Herzliebste zuhörer", „Andächtige, außerwählte, aller-
liebste Zuhörer", „Außerwöhlte, andächtige Christen, allerliebste zuhöirer",
„Andächtige briider und Schwestern", „Andächtige hertzen", „Außer-
wehlte hertzen", Allerliebste hertzen". Eine stehende forinel ist „Ewre
liel) nnd andacht". Oft benent er aber auch seine zuliörer „sünder".
„Hast du es gehört, mein sünder?" I, 7. 11. „Da merkt auf, ihr Sün-
der und Sünderin, da spitzt ewere obren, ihr kinder der weit" I, 23,
vgl. I, 41. 67. 70. Er wendet sich aber nicht nur an seine zuhörer,
sondern in apostrophen an heilige und andere personen, z. b. „Holla,
weiser Salomon, ein andere gleichnuli her!'' I, 279. „Pfui dich, Da-
vid!" I, 317. „Aber holla, Pilate, gemach an, gemach an, wo liinauß?"
I, 432.
Zum Schlüsse noch eine probe: „Bey den durstigen zech- und
Saufbrüdern ist ein algemeines spricliwort, welches also lautet: Anse-
rum convivia sunt gratiora, das ist: Mit den gänsen ist es gut essen;
wollen sagen: gleichwie die gäns auf faiste waiden, langes gras, gutes
fueter und grüne beiden nit lieben, achten noch verlangen, es sey denn
darbey ein nasse pfütz, kühler bronnen oder wasserstrom, in welchem
sie ihre durstige zungen zum ofterinahlen befeuchtigen, al)k üblen, ein-
64 GOLTHER
netzen und laben können; also und auf gleiche weis lieben sie die-
jenige tisch, häuser, mahlzeiten, bruderschaft und Zusammenkünften
am eifrigsten, wa der weihbronner hier oder wein ist; wa der geseng
gott herr wirth ist, wa der schenk ein Juncker keller ist, und Ava der
trinkauß Jungfrau köchin ist. Mit einem woi't sagen die saufbrüder,
da ist es gut gast seyn, wo das tranks ein mühlrad treibt, wa der
trukne tisch abgeschafft ist, wa der gläser und kannen so vil auf
der tafel, als stund im sommerlangen tag" I, 150.
GUFmATJK. IGNAZ ZINGERLE.
KONEAD HOFMANN.
Am 30. September 1890 starb iii Waging bei Trai;nstein, wo er sich ia den
sommerferieu zur erholung aufzuhalten pflegte, K. Hofmaun, professor für altdeut-
sche und altromanische spräche an der Münchener hochschule.
Alberich Konrad Hofmann war geboren am 14. november 1819 in der ober-
fräuMschen Benediktiner - abtei Banz in der nähe von Bamberg. Sein vater war her-
zoglicher rentamtmann daselbst. In Banz inmitten einer schönen natur verlebte er
seine kinderjahi-e. In Bamberg durchlief er die 6 klassen der dortigen vorbereitungs-
schule in drei jähren und wurde 1830 ins gymnasium aufgenommen, das er 1837
absolvierte. Hofmann bezog zunächst die Münchener Universität, ohne sich über die
wähl seines künftigen lebensberufes völlig klar zu sein. Von 1837 — 43 hörte er
philosophische, medicinische, endlich philologische Vorlesungen. Durch Massmanu
imd Schmeller erhielt er die ersten anregungen für die germanische philologie. Nach-
dem er sich endgiltig zum Studium der philologie entschlossen hatte, besuchte er
Erlangen, Leipzig und Berlin. Er trieb namentlich orientalia, sanskrit, zend, ara-
bisch und palaeographie. Am 29. Januar 1848 promovierte er in Leipzig mit einer
abhandlung über eine upanishad; die dissertation wurde aber nicht gedruckt.
Im jahi'e 1850 — 51 hielt er sich in Paris auf. Die französische reise übte
eine nachhaltige wh'kung auf seinen ferneren studiengang aus, indem er hier zum
ersten mal dem romanischen nahe geführt wurde. Auf den bibliotheken lernte er
das französische mittelalter direkt aus den (quellen kennen, von denen er eine grosse
anzahl in eigenhändigen abschritten besass. Er kehrte nunmehr wider nach München
zurück. Schmeller nahm sich seiner an und gewann ihn für die universitätslaufliahn.
Noch wähi'end seiner aktlvität schlug ihn Schmeller der fakultät als nachfolger vor, indem
er selber von seiner professur zurücktreten wolte (vgl. J. Nicklas, Schmollers leben
und wirken s. 163 fg.). Der tod SchmeUers am 27. juli 1852 erledigte die stelle
rascher, als aUe beteihgten es gedacht. 1853 wurde Hofmann ao. professor an der
imiversität; 1853/54 war er zugleich als praktikant an der hof- imd Staatsbibliothek
tätig und benüzte diese zeit dazu, den von Schmeller so musterhaft geordneten hand-
schriftenschatz , vornehmlich den deutschen teil dui'chzuarbeiteu. 1853 wurde er
auch ao. mitglied der akademie der Wissenschaften zu München. 1856 erfolgte seine
ernennung zum ordentlichen professor, 1859 zum ordentlichen mitglied der akademie.
1857, 1858, 1859 machte er mit königlicher Unterstützung wissenschaftliche reisen
KOXRAD HOFMANN 65
nach Paris, London. Oxford, St. Ciallcn und liorn. nni Studien auf doni i;-el)ii'to der
gennanisflion und romanischen spraclien anzustellen (vgl. (j(^lehrte anzeigen der k.
bayer. ak. d. wiss. bd. r)0, ISüO. nr. 43 — 4G). In seinen vorlosungeu uinfassto er
anfangs ein sehr weites gebiet, indem er neben romanisch und germanisch bis J.SG4
auch iibiM' sanskrit und pahK^ographie vortrug. Am lü. Oktober 1860 wurde er ofli-
ciell nelten dem altdcutsclien auch mit der vm'tretung des altromanischen an der
^Iihichener hochschule betraut. ]5is zum Schlüsse des lezten sommer.scnK-sters hielt
er collegicni, und zwar jjllegte er meistens im Semester zwei grosse vierstündige und
zwei kleine, zwei- oder einstündige Vorlesungen aus beiden gebieten zu halten. iSTl
war er zum mitglied der königl. dänischen altcrtumsgeselschaft eriiant ■woi'den.
Aus llofmanns privatleben ist mitzuteilen, dass er sich ]S.")3 zu?n ersten male
v(M'mähIte mit Mario K'rause. der tochter des philosoi)hcn Krause. Siciben kinder
entsprangen dieser ehe, drei von ihnen giengen dem vater im todc voran. 1884
gieug Holmanu eine zweite eh(^ ein.
ITofmann cntfaltet(> namentlich in der ersten zeit seiner akadenüscben laufbahn
eine rege schriftstellerische tätigkeit. Von seinen toxtausgaben sind zu nennen Amis
et Amiles und .Tourdain di' Blaivies 18.')2; 2. aufl. 1882; <'iirai-tz de Txossilho ISöf) —
1857; Primavera y tlor de romances 1856 (mit Ferd. Wolf zusammen); .Toufrois 1880
(mit Munckerl; xrnvollendot blielien eine ausgäbe der (,'hanson de Roland nach der
Oxforder und Yenediger handschrift und Karls des grossen pilgerfahrt anglonormän-
nisch. kimrisch und englisch, beide im vorlag der k. bayer. ak. d. wiss. 1866, aber
nicht im liuchhaudel ausgegeben. Von deutschen texten fülire ich au das Hildebrands-
liei] 18.")0 (mit Vollmer); Lutwins Adam und Eva 1881 (mit Wilh. Meyer); unvollen-
det wider Reinaert de Vos nach der Brüsseler und Comburger handschi-ift. Zahl-
reiche textkritische und litterarhistorische aufsätze veröffentlichte Hofmann in den
Abhandlungen und Sitzungsberichten der Münehener akademio; in den Denkschriften
erschienen Giüllaume d'Orenge (abh. VI. 3. 18.ö2); ein katalan. tiere]ios von Ramon
Lull (abh. XII. 3. 1871); Zur textkritik der Nibelungen (abh. XIII; 1, 1872); Die
altburguudische übersetzimg der predigton Gregors über Ezechiel (abh. XVI, ], 1881).
i'ber Schmeller hielt er 1885 eine rede, welche in den Denkschriften der akademie
vom selben Jahrgang veröffentlicht ist. Schon früher hatte er in den rielehrteu anzei-
gen der akademie bd. 40, 1855 nr. 14 — 16 über des sei. Schmeller amtliche tätigkeit
an der k. Staatsbibliothek, und nr. 33 ülier Schmellers litterarischen nachlass bericli-
tet. Von Schriften Hofmanns, welche der geschichte, nicht der philelogie im engeren
sinne zufallen, nenne ich <^?uellen zur geschichte Friedrichs des siegreichen, bd. I
Matthias von Kemnat und Eikhart Artzt; b. II Beheim und Eikhart Ai-tzt, erschienen
in den Quellen und erörterungen zur bayer. und deutschen geschichte II u. HI 1862
und 1863; dann das Spruchgedicht des Hans Schneider über Ulrich Schwarz von
Augsburg in den Sitzungsberichten der akad. 1870 I. Nelien diesen grösseren arbei-
ten, deren blosser titel ohne weiteren kommentar bereits wol ein genügend deutliches
liild von Hofmanns Vielseitigkeit und weitumfassenden Studien gibt, laufen noch viele
kleinere artikel her, die in den Gelehrten anzeigen und Sitzungsbei'icliten der akade-
mie, in VoUmoellers Roman, forschungen, in der Zeitschiift für deutsches altertum
usw. A'eröffentlicht wurden. Ein Verzeichnis dieser oft sehr wertvollen schritten findet
sich im Almanach der königl. bayer. akad. d. wiss. für das jähr 1884 s. 192 fgg.
Bemerkenswert ist noch Hofmanns rede über die gründung der Wissenschaft altdeut-
scher spräche und litteratiu", erschienen im vorlag dm- akad. 1857.
ZKITSCHRIFT F. DEUTSCHE PHILOLOGIP:. RP. XXIV. 5
66 OOLTHKK
An Hofmanns textkritisclion arbeiten wird sein Scharfsinn in entzifferung schwie-
riger handschriftensteilen und bei herstellung des verderbten Wortlautes gerühmt. Bei
seinen litterargeschichtlichen Schriften gab ihm seine ausserordentliche Vielseitigkeit
und seine grosse belesenheit oft die mittel zur erklärung der quellen fast spielend an
die hand; namentlich besass er eine eingehende kentnis der realien des mittelalters ;
er kante genau diejenige litteratur jeder gattung, welche im mittelalter verbreitet
war. So gelang es ihm denn auch, manche verdeckte anspielung in den denkmäleru
aufzufinden und zu erläutern. Ganz besonders zeigte sich dies bei seiner erklärung
Wolframs von Eschenbach, der ihm unter den alten dichtem der liebste war. Das
veiii'autsein mit dem altfranzösischen einerseits, mit den algemeinen mittelalterlichen
Verhältnissen in allen ihren zweigen andererseits sezte ihn in stand, das geistige
leben Wolframs, seine seltsamen Umformungen und Verarbeitungen der ihm zu gebot
stehenden und von seiner zeit dargebrachten wissenschaftlichen kentnisse zu verstehen
und zu deuten. Leider nur hat Hofmaun gerade von seiner Wolframforschung fast
nichts veröffentlicht. Ein hauptsächlicher vorzug seines Schaffens liegt überhaupt
darin, dass er bei der erklärung der alten denkmäler sich ganz und gar in die zeit
ihrer entstehung zurückzuversetzen vermöchte und demnach vermöge seines reichen
Wissens auch alle die verschiedenen einüüsse, unter denen das wei'k möglicher weise
gestanden haben könte, rasch und sicher zu bestimmen wüste. Hinsichtlich derKyot-
frage glaubte Hofmann entschieden an eine reine fiktion Wolframs, dem seiner mei-
nung nach nur Christians unvollendeter Perceval vorlag.
Einer Zersplitterung der kräfte, einem blendenden geistreichen vielwissen redete
Hofmaun durchaus nicht das wort; er wüste sehr wol die grenzen zu bemessen, über
die ein einzelner nur schwer hinausgelangt, und im hinblick auf ein tiefes gründliches
wissen, auf eine selbständige kritik des forschers schien ihm die teilung ins mittel-
alter und in die neue zeit als eine notwendige. Dagegen selten bei einer arbeits-
teilung nun auch auf dem einzelnen gebiet die weitesten anforderungen ihre erfül-
lung finden. In diesem sinn verlangte er namentlich vom deutschen philologen mit
entschiedenheit eine selbständige kentnis des romanischen, insbesondere des altfran-
zösischen; denn ohne diese sei ein richtiges urteil in Sachen der mhd. litteratur-
geschichte schlechterdings unmöglich. Die Vereinigung der altromanischen und alt-
germanischen Studien, insbesondere die klarlegung der Wechselbeziehungen zwischen
den führenden germanischen und romanischen Völkern im mittelalter war sein
lieblingsgedanke, für den er besonders im colleg mit grosser wärme eintrat; er ver-
stand es auch, dem schüler und hier wider insbesondere dem germanisten die richt-
punkte aufzustellen, nach denen man zumal unter seiner leitung in kurzem sich
zurecht zu finden vermochte. So wie Hofmann es meinte und betrieb, war die Ver-
einigung des altromanischen und altgermanischen keine Zersplitterung der Studien des
einzehien, keine ausbreituug und Zerstreuung des wissens in die weite, sondern eine
durchaus einheitliche harmonische Vertiefung, eine von den tatsachen gebotene for-
derung.
Hofmanns wissenschaftlich - schriftstellerische tätigkeit findet ilire notwendige
ergänzung in seiner lehrtätigkeit. Nicht allein in den Vorlesungen, die er frei imd
ungezwungen, oft humoristisch und drastisch, wie es der augeublick gab, zu halten
pflegte und in denen er sich an kein festes thema band, sondern auch im gespräch
kam stets seine ganze volle Individualität zum ausdruck, dem einzelnen gegenüber
ebenso wie im kreise seiner schüler. Wer ihn so aus seiner lehrtätigkeit oder aus
persönlichem Umgänge kennen lernte, der konte lebhaft bedauern, dass Hofmann als
KONRAD IIOFMANX 6?
Schriftstolli'i' y.n keinem urösstnvii . systeiiiatiseli aiiuclenten uml uusf;-enilirteii werke
gekomiiieii ist, wie viele themata er aiieh, uml zwar liäufiii' von ganz neuen gesidits-
jiunkten aus, lichtvoll lieiuuulolt hat. (jerade liei seinem umfassenden wissen hätte
er etwas bedmitendes und grosses leisten kdmien, wenn er einmal halt gemaehl und
die orgelmisse soiner lorschung methodisch dargestelt liättu. Wir meinen damit
nameutlich t'Uie grössiMv^ littorai'geschiehtliehe arl)eit, di(> ersdiriplend einen gencm-
stand. sei es nun einen zeitalisehnitt oder eine bestimte piTsitnlichkeit i)eiiandelt hätte.
Seiu geuialer eigenartiger gedankenreiclitum wäre dann zur klai'en oljjektiven verai'-
beitung gelangt. Aber dal'ür hat llofmami manche schöne wichtige; uidernehmunt:
anderer angeregt; ich neiuie hier nur die ausgäbe des Christian vou Troies dundi
Foerster. welche aut llofmanus veranlassung und zum teil untiir seiner persönlichen
mitwirkung entstand.
AVer, wie ich selb>t, llofmann erst in seinen lezten jähren kennen gelernt liat,
dürfte schwerlicli mehr eleu vollen eindiaick sidner bedeutung für die Wissenschaft so
recht empfangen haben. Zwar seine regsamkeit und frische hat er auch in seinen
alten tagen nicht eingebüsst; aber ich stelle mir sie noch ganz anders voi- in den
Jahrzehnten, in welchen er eine so ungewöhnlich fruchtbare und vielseitige schrift-
stellerische tätigkeit entfaltete untl überall selbständig in das werden und wachsen
der Wissenschaft eingriff, ja oft selbei- den fortschritt hervorrief. Hofmanns neigung
war mehr aufs greifbare gerichtet; die quellen, ihre Verfasser, ihre zeit kante er
durt/h und durch. Weniger sagten ihm rein sprachwissenschaftliche Studien formaler
art zu. Zwar etymologie und worterklärung liebte er uml war mitunter glücklich
darin; doch den Sprachstudien, wie sie in den arlieiten der jüngeren generatiou
hetiieben w^erden und umgestaltend auf die alten theorien wirkten, stand er fernei-
und hat sie nicht mehr mittätig begleitet.
Den begriff der „schule" hat Hofmaim strengstens verpönt Er liess der freien
Individualität seiner schüler stets ihren lauf und suchte nur durch geistige anreguno-
auf sie einzuwirken. Auch verlangte er keineswegs ein jtirare in rerha magistri:
eine von seiner eigenen abweichende ansiclit eines schülers hat nie eine feindselige
gegnerschaft zur folge gehabt. Sein Wahlspruch war, wie er oft es aussprach: nrioii
cognoscere causas.
Mit Hofmaun gieng wider einer jener männer dahin, welche an die germa-
nische und romanische philologie in ihrer frühzeit herantraten, ihren gewaltigen auf-
schwung miterlebten und mit ihm gross wurden. Stets werden beide disciplinen
dankbar und mit Verehrung Hofmauns namen unter ihien ersten Vertretern nennen.
MÜNCHEN, OKTOBER 18'.)0. WOLFGANa GOLTHER.
LITTEEATUE.
Grundzügo der Schriftsprache Luthers. Versuch einer historischen
grammatik der Schriftsprache Luthers von dr. €arl Frniike. Gekrönte
preisschrift. (Separat -abdruck aus dem Neuen Lausitzischen magazin bd. LXIV.)
Görlitz, E. Römers buchhandlung. 1888. XV und 307 ss. 8.
Vorliegende Untersuchung ist der erste versuch c'iner umfassenden darstellung
der Sprache Luthers; in drei teilen behandelt der Verfasser die laut-, wort- und
Satzlehre; der erste teil enthält auch einen abschnitt über die rechtschreibung.
5*
Der Verfasser hat ein reiclios r|nellenniaterial bennzt und ist bei der ausbeutung
desselben mit grosser besonnenheit zu werke gegangen. In lezter bezieliuug sucht er
sich in den einleitenden paragraphen mit der Stellung des Luthergrammatikers sei-
nem quellenmaterial gegenüber auseinanderzusetzen, und komt dabei im § 6, 2 (s. 8)
zu dem resultat, dass für die „ feststellung der laut- und formenlelu'e sowie der
rechtschreibung Luthers" sowol seine manuscripte als die drucke seiner Schriften zu
berücksichtigen, von diesen aber imr Wittenberger, von Luther selbst besorgte aus-
gaben, zu benutzen seien. Von den beiden genanten arten der überliefeiTing bieten
jedoch dem Verfasser die drucke, soweit von diesen anzunehmen, „dass Luther ihre
koiTektur gelesen" (s. 3) ein zuverlässigeres bild für die grundsätze der Schreibweise Lu-
thers, als seine manuscripte; denn in diesen seien unzweifelhaft Schreibfehler vorhanden,
die Luther „später auf dem korrekturbogen berichtigt oder deren berichtigung er
wenigstens gebilligt" habe (s. 2). Den korrekteren gesteht Franke nm- ein allerbeschei-
denstes mass von einfluss auf die gestaltimg des textes zu; mehr vielleicht noch im
anfang von Luthers schriftstellerischer tätigkeit, aber spätestens von 1524 an habe
Lutlier durch jene bei Christoph Walter [i. j. 1563!] erwähnten „schärferen anwei-
smigen" diesem einfluss em ende gesezt, so dass von dieser zeit an „eine genaue
koiTcktur der von Luther selbst besorgten ausgaben durch ihn oder docli nach mit
ihm vereinbarten grundsätzen anzunehmen, und ihrer Schreibweise vor derjenigen der
manuscripte der vorzug zu geben" sei (s. 3). Franke tadelt hierbei Dietz und Wülcker,
die den korrekteren und setzern einen grösseren einfluss auf die gostaltung des tex-
tes beimässen. Aber der einfluss der drucker und korrekteren bleibt trotz Fraukes
gegenteiliger ansieht auch nach 1524 bestehen. Ich will nur einen fall herausgreifen.
Im Anz. f. d. a. XV (1889), s. 332 fgg. hatte ich in dieser beziehung einige bemer-
kungen über die anwendung der umlautszeichen in Wittenberger drucken Lutherscher
Schriften gemacht. Ich hatte dort auf die grossen Inkonsequenzen, die sich nicht nur
in den dnicken verschiedener officinen gegen einander, sondern auch in den drucken
einer und derselben officin unter sich finden, bis zum jähre 1525 einschhesslich hin-
gewiesen. Doch auch nach dieser zeit dauert die Unsicherheit fort, ja sie erhält sich
bis in Luthers lezte lebensjahre. Wenige beispiele mögen dies zeigen. Nickel
Schirlentz druckte im jähre 1541 die „Vermanuuge || zum Gebet / || Wider den ||
Türeken. || Mait. Luth. i| Wittemberg. 1| MDXLI. — Am ende: Gedrückt zu Wit- || tem-
berg / durch 1| Nickel Schir jj lentz. Anno || M. D. XLI." und widerholte denselben
di-uck im folgenden jähre: „. . . M. D. XLII. — Am ende: Gedruckt zu Wit- || tem-
berg / durch || Nickel Schir- |1 lentz. Anno || M. D. XLII." Beide drucke stammen
also aus der gleichen officin. Hier findet sich nun — die angäbe der stelle bezieht
sich, wo nicht ausdrücklich anders angegeben, stets auf den erstgenanten druck;
länge und kürze der vokale sind, weil für den vorliegenden zweck unnötig, nicht
geschieden — gülden in dem ersten druck (Bj^) gegenüber gfdden in dem zweiten,
furchten (Biij* zweimal, Bäj"") gegenüber fürchten, in funden (Biij*') gegenüber in
fihiden, muffen (Bilij*") gegenüber muffen, und umgekehrt erxürnet im ersten druck
(Aij") gegenüber erxurnet im zweiten, erfüllet (Aij'') gegenüber erfüllet, fcMildig
(Biiij'') gegenüber fchiddig; ferner können (Bij'') gegenüber können. Das schwanken
findet sich aber auch im texte eines und desselben druckes. So steht in dem zwei-
ten druck erfüllen (Aij^) neben dem oben erwähnten erfüllet, müffe^i (s. o.) neben
muffen (Aiiij^), fürchten (Bij "^ Bij »•) neben furchten (Bij"), vnfcMddigen (Biij '^)
neben fchuldig (s. o.). In beiden ausgaben schwankt die Schreibung des woiies gül-
den (1541: Bj% Bj'' dreimal; 1542: Aiiij'' dreimal, Bj'' zweimal) neben guldeii (1541:
ÜHKH KHANKK, UKAMM. IJEK SI'JIRIKTSPKACHK LUTHERS 69
Bj" l>j''; ir)4L': Aiii.j") usw. Aüurdiii'^^s inusV liL'UH'i'kl, wcrdi'ii, dass von don liinr
ilborhauiit in betnu'ht- kDinincndcii würtern du; weitaus iilx-rwie^ciido an/.ahl mit
uiiilautszciclH'ii versohou ist. Viel nierlvwürdij^^er unteiselu'ideii sicli zwvi dru< ke aus
der (iffieiii des ,Iosei)li Klu-: .,Vormaimn^- an Ij die IManher inn !1 der Supcratten-
dentz der li Ivirehen zu Wittern- |1 Ijerg. P Anno 1513. — Am ende: (iedruekt zu Wit-
temhcr-? / Duri'li .Joie]ili H Klug. Anno M. D. XLiij." und „. . . Anno. M. D. XLlll. —
Am ende: »iedruekt . . .'", also beide im jähre 1543 gedruekt. Wähi-end in dv.m ersten
dieser drueke die umlautszeiclien durchweg auwcndung fuidm. leiden sie in dem zwei-
ten ül)orwiogend häufig. leh lulirt! folgende beispiele an: Kiirffirfl im ersten druck
(Aij") j:^egpmihvv Kio-f/o-ß im zweiten (dagegen in beiden drucken i'V^r/i'c/i Aij'^ Aii.j''),
m/'iffcn (Aij'^ Ai.j'' Aiij") gcgenübei- vinffcn, Tiirck (Aij'') gegenüber Turck, Tiirrkeu
(Aij'' dreimal, Aiij^' zweimal) gegenüber 7>(!/t/,y!« (dagegen iu beiden drucken 7K/t/.-^/j
Aij" zweimal), ftiicl.- (Aij'') gegenüber ftiick, Sünden (Aiij") gegcnüljcr Sundrn , cnt-
frliiUiliiit (Aiij'') gegcnülier cntfcliiddigt , (jcdrücU (impressus, Aüj'') gegenübei- (7c-
dmclä; t'erncr huren (Aij" Aij*") gegenüber hören (dagegen in beiden drucken hören
Aiij''). auff hören (Aiij") gegenüber auffhoren, hofen (Aiij") gegenüber bofen, vujch-
tcn (Aiij'') gegenüber mochten, können (Aiij") gegenüber können, schliesslich ver-
mofjcns (Aiij") gegenüber rermuijens. Auch Hans Lufft, der, wie ich a. a. o.
s. 334 gezeigt habe, im jähre 1524 noch sehr selten, aber schon im jähre 1525 über-
wiegend die Umlautszeichen zur anwendung brachte, schwankt noch später, wie dies
iieispielsweise die im jähre 1539 in zwei autlagen aus seiner presse hervorgegangene
Schrift Luthers „Wider|| den Bifchoff zu||Magdebm-g|lAllirecht Car-||dinal.!|D. Mar. Luth.||
1539. — Am ende: Gedrückt zu AVit- 1| temberg durch j] Hans Luift. || M. D. XXXIX. "
(titel und Impressum beider ausgaben stimmen in der beschreibung überein) ersehen
lässt. Es findet sich hier z. b. wurde im ersten druck (Bij") gegenüber ivürde im
zweiten (dagegen in beiden drucken mirde als conj. prt. Diiij"), ^cfunder (Aiij'') gegen-
über (jefimder (dagegen in Ijeiden drucken r/e//^/?f/er Cij '') , fchuldig (Diiij") gegenüber
fchiddUj; umgekehrt Ä'o«/r/ (Aiij" Aiiij") gegenüber A'o«««/ (dagegen iu beiden drucken
Konige Aiiij"), können (üij'') gegenüber können (dagegen in beiden drucken können
Diij* Diij'' Düij"). An Schwankungen im texte eines und desselben druckes — und
zwar finden sich diese beispiele jedesmal in beiden ausgaben — führe ich nur noch
an fehuldirj (Aij" Aiiij '^ Düij'') neben [ch fddig (Bij''), fchoii (pulcher, Aiij") neben
Schone (Aiij''), gehört (Bij"), cniierhort (Diiij") neben ^eÄoW (Ciij") usw. Man sieht,
auch Hans Lufft schwankt noch lange; aber doch gehören diese Schwankungen bei
ihm mehr und immer mehr zu den ausnahmen gegenüber der anwendung des umlauts-
zeichens. und es hat, soweit ich sehe, allerdings den anschein, als ob dieser drucker
sich zulezt in der tat zu fast konsequenter durchführung der umlautszeichen auf-
geschwungen habe. Alle hier sowol wie früher a. a. o. berücksichtigten drucke sind
derart ausgewählt, dass sie die möglichste gewähr für Luthers eigene korrektur oder
w^euigstens für den energischsten einfluss seinerseits auf dieselbe bieten. Und da
hiesse es doch in der tat das sprachliche wollen des reformators einer bedenklichen
beleuchtung preisgeben, wolle man annehmen, dass alle diese Schwankungen unter
seiner ausdrücklichen gonehmigimg in den druck gelaugt seien. Dieser Schwierigkeit
für die erklärung der schwankenden umlautsbezeichnung war sich auch Franke
bewust; aber er hilft sich daraus, indem er meint (s. 8), „dass Luther sich nie
recht klar über den umlaut geworden'' sei, und dass er erst „wol nach dem vor-
gange der noidostthüiingischen kanzleien und einiger AVittenberger druckereien, wie
der von Grunenberg, Schirlenz und Hans Lufft, die umgelauteten formen für- gemein-
70 LDTUER
deutsche bestandtcilc" gehalten habe. So wenig nun ein diesbezüglicher einfluss der
drucker auf die autoren im algemeinen geleugnet werden soll — er muss im einzel-
nen fall immer erst nachgewiesen werden — , so müste es doch auffallen, dass Luther
sich erst so spät jener erkentnis erschlossen hätte, die umgelauteten formen seien
„gemeindeutsche bestandteile " ; denn die oben beigebrachten beispiele stammen aus
den Jahren 1539 bis 1543. Vielmehr wird nach alle dem auch Franke sich der
anerkennung jener tatsache nicht verschliessen können, dass die drucker auch ohne
Luthers genehmigung den text, — sei es unabsichtlich, sei es in ihrem buchhänd-
lerischen Interesse — wilkürlich änderten. Ausführlich bespricht diesen gegenständ
F. Kluge Von Luther bis Lessing (Strassbui'g 1888) s. 54 fgg. Nicht zum wenigsten
macht gerade dieser umstand die darstellung der spräche Luthers wie überhaupt
sprachliche arbeiten über jene zeit so schwierig.
Verfasser nent seine grundsätze einen „versuch einer historischen grammatik
der Schriftsprache Luthers", und sucht diesen zusatz durch widerholte heranziehung
sowol des mhd. und md. als des nhd. zu rechtfertigen. Die vergleichung mit dem
mhd. resp. dem md. führt der Verfasser zwar im algememen, aber nicht konsequent
durch, mid mit dem aufhören dieser vergleichung hört auch die historische darstel-
lung auf; denn eine Schilderung des Verhältnisses zum nhd. ist für eine historische
grammatik der Schriftsprache Luthers nicht erforderUch. Auch muss eine darstel-
lung der spräche Luthers als grundlage stets den sprachstoff, wie er sich in den
Schriften des reformators bietet, betrachten, und darf erst von diesem aus zu einer
vergleichung mit dem stände der deutschen spräche in einer anderen periode schrei-
ten. Aber auch dieses geschieht bei Franke nicht. Er verfält vielmehr in den lei-
digen fehler der meisten bisherigen Luthergrammatiker, welche die spräche des refor-
mators im algemeinen mit dem nhd. identificieren , ihr wesen daher im algemeinen
als bekant voraussetzen, und nunmehr sich ledigHch auf die herzählung von abwei-
chungen beschränken, ein fehler, der dadurch nicht an härte verliert, dass Franke
auch ältere sprachstufen zur vergleichung heranzieht. So gibt Franke z. b. folgende
darstellung von dem vorkommen des kurzen * bei Luther: 1) kurzes i bei Luther,
dem mhd. entsprechend, für nhd. ?Y, auch nhd. ie (§ 26), 2) kurzes i bei Luther,
dem md. entsprechend a) für mhd. kurzes e in stamsilben (§ 27) und in bildungs-
und flexionssilben (§ 28), b) für mhd. km'zes ü (§ 29). Für eine Luthergrammatik
historischen Charakters, wie sie Franke beabsichtigte, muste die frage vielmehr so
gestelt werden: in welchen fällen findet sich bei Luther kurzes i 1) in Überein-
stimmung mit dem mhd., 2) abweichend vom mhd. a) in Übereinstimmung mit dem
md., b) event. weder aus dem mhd. noch md. stammend. Erst dann hätte das nhd.
unter 1. anmerkungsweise herangezogen werden dürfen mit der bemerkung, dass in
einigen dieser Wörter, die im mhd. und noch bei Luther kurzes * haben, im nhd.
ie oder auch ü eingetreten wäre; ebenso hätte dann aber auch unter 2a. hinzugesezt
werden können, dass diese wörter mit i bei Luther = md. i = mhd. e auch
im nhd. e hätten. Noch etwas bedenklicher ist die darstellung des kurzen e. Sie
wird folgendermassen durchgeführt: 1) kurzes e bei Luther, entsprechend mhd.
kurzem e, für nhd. ö (§35), dasselbe für nhd. *, vielleicht auch nhd. e (§ 36).
Dann komt als nr. 2) der § 37 mit einem e, welches nach der ansieht des Ver-
fassers im mhd. gar nicht, bei Luther nur- „erst in spärhchen spiu-en", wohl aber
im nhd. in ausgedehntem masse vorhanden ist; es ist dies dasjenige e, welches
sich zwischen den diphthongcn ei au eu und r in nhd. Wörtern wie feiern mauer
feuer u. dgl. findet. Darauf folgt 3) kurzes e bei Luther = md. e = sonstigem *
l'BKK FRANKE, (iK'AMM. liKK S( lIRII'TSl'KArllK LITIIERS 71
(jj US), mul als iinhaii.!;' liiiTzu i'iiic viM'Wci.siiiig für tUi> umlauts-r auf ilic dar-
sU'lluiii;' lies kui'/A'ii a. Dio aiiortinuiij;' kmitc kaum luilopscliur ^clroireii wcnlcii.
Audi liior liättt! zuiiäehst r hi'i IjutlnT nilul. r hotracliti't wi-nlon iniisseu. uiitcr-
aliti'ilungcn wiiivii ilalur ald's <■ urnl uinlauts-r uvwcsi'ii ; lici ilcin Irzii'ii. für wol-
clu's ;iucli Sil rino vcrwcisuHij; auf iliu ilarstvllunt;' iIcs Umlaufs wünli; t^vuiitit lialiuu,
hätte wie äliulii'li iilicu licim / zusat/.wcisc dir imtiz |ilatz liuilcn kimncu, dass oiiiiji:e
diosiT Wörter iiu nlid. ö lialieu. denn im prinei]! hat nur das umlauts-r diesen ühci'-
i^aiii;' erfaiiren. I'aul ,Mhd. .i;r.'' >; '-'7. 1 führt allerdim;s au<-h mhd. itH'siIiiii und
Irirc. alsi» zwei heispieh' mit altem ;■'. fiir den ülier;^an,n in i'> an; aher diese kennen
inejit, als heweismitt(d i^e^en die ursiniiniilielie lii.'selir;inkun,i; dieses xokulwandi'ls auf
das uinlauts-r' gelten, da mhil. I'i'in' ^owol als iehnwnrt als aueii we.i^cn di^s dciui r UA-
,i:vnden ir eine Mini|erst('llunn- eimnmt. Ihm crlrsi-lnii da,t;'e;;(.>n nui- i'ine vermiseluing
mit dem frans, mhd. Iisdicti . weleiies undaufs-r hat, ein.L;i>tivten ist; vt;!. für den
lezten fall autdi (irimm llW'h. VI. sp. 1177. An diese darsfellun^ des c bei
J>uthei' mhil. (■'. c hätte sieli dann zunächst die des r hei Luther md. c =
soMstij^em / am rieht i.usten an^esehlossen, und ei'st luunmdii', fals P"raid\'eH ansieht
riejitiu ist, der iidndt des ij :!7 nut einem c liei LutlieT, w(dehes im mhd. iiecli nieht
\(irhanden izewoen. si'iniMi platz ;j,efandi.'n. AImt dies leztLi'enanti' r war auch sidion
ndnl. vnrhauden, v,uL z. h. AN'eiidiiilil .Mhd. i,n-. -' i; f'J'.l, und es hätte somit in die
erste untorahteilung des kurzen r hei I>uther gehört, wenn diese ersehcinung üher-
liauiit au dieser steUe liesendfus hervergehdlien werden selte, und nicht vielmehr,
wie auch Weitdiold das a. a. o. getan, riehtiger liei den diplitlnuigen, oder gar bei
den liijuiden. denn mir dureji (h^i eintluss der lozteren, im vorliegenden falle des r,
ist diese „zerdehmmg" eingetreten, hätte erwähnt werden müssen. Weiterhin fmdet
das kurze a hei Luther üherhaujit nur erwälmung, insofern e.s =^ md. a ist und ent-
weder mhd. kurzem '/ l§-il) "der sonstigem r (§ 4'J) entspricht, nehst hinweis auf
unterhleilien des umlauts. In ähnlicher weise geht es liei di.'r darstellung des voka-
lismus fort. Den diphthongen widmet Franke allei'dings einen einleitenden Paragra-
phen, in wehdiem er erwälint. dass sie entweder schon aus dem mhd. stamten oder
aller (Mst durch diphthongisierung alter längen entstanden wären, gibt indessen für
die lezteix' erseheinung nur wenige, abei' sehr wenige, bidege aus Luthers Schriften,
während die erstere allein für mi. liei Luther (= mhd. oii) lielegt winl. Bei der
folgenden einzelbesprechung der di[ihthonge treten dann jene olieu gerügten mängel
der darstellung nur um so krasser hervor.
Was in dieser bezieliung über den vokalismus gesagt ist, gilt in voller aiis-
dehiumg auch für die darstellung des k<jnsonautismus.
Etwas anders liegt die saehe für Luthers wortseliatz. Bei diesem kijnnen sieh
die „grundzüge'" allerdings eher auf die dai-stellung gewisser differenzen, die der Ver-
fasser im § Ljlj näher liezeichnet, beschi'änken, da hiei- die lexikographie in ihre
rechte tritt.
In dem abschnitt über Wortbildung (ii§ 141 — 17(1) wird zwar sowol in dem
einleitenden paragraphen (§ 141) als auch sonst widerhelt dos mhd. geda<;ht, aber
das nhd. muss gar oft als alleiniges vergleicliungsoVijVdit dienen, z. l:i. in den §§ 142.
144, 1. 3. 14G, 1. 154. 155, 2—4. 1.56 — 00. 163 usw. Häufig felilt auch diese ver-
gleichung; und das würde einer objektiven darstellung immer noch näher kommen.
Dagegen führt der Verfasser in dem nun folgenden abschnitt über „wortbie-
gung'' usw., §§171 — 252, dio vergleichung mit dem mhd. ain konsequentesten durch.
Nur ganz vereinzelt, wie im §244 bei der darstellung des riu:k umlauts oder im § 251
72 LDTHER
bei der besprecliuug des gebrauchs von „haben" und „sein" ziu' bildung des perfekts
und Plusquamperfekts, vergisst er auch hier das mlid. heranzuziehen und beschränkt
sich auf eine vergleichung mit dem nhd. Einen besonderen vorzug verleiht der Ver-
fasser diesem abschnitt namentlich vor der darstelhmg der lautlehrc dadurch, dass
er hier auch die regel bei Luther zu worte kommen und ihr in der aufsteUung von
paradigmaten (§§ 175. 179. 180. 198. 212. 235) gerechtigkeit Aviderfahren lässt.
Warum, was hier getan, nicht auch in der lautlehre durchführen, die doch gewiss
dasselbe recht darauf hat?
Die Syntax dagegen muss sich wider an einer ganz minimalen berücksichtigimg
früherer Sprachperioden genügen lassen, trotzdem gerade hier die vom Verfasser so
sehr betonte Volkstümlichkeit der spräche Luthers durch solche vergleichung hätte
interesse bieten können. Ein um so grösserer räum ist dafür der vergleichung mit
dem nhd. zu teil geworden, häufig wider so, dass nur die zwischen Luthers spräche
und dem nhd. vorhandenen differenzen in der darstellung platz gefunden haben.
Selbst da, wo Franke sich hauptsächlich auf die darstellung des Lutherschen Sprach-
gebrauchs beschränkt, ohne vergleichung mit dem sprachstand in früherer oder spä-
terer zeit, findet man gelegentlich nur ausnahmen erwähnt. So enthält das vieiie
kapitel der syntax (§§ 271 — 280), in welchem nur ganz vereinzelt in den §§ 277.
278. 280 das nhd. verglichen wird, die „abweichungen in der Übereinstimmung
der abhängigen sazteile im numerus, genus und kasus", und zwar die abweichun-
gen von der regel innerhalb des Lutherschen Sprachgebrauchs; aber von der regel
selbst, die doch gewiss auch einen ansprach auf berücksichtigung hat, finden wir
keine spur.
Ein Vorzug des buches ist es dagegen, dass der Verfasser der rechtschrei-
bung Luthers eine von der des lautstandes grundsätzlich gesonderte darstellung
zuteil werden lässt; denn die nichtbeachtung dieser Zweiteilung ist auch eine von
den Sünden, der die meisten Luthergrammatiker bisher gefröhnt haben. Fi-anke ver-
wirklicht seinen „grundsatz" (§6, 4), indem er am Schlüsse der lautlehre einen beson-
deren abschnitt der rechtschi-eibung widmet. Einleitend sucht er hier Luthers Stellung
in dieser frage dahin zu charakterisieren, dass derselbe im wesentlichen mit der kur-
sächsischen, in einzelnen punkten aber abweichend von dieser „mit der uordostthürin-
gischen oder der kaiserlichen Schreibweise" übereinstimme (§ 116). Schon in dem
jähre 1520 beginne eine Umgestaltung der rechtschreibung bei Luther sich geltend zu
machen, die dann von 1523 an „ganz deutlich wahrzunehmen sei" (§117); dies
würde damit übereinstimmen, dass Luther spätestens im jähre 1524 den druckern jene
schon oben erwähnten „schärferen anweisungen" gegeben habe, von denen Christoph
Walter, allerdings erst im jähre 1563, spricht. Bei der nun zunächst folgenden aus-
führung über die darstellung der vokale nehmen die „ dehnungszeichen " den löwen-
anteil (§118 = s. 89 — 98) in ansprach. Besser würde der Verfasser diesen Para-
graphen die graphische darstellung langer vokale betitelt haben; denn er behandelt
ausser denjenigen Wörtern, in denen durch ein äusseres kenzeichen die länge des
vokals angedeutet ist, auch diejenigen in diesem paragraphen, in denen kein sogenan-
tes dehnungszeichen die länge des vokals kentlich macht. Die vielbesprochene Stel-
lung des h in seiner eigenschaft als dehnungszeichen charakterisiert der Verfasser
dahin, dass dasselbe „nur" bei einem dem betreffenden laut folgenden «, /• oder ira
auslaut nach dem vokal stehe, bei vorangehendem t oder r aber vor denselben trete.
Von diesen beiden behauptungen ist zunächst die erste inhaltlich unrichtig. Denn
ausser bei folgendem n, r oder im] auslaut — für diesen fall führt Verfasser übri-
ÜBER J-'KANKK, UKAM.M. UKK SCJimi'TSl'KACllE LUTilKKS 73
gous kfiiiDii lit'lfg an — limlut sich // iiui-li ilcin vnkal aurli Ikm t'olgciidoiii / uml ///.
Man nuis indessen, wie es selieiiif , auch in iJiesiM' fraLi,'e (.'ine sciieidung der druckcr
vdrneliincn. So linden sicii z. ii. tAcrade für das li nach dem vokal l>ei folgondein /
und /// in der von Melclijor Ldttiiei- nvdriickten sei>toml)orhil)ol i'olgen(h3 belege: nidlil
(nihd. iin'tl) Jud. 3, aniKilniicti (inhd. i/i'ni/o/) A]). gesch. 7, 45, ani/rnrl/u/ (nihd. [/e-
iKfme) JjUC.I, 24, Köm. If), lü. .'il. l'hil. 4, 18, aiifjcnclimc Lue. 4 , 1!), aHiptrhui
1. Tim. '). 4, iji'tirliDirii 11. ('er. »i, 2. fiiDicItnißcn Ap. gesell. 17, J. 2'). 2, fi(rnfh-
iiiißcH A|i. gesell. 2S. 17, (iHlfnrliiiirn (mhd. ii(Onr}i) Ap. gesch. 18, 27-', dazu mit,
mild, noch kurzem vokal nilwlilicli Khr. 11. 12, laln)/ Ap. gesch. 15, 2, lalniini
.loh. f), ;}, All. gesell. 8, 7, (iitlf)iulnii. .lae. 2, 2,5, nchiiicii Math. 1 , 20. ä, 40. 2'], 12,
Marc. S, 11, .loh. 10, 14. 15. 22. 24, unnchmeu Joh. 5, 43, vernehmet Marc. 7, 14.
S, 17, Hchiinft .loh. 17, 1,5, nclim Älare. 15, 36. Alle dies»; belege linden sieh bis
aiil' ///^'/ .lud..'!, fiiniriNfffen A\). ^i)H(i]i.2S, 17, iie7i/cii M'Mv.H, J4, /«6V//c Mar(!. 15, 3(j
und lihniir ,loh. Ki, 22 auch in dei' aus der gleiehcu drucdau'ei hei-vorgegangonen
<lecembcrl)ibel vom Jahre 1522. Etwas ijfter fehlt das h der vorgenaiiten belege dann in
dem folio- druck des neuen testaments von Melchior Lotther dem iungeni aus dem Jahre
1524. aber in einem andern drucke desselben Jahres von Melchior und Michel Lotther
gei)rudcr tritt es wider etwa mit derselben häufigkeit wie in der decemberbibel auf.
Hagegcn verzichten drei von mir verglichene drucke des Hans Lufft aus den Jahren
153G, 1541, 1544/45 gänzlich auf das dehnungs-/? an den angeführten stellen. Auch,
was gleich hier erwähnt werden möge, für das in den obengenanten Lotthorschen
drucken sieh findende herald (jussit) res]), befahl (nur der zu dritt erwähnte druck
mit dem impressum Melchior Lotthers des iungern aus dem Jahre 1524 hat befal)
Math. 2, 12, sowie für hcrvhl res]i. befehl Math. 2, 22 in sämtlichen vier Lotther-
scheii drucken hat Hans Lufft in allen drei ausgaben die formen bcfalli und hcfclh.
Für iiichh Math. 13, 33 in den vier Lottherscheu drucken hat Hans Lufft 153'j zwar
ebonfals inclds, 1541 und 1544/45 aber Mclhs. Auch das h in Jhcrufalem, welches
anfangs in der Lottherscheu druckerei zuweilen vorkomt. z. b. Math. 5, 35. 21, 10.
23, 37. 1. Cor. 16. 3 in der September- uiid der decemberbibel vom Jahre 1522, für
den ersten dieser Ijelege auch noch in der ausgäbe der gebrüder Melchior und
Mif:hel Lotther vom Jahre 1524, hat Lufft wenigstens an den augeführten stellen der
erwähnten ausgaben nicht. Für den beweis seiner zweiten behauptung, dass das h
liei einem dem vokal vorangehenden t oder r vor denselben trete, führt der Verfas-
ser unter seinen belegen das noch fruhd. tliurftlfj (audax) und das substantivimi
thuru tJainn. (turris) an, mit der ausdrücklichen Überschrift, dass das h lüer „vor
mhd. noch kurzen vokalen'^ stände. Ist der vokal von thunn denn heute lang, und
nimt der Verfasser länge des vokals für das frnhd. thurftiy an':" Franke dreht die
alte mähr vom tli , die er in seiner behauptung widergibt, nunmehr um, und meint
augenscheinlich, dass nach anlautendem /// nun auch stets langer vokal stehen müsse,
wie er derm auch das h. in dieser Verbindung vor diphthongen als „überflüssig"
bezeichnet, §. 126, 1. Er lässt sieh überhaupt weder auf eine erklärung des Ji als
dehuungszeichens im algemeiiicn noch in seiner stellimg beim / und /• im besonderen
ein. Und so wenig auch dies viedleieht in dem rahmen des vorliegenden buches
erforderlich war, es hätte doch möglicherweise den Verfasser vor Jenem bedenklichen
Schnitzer bewahrt, dass auch das // in dem häufig vorkommenden werte Jhefns deh-
nungs-Ä für das ihm folgende e sein solle (s. Ü3). Nein! das h verdankt hier seinen
Ursprung lediglich einer falschen transskription der griechischen Ijuchstaben IHZ als
Jhs, woraus dann h als solches weiter übernommen wurde imd in der Schreibung
74 LUTHER
Jhesuü eine ganz gewöhnliche erscheinimg des mittelalterlichen lateiu ist. Das ist eine
bekante tatsache der paläographic , vgl. z. b. Wattenbach Anleitung zur lat. pal. (Leipz.
1869) autogr. s. 20, von neueren etwa Prou Manuel de pal. (Paris 1890), s. 49 —
eine tatsache, die auch schon Grotefend in seiner bekanten abhandlung über Luthers
Verdienste um die ausbildung der hd. Schriftsprache (Abhandlungen des Frankfm-tischen
gelehrtenvereiues f. d. spr. I, 1818, s. 112) erwähnt, und diese schrift befindet sich
unter den von Franke „benuzten" abhandlungen (s. VI). Auf rein äusserlicher Über-
tragung aus Jhefus beruht dann das //. in Jherufalem, welches wort sich in dieser
gestalt, wie schon oben angegeben, zuweilen in Lottherschen dmcken findet.
Diese Sonderbehandlung der rechtschi'eibung, wie sie Franke vorgenommen hat,
ist für die Luthergrammatik, wie bereits oben angedeutet wurde, zweifellos ein fort-
schritt. Indessen ist der Verfasser von seinem „grundsatz" noch nicht genügend
durchdrungen gewesen, um der rechtschreibungslehre nun auch jeden nähereu ein-
tritt in die darstellung der laute zu verwehren. Im gegenteil sündigt er gegen sei-
nen eigenen gi'undsatz hier in sehr bedenklicher weise. Der erste abschnitt der laut-
lehre betrift „algemeines über den lautstand Luthers." Unter dieser Überschrift wird
im §7 die „Schreibweise" der kanzleisprache kurz erörtert, §8 handelt über die
„einwirkung der Schreibweise der verschiedenen kanzleien auf Luther." Überein-
stimmend mit dieser Überschrift des §8 werden darin ausser mehreren wirklich laut-
lichen erscheinungen die bekanten Schwankungen im schreiben zwischen ai und ei
resp. ey, die Schwankungen in der „bezeichnung des Umlaufes von o und m", das
eintreten der längenbezeichnung von ie für mhd. «', der Wechsel zwischen i, j
und y, dd und d, die drei lezteren pimkte sogar ausdrücklich als erscheinungen
„rein graphischer natur", sowie „die graphische bezeichnung des langen e durch
ee" behandelt. Im § 16 des folgenden abschnittes gibt Franke belege für die bei
Luther bereits durchgeführte dehnung im mhd. noch kurzer silben. Statt hier die
art der längenbezeichnung {ie für 2, doppclschreibung, sogenantes dehnungs-A)
als bekant vorauszusetzen oder doch in dieser beziehung auf den abschnitt über recht-
schreibung zu verweisen, wo das allein hingehört, und dann entweder durch behandluug
der einzelnen vokale oder durch eröiterung ihrer jeweiligen stellmig, sei es im auslaut,
sei es vor bestimten konsonanten, übersichtlich zu zeigen, in welchen fäUen sich der
eintritt der dehnung nachweisen lässt, teilt Franke diesen paragraphen umgekehrt
nach der art der längenbezeichnung, also nach rein orthographischem princip ein,
und muss dann unter jedem dieser drei punkte alle diejenigen vokale behandeln,
deren länge in der betreffenden weise angedeutet wird. Auch das im § 60 über die
wenigen bei Luther vorkommenden tie gesagte, deren e Franke selbst für ein zeichen
„wol nur rein graphischer natur" hält, und welches sicher nur noch den vielleicht
unbewussten wert eines dehnungszeichens hat, hätte in der abhandlung über die
rechtschreibimg seinen platz finden sollen, etwa nach der besprechimg des ie als i.
Dazu würde auch das wort faet (mhd. sät) Marc. 2, 2?. zu stellen sein, welches sich
in den vier oben (s. 73) genanten Lottherschen drucken aus den jähren 1522 imd
1524 findet, während Hans Lufft in den an gleicher stelle genanten drucken faat
einsezt. Über dieses e (oder i) nach vokalen im Frankfurter dialekt handelt Wülcker
in Paul -Braunes Beitr. IV, s. 30 fg. In dem aufsatz über „die umlautserscheinungen
bei Luther" (§ 18 fgg.) war es gleichfals nicht nötig, der graphischen darstellung
des Umlauts einen so grossen räum zur Verfügung zu stellen, da strenggenommen
das graphische element auch dieser erscheinung in dem abschnitte über die recht-
ÜBEH l'HANKE, liKAMM. DER SCHKIFTSl'IJAl'UE LUTHERS 75
scIii'L'i billig- liäiti' iM'lKUitlclt wi-nlcii nuisM'ii. Doch liisst sich dii' iiikunsc([Uoiiz hier
eher cutschukli;^'(Mi.
Pioscii orrirtcruiip'ii alj^cinciiicivr art. die mir l'iir die VDrlieo-eiidc l)esiiieehiiiii;'
zuiiiiclist die haiiptsaciie waren, müii'eii ciiiino s]ieciclhM'(' l)Oinerkuiii,a!n r()lü;(>n. Ich
\vill nur nocli vorau.sscliiciicn. dass der grosso tlciss, mit dem der vcjrf'asscr dio
hclego für dio oinzolnon bohauptungen aus einer umfassen<b'n reihi^ rjutJiorseiior sclirif-
ten horboigoscliaft hat. volle anerkennung verdient. T.eiiler stehen dem aUcrdings
auch eine roiho vimi schwachen gegenüber.
In dem bereits oIkmi (s. T-l Ig.) br-rührten aufsatz ülier ..die rd:d. Verlängerung der
mild, kurzi'n stainvnkale voi' einfachen koiisonanten" beschränkt sicii iler Verfasser im
i; IG darauf, fälh; anzufiihnii. in dem/n dui'ch die bekanten hilfsmittel, die sogenan-
ten dehnungszeielum, länge des vokals angedeutet wird. Es liegt zum teil an der
schon oben inisbilligten anordnung der lielege, dass der v«M'fasser nicht den naehw('is
zu führen vi'rsuclit. in welchen fällen di'nn TiUther wirklich langen \okal, in welchen
aller er die alte kürze liewalirt hat. und dii.' mügiiehkeit dieses nachweisos ist kei-
neswegs ausgeschlossen. Namentlich die starken verba der /-reihe bieten in dieser
beziehung ein wertvolles material. Diese hatten im mhd. in allen |)rätoritalformen
ausser dem singular des imlikativ 1. Hierfür findet sich hei lAither — ich beschränke
mich hierbei auf die spräche Luthers in der septemberliibel — / und ie, ersteres in
di'ujenigen fällen, in welchen dem stamvokal ein ch , ff\ ff, also toidose doppelspi-
rans, oder tt folgt, ghüchviel ob leztoi'es allen formen des lietrehenden verlmms eigen
ist. oder in grammatischem Wechsel sonstigem d eutspi-icht, ic dagegen dann, wenn
dem Stammvokal ein b, //, )i , li folgt, oder der stamm vokalisch ausgeht. Man
vergleiche etwa folgende belege: (/c/rii-I/ci/ .^n]\. 7). i:5. Off. 18, 14, f/n'ffcn Math. 14^ 3.
2G. öü, Miriffen Ap. geseh. Iß, 2L\ '_'3, 10, ftriticii Ap. gesoh. 23, 9, etiiUcn Math.
27, 1!), Marc. 5. 2G neben (jefclirirhni Math. 2, fj. 4, 4. 0. 10, ftiniru Luc. ö, 10.
Ap. gesch. 1, 13, crfcliieiicit ]\Iath. IT, 3. rcrlicliDi vorrode z. Rom. abs. 1, fclirkhen
Math. 8, 29. 9, 27; das // in fdi riehen ist nur hiatusfüllend, ich habe aber die
form in dieser Schreibung als beleg gewählt, weil sie so die obige behauptung besser
illustriert; es finden sieh auch die Schreibungen fchrien Joh. 19, ß und fchnjen
Job. 19, 12. Die rogelmässigkeit dieses wechseis im auftreten von / und ic beweist,
dass in den lezten fällen, also vor einfachem tönenden konsonant und im auslaut, der
vokal gedehnt ist, dass er aber vor tonlosem doppclkousonanteu seine früln.'re kürze
bewahrt hat. Über die dehnungsfrage in mhd. zeit spricht sich Weinhold Mhd. gr. -
an verschiedenen stellen aus, so § 15, 24, 32, 51, 55 usw.; zum oben behandelten
fall vgl. liesouders § 354 schluss, ferner Bartsch zur Erlösimg 2739, Riegor in
der einleitung zur Elisabeth s. 24 fg. u. a. m. So leicht nun von der anwendung der
delmungszeichen auf die länge des vokals geschlossen werden kann, so schwer oder
noch schwerer lässt das unterbleiben dieser bezeichnungsart auf erhaltene kürze oder
gar auf mögliche kürzung schliessen, wenn nicht wie in dem oben erwähnten fall
eine sol(;he schroffe gegenüberstellung von Ijelegen möglich ist. Auch die resultate,
die sich aus den beobachtuugen über etwaiges unterbleiben der diphthougierung der
alten längen l li iu ergeben könten, haben für den vorliegenden zweck weing oder
gar keine beweiski'aft. Trotz der anerkennung dieser Schwierigkeiten versucht Franke
im § 17 aus dem fehlen der dehuungszeichcn für einige fälle erhaltene alte kürzen
nachzuweisen, stelt diese jedoch selbst zum grösseren teile als fraglich hin, nament-
lich wenn der heutige obersächsische dialekt, den er zur feststellung dieser tatsachen
herbeizieht, ebensowenig wie die jetzige Schriftsprache den kurzen vokal bewahrt hat.
76 LUTHER
und auch in der erwägung, dass der vokal mancher wörter wie z. b. des nhd. jähr
zwar von alters her lang ist, aber bei Luther stets „ohne dehnungszeichen" erscheint;
Dem aufsatz über die dehnung folgt der über den umlaut. Das unterbleiben
des Umlauts von a in einigen Wörtern belegt Franke zwar mit einer reihe von beispie-
len, ohne jedoch auf den grund dieser erscheinung einzugehen; alte flexionseigentüm-
lichkeiten, folgen alter Wortbildung, schliesslich auch die Widerstandsfähigkeit gewisser
dem umzulautenden vokal folgender konsonantengruppen , über die für das ahd. Braune
in Paul-Br. Beitr. FV, s. 540 fgg. handelt, konten zur erklärung leicht herbeigezogen
werden; siehe auch Franke §190. Nicht nur „anfänglich" (Franke § 20) findet sich
offetiberlieh bei Luther, sondern auch später noch, z. b. in dem Lufftschen druck „Kurtz
bekentnis D. Mart. Luthers vom heiligen Sacrament", ... Wittemberg 1544, bl. Bij*;
ebenda klerlich bl. Bij ''. Soll e in erbeit und den zugehörigen Wörtern bei Luther wirk-
lich imilauts-e sein? Im ahd. hoisst das wort araheit; und die Zusammenstellung mit
dem stamme von erbe, mhd. erbe, ahd. erbi arbi, got. arbi, die schon Grimm
DWb. I, sp. 539 machte, und die auch Weigand DWb. ^I, s. 70 und Dietz "Wb. zu
Luthers deutschen schritten I, s. 111 fg. übernommen haben, ist von Kluge EWb. s. 9
energisch in frage gezogen worden. Lexer Mhd. wb. I, sp. 88 hält die form erbeit eben-
fals für- umgelautet, ohne jedoch dies zu begründen, belegern, belegerung, jezt
belagern, belagcriing , die Franke gieichfals für formen mit umlauts-e gegen den
jetzigen gebrauch hält (§ 22), haben mhd. e, vgl. Lexer IVIhd. wb. I, sp. 171 und Wei-
gand DWb. I ^, s. 183 u. 1047, dazu mhd. leger, ahd. legar. Hier hat die vergleichung
ndt dem nhd., welcher der Verfasser zweifelsohne diesen irtum verdankt, unheilsam
gewirkt. Im §23, „unterbleiben des umlauts von «?*", hätte eine trennung zwischen
altem cm = mhd. ou, und dem erst aus il neuentstandenen gemacht werden sollen,
da dies für die spräche Luthers nicht ohne belang ist; namentlich eine genaue und
umfassende beobachtung der umlautung von au = altem ü könte aufschlüsse über
den umlaut der dunklen vokale bei Luther und im md. überhaupt geben. Das
geschieht aber bei Franke nicht. Bei der erörterung des umlauts von o und u haftet
der Verfasser völlig an der äusseren darstellung desselben durch die schritt. Zwar
war er schon im § 18 am schluss seiner algemeinen betrachtungen über den umlaut
für die spräche Luthers in der bibel von 1545 zu dem resultat gekommen, dass, da
hier die umlautsbezeichnung von o und u auch in fäUen stehe, wo ihn die jetzige
Schriftsprache nicht habe, „im grossen und ganzen der umlaut von o und u in ihr
fast in demselben masse vorhanden" sei als jezt. Aber diese folgerung beruht auf
einer plötzlichen identificierung von umlautsbezeichnung und dem Vorhanden-
sein desselben. Diese beiden punkte müssen aber in drucken jener zeit streng
getrent gehalten werden; das erfordert das grosse schwanken der umlautsbezeichnung
sowol bei den verschiedenen druckem als in den drucken einer und derselben officin.
Die notwendigkeit einer trennung der druckerfirmen bei der besprechung dieser frage
sieht auch der Verfasser ein und nimt deshalb eine dahin zielende sonderung im
§ 25 verschiedentlich vor; man vgl. dazu meine oben s. 69 und früher im Anz. f.
d. a. a. a. o. gegebenen belege. Gerade diese Schwankungen in der bezeichnung
zwingen uns, für das Vorhandensein resp. die ausdehnung des umlauts noch andere
quellen in ansprach zu nehmen. Eine eingehende Untersuchung der rad. reimdenk-
mäler muss hier den boden bilden, auf welchem weiter zu arbeiten wäre. Dem von
mir im Anz. f. d. a. XV, s. 335 angeführten Wortspiel zwischen bdtel und bottel will
ich hier ein anderes zufügen aus Luthers schritt „Wider den Bifchoff zu Magdeburg
Albrecht Cardinal. D. Mar. Luth. 1539". Wittemberg, Hans Lufft, bl. Cj'': Oleich
f'BER FRANKE, r.RAMM. DER SCIIRTFTSPRArHE LUTHERS 77
irir der lirllifcli<- ... Card/ital nicht (/n/n/ Indtc j d(it< er SrJn')>//:'.r)/ rrnnrrdrt j S())i-
ilcrn niufte cmcli alle feine giilcr nentcn / urie jm die Se//e])])cn rnd Vniuerfi-
Icten haben gefprücken j als er fich rli/iinet j Aber es fei/ Seheji])s oder Bock
. . . I da fragt der Jiöheft Riclitcr nirhts nach . . . Das erste wort ist inhd. seheffe
scJ/epfe. alul. seeffin seaffin, das andcn'c inlul. sehöps sehopz, aus dem slav. oiitlehiit,
czecli. skopce. Audi die schrcilnmg Scliepps mit e statt o weist schon auf unilaut
hin. Wenn scliliesslich Frauke im ij 25, (! beiiauptot, dass seihst noeh in d(,'r liibel
von lölö, in welcher die lungelauteteu formen „ganz htMicutend" überwiegtMi, dei"
,,unilauf von o und n „regolmässig'' unterbleibe, sobald im anlaut r i'ür v^, resp.
die majuskeln statt der minuskeln stünden, so ist dies wider nur eine vei'wechselung
zwischen dem unterbleiben der umlautslxizeichuuni;- und dem Vorhandensein;
in den Iczterwähnten fällen liegen sicher nur typographische eigenhoitcn voi'.
Nuunu'hr geht Franko auf die behandlung der einzelnen vokale über. —
Im t> 27 werden beispiele gebracht, in denen Jjuther md. kurzes / für mlid. kui'-
zes c in stamsilben hat; aber iiirf'Jnifft ist jnhd. In'rsclnift mit r, und für liir-
fchcn schwankt das mhd. zwisclieii iicrscn und hi'rscn, ahd. hcrisön. Eine sub-
sumierung dieser Wörter unter die Überschrift dieses paragraphen war dabei' nicht
gerechtfertigt. — Zu § 30, 4 sei bemerkt, dass neben leinen nicht nur linnad
mit / vorkoint, sondern aucli Igneii. linci/ Ap. gesch. 10, 11, Luc. 24. 12 in der
septomberbibel. Franke will das / in linn-ad durcli „ niögliclu'rweise . . . infolge
der konsouantenliäufung " eingetretene „Verkürzung" erklären, „wie ja auch das
jetzige schriftdeutsche linnen =- mhd. linin hat"; Kluge im KWI). sucht viel-
mehr zur erklärung des nlid. linnen niederdeutschen einfluss herbeizuziehen. —
s^ 32 behandelt „mhd. langes [sie!] ie für nhd. //"; als belege dienen die beiden verba
nhd. lügen, trügen, mhd. liegen, triegcn, mit den dazu gehörigen stamverwanten.
Hier liegt aber kein spontaner lautwandel vor, sondern lügen ist eine neubilduug von
lag, lüge, nach gewöhnlicher annähme uutei- einwirkung einer beabsichtigten ditle-
renzieruDg von liegen (jacere), vgl. Heyne in (jrimin DWb. VI, sp. 1273, Weigand
I)Wb. P, s. 1111, und trügen ist dementsprechend gebildet. — Im §39 bespricht
Franke md. e bei Luther für mlid. und nhd. ei, führt dabei aber auch xivenxdg =
mhd. x/veinxec, nhd. xicanxig als beleg auf; übrigens ist auch xn-enx-ic mhd. — Im
§ 40 behauptet Frauke die Identität der ausspräche von e, = altem (■', und e, dem
Umlaut von a, für Luthers spräche. Sein einziges beweismittel ist der tatbestand in
der jetzigen Schriftsprache. Da aber in mhd. zeit ein solcher imterschied imbesti'it-
ten vorhanden war, so kann natüiiich dieser alleinige hinweis auf das nhd. nicht
genügen. — Die angäbe im §41, dass adder (= oder) in der septemberbibel „nui-
noch 4 mal" vorkomme, hat Frauke jedenfals aus Dietz Wb. zu Luthers deutschen
Schriften I, s. Vll. Es mag erwähnt werden, dass es in Wirklichkeit sieh dort
noch fünf mal findet, ausser an den angegebenen stellen nämlich noch Ap. gesch.
3, 12. — Im § 43 wird das schwanken zwischen mhd. d und nhd. e bei Luther
erörtert, und dabei auch die imperative gang und ftand als beh'ge aufgeführt. Diese
formen haben aber niemals <l gehabt und geliören deshalb nicht in diesen paragra-
phen. — Als einziges beispiel für mhd. o bei Luther = nhd. u wird im § 46 das
wort nntulicorff = mhd. moUmorf angeführt. Aber es gibt im mhd. auch die
form molttverf molttverfe, deren vokal etymologisch wol der ursprüngliche ist,
neben anderen formen wie nci'dicerf u. a. , die ebenfals c haben; ahd. finden sich
■>noltiverf und mnlt/nrrf. Das beispiel ist also höchst unglücklich gewählt. — Zu
Frankes ansieht von dem „mutmasslich" erhaltenen o für nhd. ö in Wörtern wie wol
78 LUTHER
iconen geftolen verweise ich auf das oben bei besprechung der dehnung im algemei-
nen gesagte. — § 51: ö bei Lutlier, mhd. uo, nlid. ü entsprechend findet sicli auch
in dem werte wermot Off. 8, 11 in der September- und der decemberbibel; von da
ab steht icermut. — § 52, 2 sagt Franke, dass u in fun (filiusj sich bis 1520 finde;
ein beleg, allerdings ganz vereinzelt, ist aus dem jähre 1522 in der septemberbibel
Ap. gesch. 9, 20. — Im §53 wird nhd. taugen auf mhd. tugen tilgen zm'ückgeführt,
und hieraus durch dehnung des u zyy ü und darauf folgende diphthongierung des
lezteren erklärt. Das wäre ein für die chi'onologie dieser spraclilichen erscheinungen
recht interessanter fall. Leider stamt der diphthong aber aus dem schon mhd. vor-
handenen schwachen verbum tougen tongete touhte, vgl. Weinhold Mhd. gr. "^ §420,
wie auch von tugen präs. ind. sing. 1. 3. touc lautete. Warum solte auch die diph-
thongierung nur das verbum und nicht auch das subst. mhd. tugcnt, nhd. tilgend
betroffen haben? Vorsichtiger drückt sich der Verfasser später im § 234 aus, wo er
sagt „für unser taugen steht [bei Luther] noch das praeterito - praesens tilgen.'^ —
Im § 59 nimt Franke für das sehr seltene uff bei Luther = mhd. üf, nhd. auf —
Franke belegt vffm und tiff'erftentniß — langes u in ansprach, während er im § 54
für das bei Luther sich findende fufftxen luff't'X,en, neben dem schon seit frühester
zeit nebenformeu mit eu, einhergehen — z. b. feufftxen Ap. gesch. 7, 34, erfeufftx,et
Marc. 8, 12 in der septemberbibel — , mhd. siufoen sniften, ahd. süfton süftjön,
kurzes u resp. ü ansezt. Die geringe betonung der präposition lässt aber eine kür-
zung, wenn wir solche überhaupt annehmen woUen, für dieses wort mindestens
ebenso wahrscheinlich sein wie für das genante verbum. — Bei der besprechung des
diphthougs ei und seines Vorkommens bei Luther, Franke § 63 — 65, fehlt ganz die
erwähnuug jenes ai ei, welches aus altem, noch mhd. vorhandenem -age- -ege- her-
vorgegangen ist, und das sich bei Luther schon allein in der septemberbibel in magd
Luc. 1, 38, meydlin Math. 9, 24, Marc. 5, 41. 6, 28, meydlyn Marc. 6, 28, meydle
Math. 14, 11, megde (plur.) Luc. 12, 45 neben magd Marc. 14, 69, Luc. 1, 48,
megde (plur.) Marc. 14, 66, Ap. gesch. 2, 18, mhd. maget, ahd. magad, sowie in
getreyde Ap. gesch. 7, 12, mhd. getregede, ahd. gitragidi findet; für getreyde s. wei-
tere belege bei Dietz Wb. zu Luthers deutschen schritten II, s. 109. Über dieses ei
spricht sich schon Fabian Frangk in seiner „Orthographia . . ." Wittemberg 1531,
bl. Dj'^ aus: Der Meichffner nimpt auch das oy. der Schießer aber das ay / für
ag odder age / Als / wenn der Meichffner fpricht / die mögt foyt / der woyn zSyl
nnnd noyl le j Sagt der Schlefier / die mayt fayt / der tvayn xayl vnd nayl :c /
für j Die magt fagt / der wagen fMgel vnd nagel :e. Neuerdings hat Hermann
Fischer Zur geschichte des mhd. (Einladungsschrift der imiversität Tübingen 1889)
ausführlich hierüber gehandelt, dabei auch die geographische ausdehnung dieser
erscheinung festzustellen gesucht; das lezte natürlich nicht, ohne sich von selten des
Sprachatlasses oder derer, die ihm nahe stehen, den bekanten warnungsruf „abwar-
ten" zugezogen zu haben. Diese warnungsrufe , besonders aus der DLZ., sind höchst
ungerechtfertigt; im gegenteil müssen wir, so lange das material des Sprachatlasses
dem wissenschaftUchen publikum unzugänglich ist, für jede dialektgeographische arbeit
dankbar sein, auch wenn sie zu anderen ergebnissen gelangt, als sie dermaleinst der
Sprachatlas erzielen wird.
' Mit den diphthongen schliesst die besprechung der vokale und der Verfasser
geht im § 67 zu den kousonanten über. Ich werde mich im folgenden etwas kürzer
zu fassen suchen.
ÜBER FRANKK, r.RAMM. DER SCHRIKTSI'KACIIE LUTHERS 79
Fraiiki' lielniiidclt in dorn kaiiili'l ülicr die kousonantoii /.usaniinciiliilngend nur
„das iiihd. auslautsgesetz", d. li. die üLerrcsto des alten regelmässigen wechseis zwi-
schen aus- und inlauten<lein l<uns()nant(,'n, soweit sie die scliriltliche widergahe von
Luthers spräche noch erhalten iiat, der im iniid. auch in di'r sclirii't encrgiseli her-
vorgeliuben wurde, während er sieh im idul., soweit er hier überiiauiit noch vorhau-
deu, in dv.v sehrift gänzlich verloren hat. Andere algemeincrc zusammcnfassungeu,
wit^ etwa hetrachtungcn über die reste grammatischen weclisels btji Liithei', macht
Fraidie inclit. Im übrigen b(!S})riclit er in althergebrachter klassificierung die lijipen -,
Zungen- und gaumeid<nnsonanten; / und /• rechnet er den zungenkousonanten zu. —
Unrichtig ist, wenn Frauke im J; (iS sagt, dass hi henhf (caput) und seineu Zusam-
mensetzungen inlautendes /> „(jhue ausiiaiime^ stehe; allein aus der septemberbibel
führe ieii dagegen an liaivptjiians Luc. 7, 2, hcicptnmu Aj). gesch. 21 , .'57, nitcr-
InirphiKOi .Vp. gesch. 22, 2."). rhcritr/rjific/ftlei/ Ap. gesell. 2.5, 23, vb/rhe/cjit/inni .loli.
18, 12. cittluirj)t(i ]\Iath. II, 10. — Zu dem schwanken zwischen .^clnrchcl und
sc/urc/rl n. dgl., für das Franke keine erklärung gibt, ist zu crwilhnen, dass U. .läiücke
l'ber die niederdeutschen demente in unserer Schriftsprache (progr. I), Wriezen 1869,
s. IG in den formen mit /' niederdeutsche lautstufe erhalten glaubt, indem er allerdings
aus Luthers spräche a. a. o. nur die .Schreibung schnebrl anführt; Paul Mhd. gr. - §81
sieht in dem nüid. schwanken zwischen /• und b auch in den dopjielformeu s/rerel
i</(i'bel ülierbleibsel gramnuitischen wechseis. — In §7Üb findet sich unter der für eine
historische gramniatik höchst kuriosen Überschrift „fehlendes b wie mhd.'- angegebeu,
dass sich bei Luther öfter r/cl = nhd. gelb fände. Es hätte vielmehr darauf hin-
gewiesen werden müssen, dass gel, welches mhd. in den oblii]uen kasus ein dem /
folgendes /c hatte, bei Lutlier überwiegend mit einfachem / vorkonit, zuweilen aber
au stelle des /c ein // aufweist, vgl. die belege bei DietzWIj. 11, s, .59; dieses b drang
auch iu die nonünativform. vgl. Dietz a. a. o. Derselbe fall liegt vor bei dem ad], färb,
mhd. rar ranrea, bei Luther nur noch in Zusammensetzungen, vgl. Dietz a. a. o. I,
s. 631, ferner s. v. „buntfarb~ Dietz I, s. 362, dazu rofynfarb rofynfarben Off. 17, 4. 3 iu
der Septemberbibel, später rofiitfarbtn. — §.71, 2, „die einschiebuug \(m b oder
p zwischen m und (/ oder t usw.-, gehört bei exakter darstellung iu die lelire von
der rechtschreibung. Denn b oder p in worten wie frembd bcrionbt bcräntpt itititpf
bmipt ist nur die graphische bezeichnung desjenigen lautelemeutes, das auch heute
noch au dieser stelle sich in der ausspräche findet. Nur die analogieschreibuug, die
auch die sjtrachliche Verschiedenheit zwischen dem tonlosen auslauts- imd tönenden
inlautskonsonauteu in der schritt ignoriert, hat iu den fällen genanter art das b oder
p beseitigt. — Durch die herscheude unglückselige vergleichung mit deni rdid. kom-
men unter den lippenlauten Wörter, die unverschobenes p bewahren, wie napen
u. dgl. neben /raffen, ferner l/'ppe f'foppeln, die sich bei Luther finden, gar nicht
ziu' erwähnung; nur f'eJ/Hiippen wii'd im § 72, der „uuverschobeues pp für nhd. 2^f~
überschneben ist, hervorgehoben. Dass später bei der erörterung des Wortschatzes
in der algemeiuen Übersicht §136 erwähut wird, dass lipjje ein nid. wort sei, wone-
ben die obd. form lefxe bei Luther nicht vorkomme, macht jene Unterlassung in der
lautlehre nicht ungeschehen. — Ln § 78 behauptet Franke, dass Luther „stets'^ die
form befein = nhd. bef'en habe , und belegt auch nui' auslautendes )n ; auslautendes u
iu diesem worte führt aber Dietz I, s 275 schon aus dem jähre 1522 au. — Zu § 101:
selten die neben einander vorkommenden formen flöhe und flöge u. a., die Franke
durch die „ausspräche des // als reibelauf", „für das verdichtete /* geschrieben'",
erklärt, nicht besser als reste des grammatischen wechseis zu betrachten sein? Die-
80 LUTHER
selbe erklärung gilt für § 111; indessen findet sich Ihier der Verfasser mit der tat-
sache eines Schwankens zwischen „mhd. h und nhd. g^ in gewissen Wörtern, uhd.
schlagen und ziehen, ab. — In § 113, 1, „abfall des li im anlaut", muste ausser
dem h im anlaut „unbetonter" silben auch dieses abfals im subst. er (dominus) gedacht
werden; belege von 1520 — ^1530 gibt Dietz I, s. 552. Über die geschicke dieses er
in der rechtssprache hat neuerdings A. Stölzel Fünfzehn vortrage aus der branden-
burgisch-preussischen rechts- und Staatsgeschichte, (Berlin 1889) s. 3 fg. gehandelt. ^
§ 114 bringt als belege für den „antritt von h im anlaut" die formen her (ille) und
hunden; das anlautende h dieser W'örter ist aber für beide ganz verschiedenen
ui'sprungs. Wurde hunden erwähnt, so musten auch formen wie hcmssen neben
aussen, auch hynnen neben ymien jilatz finden.
Die abschitte „wertschätz" und „Wortbildung" waren im algemeineu schon
oben s. 71 fg. kurz besprochen. Ich will mich mit einzelheiten hier nicht mehr auf-
halten; ausserdem geben diese abschnitte im einzelnen weniger grund zu aussetzuu-
gen wie diejenigen über das lautsystcm. Namentlich bietet Franke vielfach gute und
ausführliche worttabellen , die füi' manche selten der Sprachgeschichte von Wichtigkeit
sind. — Im § 147, 7 rechnet Franke zu zusammengesezten hauptwörtern auch das wort
ferge (= fährmann). — Falsch ausgedrückt ist es jedenfals, wenn der Verfasser im
§ 148, 3 unter den adjektiven, welche die eudung -en für mhd. -tn haben, wie
hultxen elffcnbeincn u. dgl. , schliesslich harin als „noch mit der mhd. endung
w" behaftet aufführt. Das könte den schein erwecken, als hielte der Verfasser
dieses i in harin noch für lang, wie es im mhd. war; aber es ist bei Luther
genau so kurz wie etwa das i in ofßfibar neben offenbar, welches sich häufig
genug findet, und das auch Franke im § 28 erwähnt. — Die elision der nach-
tonigen e in den mit -e/-, -ew-, -er- abgeleiteten verben behandelt der Verfas-
ser im § 161, 2. Es ist bekant, dass in diesen verben bald das flexions-, bald
das ableitungs-e synkopiert wird. Im lezten falle meint der Verfasser, es fehle
bei den mit -en abgeleiteten verben sowol im Infinitiv als auch bei den andern
formen auf -en diese endung „dann gänzlich". Es geht aus dieser äusserung
nicht mit Sicherheit hervor, wie sich der Verfasser den betreffenden Vorgang denkt;
aber es hat nach andern gleich zu erwähnenden behauptungen des Verfassers in der
tat den anschein, als glaube er hier an den abfall der endung -en. Betrachten wir
dieses scheinbare fehlen der endung im zusammenhange mit anderen gleichartigen
erscheinungen , soweit der Verfasser dieselben im laufe seiner darstellung noch erwähnt,
so stelt sich in der hauptsache dabei folgendes heraus: Die endung -en schwindet
scheinbar 1) wenn sie, wie in dem vorliegenden falle, an die mit -en abgeleiteten
verbälstämme tritt (§ 161, 2), 2) im dativ pluralis der feminina auf -in (§ 189), 3)
wenn sie sowol in der schwachen als in der starken deklination an substantiva oder
adjektiva tritt, die schon auf -en ausgehen (§ 202, 5). Ferner: die endung -es fält
scheinbar fort 1) im gen. sing, von Substantiven, die auf-s auslauten (§ 176,1, § 181, 2);
„regelmässig" tritt dieses ein „bei den sächlichen hauptwörtern auf -nis"- (§ 181, 1).
Hierzu gehört 2) die erscheinung, dass die pronorainalform es häufig in nebensätzen
mit dass oder als fehlt, „ohne dass es sich aus dem hauptsatze ergänzen Hesse"
(§ 265, 4 b). "Weiter: „im gen. sing, und dat. sing. fem. und im gen. plur. aller drei
geschlechter hat Luther nacli mhd. regel bei den besitzanzeigenden fürwörtern unser
und euer die endung -er gewöhnlich und zuweilen auch bei ander sowie bei kompa-
rativen nicht" (§ 202, 7). Und schliesslich fält die verbalenduug -et bei verben,
deren stamm auf t oder d endet, scheinbar „oft ganz" fort (§225 g). Diese erschei-
ÜBRR IRANKE, riljA:\i;\t. DEIt SrilinFTSl'KAfllK I.TTTIIF.RS ■ 81
iiuiij;vii lii-nont der vi'rtassor v(M-schi(Mli'iitli(!li an di'ii angegeboiiou stellen als „alii'all''
(idor .,\vef;rall- der lietrcfrciidon endmi^eii, i'osp. ^weglassung-'' jeniM- prdMoniinaltbnn.
Davon kann alior natürlich keine ivde s(Mn. Vielmehr liegt hier einfaeh eine synkepe
des oiiduiigsvokals und daranf t'olgenth! lautliche vereiniachung des endkonsonantiHi
\or. Auf diese weise wird aus dei- vollen form brf/rrjpurn zunächst hrf/rf/rnt? und
dann hn/ct/cii nelien dei' tonn />r(/rf/>irii mit syidcoiiiei'tem ahleifuiigsvokal; oder aus
xcicliemn zunächst \rirli('iui und daini \ri('ltn/ , wie es sich etwa in dem sulistantivnm
xeirhenunferrifht nc.dieii •.riclnicumiirn-irlit , oder wie sich solch nebeneinaiuhu-stelien
auch in dem werte rcclicuhrfl nel)en reclmcnlieft noch heute fliulet und schon mancliem
schulkinde Schwierigkeit in der entscheidung bereitet hat. Pas scheinbare fehlen der
lironominalform rs nacli (htsx und ah betont schon Wimderlich ITntersu(-hungen ülier
tlen sat/cliau Lutliers 1 (Miinehi^n i8S7) s. 31; über den scheinbaren ausfall dei' prono-
niinalforni er nach snixlmi. \nid oilrr vgl. ebd. s. 17 ;';- und dazu sowie iilier die
ultMelie erseheiiumg hei dem artikel den nach den präpositiouen mt und in die bemer-
kungen im .\nz. f. d. a. XIV (1888), s. 25G fg. und s. 258. — Wie kernt v/r/w« (= hin
und hei' liewegcn) dazu, unter die „mit pi'äfixen versehenen und zusammeugesezten
tiirigkeitswörter" des § 1(!4 gerechnet zu werden? vgl. die bomerkung zu § 147. —
§ r7o. Die ausdrücke „der al)fall des auslautenden r'.s [sie!]", „diese al>werfung des
r'x |!J" ki'mnen unmöglich als schön gelten; ebensowenig im §231, 2 „der wegfall
des auslautenden es [!]", § 178 „als rest des alten n's [!]". — Dass der gen. sing,
des pronomens dn gewi'ihnlich d'^iii und nur r'inmal deiner 5. Mos. 13, 17 laute, hat
schon Grimm DWb. II, s. 148.'. und nach ihm Dietz I, s. 4G0 behauptet. "Wir haben
aber dieselbe form auch in deij/ier lialhcn Aj). gesch. 28, 21 in den Lottherschen drucken
des neuen testameuts von 1522 (sei)t. u. dec), 1524 und 1520, während Hans Lufft
(1530, 1544 45) de hui halben dafür oiusezt. — Im § 225 hätte Franke bei bespre-
eluuig der syukopieruug des „r in den alten praeseusendungeu -est und -et"- die fälle
der zweiten persou, in denen sich das prouomen du (IteyftM hetriihftn) an die enduug
lehnt, von denen scheiden müssen, in deneu das nicht geschieht, denn der antritt
dieser pronomiualform und die dadurch eintretende Verlängerung des wortes üben auf
den tonwert der verbalen endung bestimmenden einfluss. — Im § 227, II, 3 stelt Frauke
die imperativformen des singular ftand und ftehe neben anderen formen wie halt
lullte als beispiele für em schwanken zwischen erst, dem mhd. entsprechend, endungs-
loser, später alter mit endung versehener impei-ativform. Soll das verbum stehen
hier überhaupt belege abgeljen, so köute es sich doch nur um einen gegensatz zwi-
schen steh und stehe, nicht alier zwischen den zwei genanten, verschiedenen verbal-
stilmmen angehörigen fonncn handeln. Ebenso war schon im § 227, II, 1 gany nicht
als beleg anzuführen. — Am schluss des §243 wird „das unregelmässige [!]
verb sein^ besprochen. — Dem })articipium praesentis ist in der darstellung der
„koujugationsendungen" § 223 fgg. eine besondere behandlucg uicht zu teil geworden;
es beschränkt sich auf ein bescheidenes erwähntwerden im ])aradigma § 235. Und
doch bietet auch das part. praes. ein specielles Interesse durch die lautliche Umge-
staltung seiner endung in -en. Ich gebe hierfür folgende belege, zunächst aus der
Septemberbibel; der lateinische text entstamt der ausgäbe des Erasmus Basileae
1519. Nach „werden'': Mofes edier irart xittern vnd thnrfte nieht anfehaiven
(t ren/efa etits auteni Mofes, non aiidebat attendere) Ap. gesch. 7, 32; (er) n-art
zittern (tremef actus) Ap. gesch. 16, 29; nach „sein": ich bijn furchticj vnd
zittern (expauefaetus fmii , ar tremehundiis) Ebr. 12, 21; nach „kommen": dn
aller das trcyb fahe / das nitt rerparejen /rar I kam fie gittern rnd fiel für yhn
ZErrSCHRIFT F. DEUTSCHE PIIILOI-OGIE. BD. XXIV. ^
82 LUTHER
(videns aittoii vinlier, quod non latuiffet, tremens uenit ac procidif. mite jJedes)
Luc. 8, 47; deyn konig Icompt reytten auff eyncm c felis füllen (rex tuns uenit
fedens fuper ptillnm afincp) Job. 12, 15. Vielleicht gehören hierher auch beispiele
wie: wie yhr ylin gefeiten habt gen hymel faren {quem ad inodum- uidißis cum
euntem in coelum) Ap. gesch. 1, 11 neben imd als fie yhm nach fnJien yn den
hymel farend (cimique effent defixis in coehmi ocidis, ettnte illo) Ap. gesch. 1, 10;
vnnd fnnden heydc Marian vnnd Jofeph vnd das kind ynn der krippen ligen (et
inuenenint Mariam et JosepJi, et infantem pofituon in pr(pfepi) Luc. 2, IG neben
vnnd fand ... die toehter auf dem bette ligend (repcrit ... filiam iacentem
fuper Iccttim) Marc. 7, 30 und dazu yhr tverdet finden das kind ynn windet ge-
tciek eilt / ffid ynn cyner kripjjen ligen (inuenietis infantem fafeijs inuolntum,
pofitiim in 2^r(ef(ipi) Luc. 2, 12; f7id, fand fie fchlaffen (reperit eos dormien-
tes) Luc. 22, 45 neben vnd fand fie fchlaffend (reperit cos dormientes) Math.
26, 40; fiinden fie yhn ym tempel fitxen (inuenerunt illum in teniplo fedentem)
Luc. 2, 46 neben vnnd fimden den menfchen ... fit%end %u den ftiffen Jhefu (et
inuenerunt hominem fedentem ... ad pedes Jefu) Luc. 8, 35. Zu diesen belegen
nach der septemberbibel verhalten sich die ausgaben von Melchior und Michel Lotther
1524, Michel Lotther 1526 und Hans Luift 1536 folgendermassen : zittern Ap. gesch.
7, 32. 16, 29 bleibt in allen drei ausgaben, für Ehr. 12, 21 bleibt es 1524 und
1526, während Hans Lufft 1536 dafür gibt ich bin erfchrocken vnd gittere, für
Luc. 8, 47 bleibt zittern nur noch 1524, während 1526 und 1536 die stelle lautet
ka?n fie mit zittern; reytten Job. 12, 15 bleibt noch 1524, dann heisst es rei-
tende; faren Ap. gesch. 1, 11 bleibt in den drei ausgaben, für Ap. gesch. 1, 10
bleibt faren 1524 und 1536, während 1526 farend sich findet; ligen Luc. 2, 12. 16
neben ligend Marc. 7, 30, fchlaffen Luc. 22, 45 neben fchlaffend Math. 26, 40 und
fitzen Luc. 2, 46 neben fitzend Luc. 8, 35 bleiben in dieser Verschiedenheit in allen
drei ausgaben. Diese assimilation, die, lautlich niederdeutschen urspriuigs, aiich in
Mitteldeutschland verbreitet war, machte das participium in der form dem Infinitiv
gleich. Beispiele dafür hat F. Bech im programm von Zeitz 1882 zusammen-
gestelt. Man vgl. hierzu übrigens noch Behaghel Die deutsche spräche (= Das wis-
sen der gegenwart, bd. 54) Leipzig und Prag 1886, s. 208 fg. Diese erscheinung hätte
eine erwähnung gerade in der wortbiegungslehre sicher verdient, auch wenn mau,
wie Frauke es später in der syntax im § 324 tut, zwar jene formen auf -end als
participien bestehen lässt, diejenigen auf -en aber als Infinitive innerhalb der kon-
struktion des accusativus cum infinitivo betrachtet. Ob aber gerade das oben gezeigte
schwanken mcht mehr gegen die annähme des Infinitivs spricht als dafüi'?
Die mängel in der darstellung der syntax sind ebenfals schon oben (s. 72")
kurz hervorgehoben. Nur weniges sei hier noch erwähnt. Es ist nicht in der Ord-
nung, wenn der Verfasser für die syntaktischen erscheinungen in der spräche Luthers
den bei weitein grössteu teil seiner citate der bibel — hauptsächlich dem neuen
testamcnt — , also der übersetzungslitteratur entuimt, wenn er auch im § 255 her-
vorhebt, dass Luther „selbst in seinen Übersetzungen . . . sich . . . von dem direkten
einflusse fremder sprachen fast ganz freigehalten" habe, „so dass es schwer hält,
ihm volständig undeutsche konstruktionen nachzuweisen". Einflüsse fremder spra-
chen sind nun einmal in der sjmtax Luthers vorhanden: solche des lateinischen führt
Wunderlich Untersuchungen über den satzbau Luthers I, s. 57. 66. 69 an; dazu vgl.
man Rückert Gesch. der nhd. Schriftsprache II, s. 122 fgg. Franke selbst gesteht für
den periodenbau (§255) diesen einfluss unumwunden zu, für den gebrauch der par-
i'BKR FRAXKK, ORAMM. DER SniUIFTSITxArm-. I.ITTI[F,I!S 83
ticipieii § .')2r), 4, des acc. c. int'. § '.Vli. beim zouuiua § :!;?."), für „t'iui^e külmc
ellipseu" § BöO, ;">. xVucli riatzliolV, Lutliers erste iisalincnüliorsctzung spraclnvis-
sonscliaftlicli uiitorsucbt (diss. Halle 1887), s. 36 spriclit sii-li trotz eiiorjiischster
bctoimug von Luthers Übersetzungskunst für die satzbilduiig in dm }isalinon vor-
siehtig dahin aus, „dass jAitlier auch l)ci diesoi- sich liiugst nicht immer durch
den I hebräischen] gruudtext binden liisst". Es wäre zweifellos bosser gewesen, die
belege für die syntax aus Luthi'rs eigenen, urspi'ünglich in deutscher spraclu- abge-
fassten sidirifton zu wäidiMi, um von hier aus durch oine verglei(;liung mit den syn-
taktisclicn erscheiiumgen in seinen Übersetzungen zu zoigon. wie weit oder wie wenig
beide darin auseiunndergehcn. Audi kann der umstand, dass „die verschiedenen
ausgaben dt>s alten und neuen testamonts'^ in bezug auf den satzhau „^venig
variieren'-, unmüglii-h a primi als alleiniger mid strikter beweis dafür gelten, dass
Lutiier „während seiner ganzi-n schriftstellerisehen tätigkeit nur wenige
Veränderungen" im satzbau vorgenommen habe (Franke §250). — Im § i.lG, 10 liie-
tet Franke einige belege zur cntwickelung des jiei'iodenbaues in der spräche lAitliers.
Er üliernimt dabei, allerdings ohne quellenangabe, jenen irtum über Jac. .">, 4 aus
A.Lehmann Luthers spräche in seiner Übersetzung des neuen testaments (Halle 1873)
s. 141 , den auch der sonst in seineu belegen durchaus selbständige A^''uuderlieh a. a. o.
s. 04, aber mit i[uellenangal)C aufnahm, und über den ich im Anz. f. d. a. XIY,
s. 259 fg. mich ausführlicher ausgelassen habe. Solto Lehmanns buch, welches nui'
die syntax' der spräche des neuen testaments behandelt, dem Verfasser vielleicht als
vorliild gedient haben, auch seinerseits, wie schon erwähnt, eine unverhältnismässig
liohe anzahl von belegen für die syntax dem neuen testament zu entnfdimen? —
Im § 313 .,der reflexivi' gidivaucli der dative ihn/ ilir iltnoi^ behauptet Franke zu
anfang, .,im mitti'lhochdeutschen wurde von dem i'eflexiv seiner, sich noch kein
dativ auf [!] sich gebiblet" und wenige Zeilen später „Lutlier . . . gebraucht . . .,
wie teilweise auch schon in der mittelhocli deutschen pcriode geschah, sicJi
l)esouders bei Verhältniswörtern als dativ'". "Wo hat Frauke mit seiner meinuug
vom mhd. nun recht, zu anfang dieses absatzes oder zu ende? Übrigens komt die
form sicli für den dativ schon bei Notker vor, vgl. Weiuliold Mhd. gr. - §475; IL Han-
sel i'ber den gebrauch der pronomina reflexiva bei Notker (diss. Halle 187G), s. 5. —
l'l)er die von Franke im § 324, 3 gegebenen belege für den accusativus cum inflni-
tivo nach finden vgl. das von mir oben ül>er die eudung -oi des part. pracs. gesagti?.
Franke fasst tintz der daneben vorhandenen zweifellosen partieipialformeu auf -cnd
doch die formen auf -cn als iniiuitive auf.
Der Verfasser hat — das muss nocinnals ausdriii/klich liervorgehoben werden —
grossen fleiss auf die ausarbeitung seiner schrift vei'want; die auswahl des quellen-
materials ist sorgfältig, die lienutzung desselben umfassend gewesen. I^eider ent-
spricht der erfolg rncht der aufgewanten mühe; auf den anfänger kann das buch viel-
fach nur verwirrend wirken. In der beschreibung der benuzten drucke hätte mehr
bibliographische geuauigkeit bewiesen werden können, namentlich vermisst mau die
angäbe der drucker. Die litteratur über Luthers spräche ist im ganzen volstäudig;
es fehlen H. Wunderlich Untersuchungen über den satzbau Luthers I. teil: die
]U'oncniina (München 1887), sowie zwei Hallenser dissertationen dessellien Jahres:
IL Platzhoff Luthers erste jisalmenübersetzung sprachwissenschaftlicli untersucht
und J. Luther Die spräche Luthers in der septemberliibel [I]. In dem auf-
satze: Bestrel)ungen anf dem gebiete der Luthergrammatik im 19. Jahrhundert, in
dieser Zeitschrift XX (1888), s. 37 — 49 suchte ich die diesbezüglichen bis dahin
6*
erschieneuen Schriften zu charakterisieren. F. Kluge Von Luther bis Lessing (Strass-
hurg 1888) war bei der herausgäbe von Frankes schrift noch nicht erschienen. Ganz
neuerdings haben sich F. Kauffmanu Oeschiclite der schwäbischen mundart (Strass-
burg 1890) luid K. v. Bah der GrundLagen des nhd. lautsystems (Strassburg 1890)
über verschiedene hierhergehörige probleme ausgesprochen. Einen iudex hat Franke
seinem buche nicht beigegeben.
BERLIN IM SIÄRZ 1890. JOHANNES LUTHER.
The finding of WineLand the good. The history of the Icelandic diseo-
very of America, edited and translated from the earliest records by
Artliui' Middleton Rceves. With i)hototype plates of the vellum mss. of the
sagas. London, Henry Frowde. 1890. VIII, 205 s. 4». 40 sh.
Die isländischen quellen, die von der zu acifang des 11. Jahrhunderts erfolgten
entdeckung des amerikanischen continents durch nach Grönland ausgewanderte Islän-
der berichten, sind, seit sie 1837 und 1838 in den Autiquitates Americauae und
Grctmlands historiske mindesmserker seht unkritisch ediert worden waren, noch nicht
wider gedruckt worden, und es war daher ein verdienstliches unternehmen von mr.
Eeeves, eine neue ausgäbe zu veranstalten. Diese bringt — ebenso wie die beiden
erwähnten älteren werke — sowol den doppelt (in der Hauksbok und in AM. 557, 4")
überlieferten I^orfiuns Jjattr karlsefnis* wie die zwei nur in der Flateyjarbok
erhaltenen erzählungen: Eiriks J)attr rauda und Groeulendinga {)attr (gewöhn-
lich zusammeugefasst miter dem titel Eiriks saga rauda). Der in den genanten
drei handschriften bewahrte text der beiden sagas ist von Eeeves auf 55 phototypier-
ten tafeln, deren ausführung das höchste lob verdient, volständig widergegeben wor-
den; gegenüber steht ein 'zeileugetreucr abdruck, der jedoch leider — was doch
sonst in facsimile - ausgaben nicht üblich — in normalisierte Orthographie gekleidet
ist. Wir hätten lieber gesehen, wenn der herausgeber seinen tafeln einen kritisch
berichtigten text (diesen natürlich normalisiert) angehängt hätte: dass er dies unter-
lassen, ist um so weniger begreiflich, als er in der von ihm beigefügten englischen
Übersetzung eine art von textkritik zu üben versucht hat, indem er beim I*oifnins
|)ättr die beiden handschriften benuzte und in der Eireks saga rauda eine lücke aus
der jüngeren Olafs saga Tryggvasouar ergänzte. Er hat jedoch in der auswahl der
Varianten aus Hauksbok und AM. 557, 4" (ich bezeichne diese beiden handschriften
im folgenden mit A und B) das richtige nicht immer getroffen und zu seinem scha-
den auch die hilfe verschmäht, die hier und da aus anderen denkmälern, uameutlicli
aus der Landnämabok, zu gewinnen war, eine hilfe, die um so wilkommener ist, als
aus den beiden membi'anen des I^jrfinns {)attr ein befriedigender text sich nicht überall
herstellen lässt. Beide nämlich stammen — allerdings nicht in allen paitien — von
einer und derselben handschrift ab, aus der sich gemeinschaftliche fehler in beide
vererbt haben". A 93 ^ .30 fg. = ß 27^, 28 fg. steht in beiden handschriften fol-
1) Warum ilor lierausgobor dio beiden liss. einer und derselben saga durch vorschiodeiio titel
unterscheidet (er nont den text der Hauksbok I'orfinns Jättr karlsefnis, den des AM. 557, 4"
dagegen Eiriks saga rauöa) verstehe ich nicht. Es empfiehlt sich, um nicht unliebsame misverständ-
nisso zu veranlassen , bei der alten , wenn auch nicht recht passenden bezoichnung zu bleiben , also für
den in der Hauksbok und in AM. 557, 4" erhaltenen bericht nach wie vor den namen I'orlinns Jattr
zu verwenden, für dio ,,Vinlandssaga" der Flateyjarbok dagegen den namen Eiriks saga rauöa.
2) Damit ist denn natürlich auch über Finn Magnusens törichten vorsuch, die verschiedonlieiten
von A und H dadurch zu erklären, dass beide unabhängig von einander alte lieder in j^rosa aufgelöst
ÜBER KEEVES, ■\VINKI.ANn 85
gendcs: ])rir EiriLr iirdii sckir </' Ihirsi/csliii/i/i. Ifaini /ijVi s/,/)/ (.s///adii. I!) i Eir-
ih'srdiji, in Kijj<'lfr Icijnd! Iionuiii i Diiinditirniiii . iitcihiii J)cir pan/ts/j- /c/'f/id//
haus /an cijjdriKir. Ifdi/ii sin/di pciii/, n/ Ihuui alhidi ut Icilu /mids ficss er
Guimbjnni, San Ulfs Irdlm, sd usw. Diese .stelle, die licoves s. 30 nach dein texte
von A 1> wilrtlieh übersezt, ist natürlich vecdi'riit, denn pc/'in lässt sich auf ni(;hts
anderes beziehen als auf /r/r pmu/rsfr. die feimli.' Kiriks, wähivnil es klar ist, dass
dieser die rede nur an seine freunde und bi'sehützer hat rieliten können. Schlai^'on
wir nun die Landn;inia auf, die für den aiifaiiij,' des I'orünns |i;Lttr zweifellos die i|uelle
gewesen ist, so linden wir doli im M. kapitcl des 2. l)uclii's (Islend. sögur 1'-', iOI)
einen volkomiuen tadeUoseii text: /hir Kiriln' //rd/i sc/:/r d piJrsitcspiiifji. Ihiiu/
hji'i sl;iji I E/'r/l.'snii/i . c» Eiijolfr liijndi hninmi i Vninnmynhji . iiirdau Jnir J'oi-
ijcslr Icihidii I/iiiis inii i'jijar. pc/'r }>ii rl)iiir ii. nie Eiijnifr <il: Sljirr fuhjdit
EiriLi dt II III ct/jar: Ikiiih smjdi Jxliii usw. Die' gespeil gedruckten wurte wai'en
in der gemeinsamen (juelle von A und 1!, die mit ;' bezeichnet werden mag, zwar
lacht verloren — wir lesen sie in A Ul", 1. 2, in ]> 27'', .33 fg. — aber sii' stan-
den sclion dort an einem fals(dien ulatze, was nur dadurch sich erklärt, dass der
schreilier einer noch ältei'eii handsclirift (,;) beim copicreu seiner vorläge («) von ilem
ersten cnjtir auf das zweite abgeirt war und iiifolg(^ dessen die dazwischen stehenden
Worte ausliess. die er aber, sobald er seines fehlei-s iune wurde, am rande nai^htrug;
von hier hat sie dann ein jüngerer eopist (;' oder der Schreiber eines zwischen /
und j-; liegenden Zwischengliedes) in df.'U text zurückvcrsczt, wenn auch an eine
unrichtige stelle. Zieht man den ]iarallelbericht der Eirikssaga (Fiat. 222'') und der
jüngeren (Jlafs saga (Fnis. II, 214) hinzu, der ebeufals auf der Laiidminia basiert,
den text derselben aber wesentlich verkürzt hat, so wird die richtigkeit unserer
annähme bestätigt, denn auch hier heisst es: er ha im (Elrikr) rar luiiiiii, fnl'j(li('
[leir Sti/rr honniii dt um cijjar; Eirilr sagäi Jirim, at liauii a-lladl at hita lands
usw. Die vergleichung einiger wenigen zeilcn von A, B und Landuäma ergibt also
schon ein für die tcxtgeschichte des I'orfinns |);ittr incht unwichtiges resultat, das
ich für aufmerksame leser nicht näher zu formulieren brauche.
Eine zweite stelle, an der die Vernachlässigung der quelleuschriften si(di gerächt
hat, steht ebeufals im 2. kapitel des IVrlinns {.ättr (A 93'', IG fg. = B 27'', 13 fg.).
A liest: Elrikr fehl: pd J>nrhildar. duttiir Jiiruialar Atlasviiar (jI,- parhjaiyar Iniarr-
arbrliti/ii er pd d tf l J'orbjnrii hinii liaitkdalslrl ; B hat statt der gespertcn Worte:
cit pd dtti dar. A bezeichnet somit den I'orbjijrn als den zweiten gatteu der I'or-
bjorg, während m' nach B ihr erster war. Reeves, der iu seiner Übersetzung (s. 29)
der lesart von B folgt (who had bcen married before to Thorltiorn of the Haukadal
family) hat damit einen schweren kritischen fehler Ijegangeii, da die fassung von A
durch die Landnäma (Isl. sögur I-, 103; 130, n. 11; 3.j0), die widerum von Flateyj-
arbok (222, 4) und von OsT (Ems. II. 213) secuudicrt wird, bestätigung erhält.
Übrigens war die priorität von A auch ohne vergleichung der übi'igeu (juellen leicht zu
erkennen, da die lesart von A durch den uachfolgendeu satz direkt als die allein mög-
liche erwiesen wird: Ee\ Elrikr pd, iiontan ok ruddi land i Haukadal uk hjd d
Elriksstndiiii/ hjd ]"af:hnrii{. rörhildr leiste demzufolge, als Eirikr um sie freite,
bei ihrem Stiefvater Dorliji^irn im llaukadalr, und der wünsch, seinen Jiuumehrigen
verwanten jiäher zu sein, war ohne zweifei die veranlassung, dass Eirikr seinen bis-
hätten — eine hyputliese , durch die sich wuiidorbarer weise selbst MObius (Cal. 1.j3j blonden lioss — das
urteil [gesprochen.
86 GERING
herigen wohnsitz Draugar iu den Vestfirctir aufgab und nach dem Hvammsfjordr über-
siedelte. Die Worte Rex Eirikr — Vatxhorni muste ich nach B geben, da A hier
einen ganz verwirten und unverständlichen text bietet. Reeves hat denn auch dies-
mal mit recht seiner Übersetzung A zu gründe gelegt, dem hier die Laudnäma, Fiat,
und OsT bestätigend zur seite stehen. Es ergibt sich aus dem gesagton, dass A
und B von einander unabhängige repräsentanten des verlornen archetypus sind, dass
bald die eine, bald die andere — zuweilen aber auch keine von beiden — die echte
lesart überliefert hat.
Im algemeiuen erweist sich jedoch die ältere haudschrift A auch als die bes-
sere und sorgfältigere, B als die minder gute und nachlässigere. Namentlich hat
sich der Schreiber von B eine reihe von auslassungen zu schulden kommen lassen.
94'', 27 steht in A: pat finni per mi, at fe tnitt pverr er slik rää gefiä mer —
die gespert gedruckten unentbehrlichen worte fehlen in B. Weitere Kicken finden
sich z. b. 95% 1 {fyrir lausafjär sakir); 23. 24 (ok väru allar sjjdkonur); !)ü% 10
{en i vetr); 26. 27 (en peir vistuäu hdseta med böndum); 96'', 6 {sjd at sinu
rdäi); 97", 1. 2 (su7n tre — ski2)flaki] die erzählung wird durch diese auslassung
ganz unverständlich); 97'', 11 {u7n hausUt til nafna shis); 23 (fQrn vit mi, Ouä-
ridr); 98% 33 {liimini dcmäa)\ 98'', 15 — 18 {Maar — skipi: das äuge des abschrei-
bers war von skipi z. 15 auf das gleiche z. 18 widerkehrende wort abgeirt); 28. 29
{varning — hafa pttrfti); 99% 12 {i fdtoeku landi); 99'', 34 {eptir pvi — sayt)\
100% 25 {peir hqfäu — skinn: auch hier erklärt sich die lacune dadurch, dass
zwei Sätze hinter einander mit peir beginnen) ; 29 {pd svd smdtt) ; 30 {sem dar) ;
100'', 1. 2 {skrcelingar — siäan)\ 4 {pvi ncer — sauäarvqmb); 9. 10 {Pviat —
konia)\ 28 — 30 {tok upp — tök ein ok: widerum abspringen von tök z. 28 auf das
gleiche wort z. 30); 101% 11. 12 {alt — rjöär i); 26. 27 {ok pat — vegna)\ 29 {ok
stöä — uro: hier haben zweifelsohne die kurz nach einander vorkommenden Wörter
vdrti und uro den ausfall verschuldet); usw. usw. — 101", 5 liest A: vdrto par
fyrir alls gnöttir pess er Peir purftu at hafa; B hat statt dessen nur: er par aus
konar, hat also das Subjekt hinzuzufügen vergessen (Reeves sezt aus A gnöttir ein,
obwol die incongnienz zwischen prädikat und Subjekt zwar nicht beispiellos, aber
doch äusserst selten und an uusrer stelle höchst unwahrscheinlich ist). Eine schlimme
Verwirrung hat der liederhche Schreiber von B 34'', 28 fgg. (r= A lOP, 16 fgg.)
angerichtet. Die stelle lautet in A: porvaldr Eiriks son raiiäa sat vid styri, ok
skaut Einfoetingr qr i smdparma honum. porvaldr dro üt qrina ok mcelti:
„Feitt er um istruna^, gott land hqfum ver fengit kostum, en pd mcgnin ver
varla njöta". In B lesen wir statt dessen: Porvaldr son Eiriks hins randa. pd
mcelti Porvaldr: „Gott land hqfum ver fengit". pd hleypr Einfaitingrinn d brott
ok nordr aptr ok skaut ddr i smdparma d porvaldi. Mann drö üt qrina. pd
mcelti Porvaldr: „Feitt er um istruna". (!!) — Eine ähnliche gedankenlosigkeit ist
wenige zeilen später zu finden (B 35% 2 fg. = A 101% 29 fg.). A liest: par kom
til hit fyrsta haust Snorri son Karlsefnis ok var hann pd prevetr er peir föru
brott. Statt der gesperten worte finden wir in B: par pann, eine lesart, die ganz
unsinnig ist und schwerlich durch conjectur hätte geheilt werden können. — Von
leichteren flüchtigkeitsfehlern seien angemerkt: Sl**, 28 vigda B statt ovigda A; 37
vigri B statt övigdri A; 32% 22 ügladr er B statt ogladari en A, usw.
1) Ob liier niclit bewuste nachahiniuig der bokanten crzcählung von dorn endo dos t'ormöör Kol-
brunarskäld (Hkr. U. 498 "*) vorliegt?
ÜBEU REEVKS, -WINELAND 87
Srltenci" sind ilcin jivgiMiübcr die nUlo, in drncii 1] di'ii vniv.u;;' vrixlieiit. Einer
dcrsolbeu hat ohen schon orwiihnung gefunden; icli luge iioeli einige weitere lielegc
iiiuzu. A Ü4", 3 = 1)28% 2 inuss man der leztcrcn liaudschrift iulgen: Krc?^ Eiriln-
fii'/)it sI:iiI(Ih rrräd at prilikii fransli sein (A: ef) Ikdui »uef/l srr rld /:<)ii/((. cf
f)cir /://n)// (A: o/c /,i/iui/ fwir] liaiis af Jixrfic denn JiciliLii ert'urdert als eorrela-
liv unbedingt ein ,sr/«, nicht ein <'f, vgl. /.. li. X.jäla 134'-': cl: ninn . . . reifa per
s/ikt liä seilt ek ind incr rhl I:niii(i. — A liest 97% 29 fg.: ])d iikiUI Eirihr:
..Kdtdri siijldii vir i sioiiar i'il or /irdiiiKiii. cii iin cru cfr. B31% Ki fg. luit
zwar aus naehlässigkeit die werte Jhi — Kirilr ausgelasst'u , gibt aber den feigenden
satz zweifellos in richtigerer gestalt: Kdtari rdr/i prr i s/nuiir er [>r r fi'inid dt or
jirdiiniiii rii iid cr/r per. Die' fassung von ]> würde uns zu der annahnn' nötigen,
dass Eirikr trotz der schweren Verletzung, die er sich auf dem -wcgo zum schiffe
durch den stürz vom pferde zugezogen hatte, wirklich an bord gegangen sei und die
cxiieilitien mitgemacht habe, einer amuahme, die selbst (uist. Storni ( Aarl). 1887.
s. 3 11) für möglich gehalten hat. wie sie auch Ki'eves in seiner Übersetzung (s. 37j
aeceiitierte. Dass die uidu'itiseheu herausgcber von AA und GhM an der ül)erliefe-
rung in A keinen anstoss genommen ha!)en. ist weniger wunderbar. — 97'', 2-1 fg.
finden wir in A den nachstehenden passus: 17/r pd porsfcinn liorfinn lieniii; pnfd
Im im ddr litift liafa sriiui i lieridi o/r rllja l)erja lidif. B dagegim bietet (31'', Ifg.):
]'ar pd ()/: re r/:sfj'') r i n )i i/nr/iuii, er lienni pütit dar liafa sripu i heiidi w^w. Es
kann keinem zweifei unterliegen, dass auch hier die von B überlieferte lesart, die
diesmal auch von Eeeves der ül)ersetzimg zu gründe gelegt ist, in den text eingesezt
werden muss, denn es ist klar, dass dem ül)el berufenen i-crhsfjdriGnv^Y. di;r zuerst
der epidemie erlegen ^var und dessen leiclie siiiiter auf auordnuug f'orsteins ver-
bi'ant werden muste, und nicht diesem die schuld an den naidifolgenden todesfällen
und der s[iukerei der verstorbenen {liann re/dr nlluiii (iiitrijiinijiiiii peiin sein- her
liafa rer/f i vetr A 98% 24 — B 31'', 30) zugeschrieben ward. In AA und Gh]\[
ist natürlich wider die unsinnige lesart von A im texte belassen. — Ferner gehöirt
hierher die stelle A 101", 13 fg. = B 35% 37 fg. Sie lautet in A: Aunat sui/nir
c/iti'r fi'ir K'tr/sefiii til Islands ol,- Gadridr med humiiii , eil: für heim i Ii^e/jiiisiies.
Mikh/r haus pnttl sein henni hcfdi litt til hostar fckif, ol: rar d uär idr eigi heiiita
enii fijrsta retr. En er hon jirdfa i af (Jirlridr rar l:rcinisl:nrnnijr inihill , für
hon heim ol: rdru samfarar peira (judar. In B dagegen L'sen wir: Annat sinnar
rptir jdr Karlscfni til Islands oh Snorri ii/eä honuiii, ol: [til] hds sins i Ueijni-
ncs. Mödnr haiis pofti sein hanii hefdl litt til kosfar tehit, ol: rar lion eiyi
hcimfaj par hinii fijrsta retr; ol: er hon reijndi at (liidridr rar sl:<>rni>(jr
inihill. für hon heim, ol: rdrn sainf/edr [Schreibfehler statt samfdreir] pciret tjodar.
Dass die im ersten winter von Karlsel'uis hause sich fernhaltende, dann aber dahin
ziu'üekkehrende, eine und diesollie person, und zwar seine mutter, nicht seine frau.
sein muss, bat den herausgeberu von AA und GhM nicht einleuchten wollen, obwol
sie doch soviel sahen, dass in der üljcrlieferung von A eine Schwierigkeit vorhanden
war, die sie freilich in der dänischen Übersetzung durch ein kleines tascheus[iieler-
kuuststück Ijeseitigt haben (för hou heim wird gegelieu: tillod hun hende at drage
hjemü). Reeves hat mehr einsieht besessen und sich dieses fehlers nicht schuldig
gemacht: nur hätte er auch darin B folgen sollen, am anfange des besprochenen
liassus Snorri statt Gadridr in seine versiou zu recipieri-n. — • Endlich sei uorh einer
stelle gedacht, wo durch vergleichung beider handschriften jedem methoilisch geschul-
ten Philologen die herstellung des echtim ohne besondi'rn aufwand von Scharfsinn
hätte gelingen müssen. Es handelt sich um die dem forhallr veiclimactr zugeschrie-
bene Visa A99'', 27 fg. =; B33'', 13 fg., die ich buchstabengetreu nach A widergebe:
Hafa kvadv niik meidar
malmj)i«gs er ek ko^M hingat;
mer sam«V \and iyr lydu??z
lasta diyckiii bazta.
billdz hattar verdr bvttv
beidityr at styra,
helldr er sva at ek kryp at kelldv
ko>//ad vin a grou mina.
B hat folgende abweichimgeu : z. 2 fehlt ek; 3 litt statt land; 5 hattr statt hattar;
veräek statt verdr; byttu statt bidtu; 6 rciäa statt styra; 8 komit statt koinaä. —
Es versteht sich, dass der text von B au ein paar leichteren gebrechen leidet {hattr
und komit) ^ zu deren heilung es der hilfe von A kaum bedurft hätte; dagegen wird
z. 6 die lesart von B zu bevorzugen sein, da avoI das verbum reiäa, schwerlich aber
styra von der handhabung eines schöpfgeßisses gebraucht werden konte und überdies
derselbe ausdruck in einer lausavisa der Magnus saga berfcetts (Hkr. U. 652^" '-') sich
widerfindet. Z. 3 ist in beiden handschriften hendingalaus , also fehlerhaft, übeiiie-
feii, doch ist B insofern dem ursprünglichen näher geblieben, als es in litt den
durch den reim geforderten vocal bewahrt hat. Ändert man das wort in lip, so ist
die zeile in Ordnung. Austoss erregt dann allerdings noch das erste visuord, weil
es nur einen studill enthält {mik kann natürlich als unbetontes wort nicht in betracht
kommen). Der fehler kann nur in hafa stecken, das also durch ein mit m anlau-
tendes verbum ersezt werden müste, und es bietet sich hier, soweit ich sehe, kein
anderes als mcera, das auch dem sinne nach vortreflich passt, weil es seiner bedeu-
tung nach den direkten gegensatz zu lasta bildet und im ersten visuhelmingr durch
die scharfe autithese die enttäuschung des I'örhallr weit kräftiger zum ausdruck
gelangt. Die Strophe würde demnach folgende gestalt gewinnen:
Maera kv('^{)umk mei{)ar
malm{)ings, es kvamk hingat,
(mer samir lij) fyr ly|)um
lasta) drykk enn bazta;
Bilds hattar ver{)r byttu
beij)i-Tyr at rei{)a,
heldr's at krypk at keldu,
kvamat vin a grgn mina —
in prosaischer Wortfolge: malmpinys meipar kv<)pu, es ek kram hinyat, mik mcera
enn baxta drykk: mer samir (at) lasta lip fyr lypiim; Bilds -hattar beipi-Tyr
verpr at reipa byttu: vin kvamat d yri^n mina, heldr es at ek kryjj at keldu, d.h.
„die bäume des kampfes (die mäuner) sagten, als ich hierher kam, dass ich den
ausgezeichneten trank loben werde: (statt dessen) muss ich das nass vor den leuteu
tadeln; der den hut dos zwerges (den heim) begehrende mann (der krieger, d. h.
ich) muss das schöpfgefäss handhaben — wein kam nicht auf meine lippe, vielmehr
muss ich zur quelle kriechen".
Die vorstehenden ausfüliruugon haben , denke ich, zur genüge erwiesen, dass
eine kritische bearbeitung der Yinlandss(jgur, vor allem des toiünns |)ättr, nach wie
fUEU REEVES, T^INELANH 89
vor ein bedürfnis ist: lioffentlich wird diu soeben von dem Koi)onhageuer Sanifuud
IUI gekündigte neue ausgäbe allen berechtigten anforderungen genüge leisten. Sie wird
beim I'orfinns \>aÜv den text der llauksbök zu gründe legen, diesen aber aus AM.
537, 4" und den parallolbericliten (Landnäma, Olafs saga Tryggvasonar usw.) emen-
dieren müssen. Freilicli reicht dies recept nicht überall aus. Es ist schon oben
(s. 84) angedeutet, dass das Verhältnis, in dem die texte A und B zu einander ste-
hen, nicht durchweg ein gleichmilssiges ist. Während nämlich in dem grösseren teil
der saga beide handschriften zweifellos von einer gemeinsamen vorläge abstammen
und so nahe zusammengehen, dass eine controle der einen dui'ch die andere möglich
ist', ist in einem abschnitte die Verschiedenheit so gross, dass sie auf die wilkür
eines abschreibers nicht zui'ückgeführt werden kann. Der betreffende abschnitt reicht
von A99% 14 = B 32% 30 bis A99% 26 = B 33 '\ 12. Hier wird daher der künf-
tige herausgeber dem beispiele der Autif^uitates Americauae folgen und den text bei-
der Codices zum abdi'ueke bringen müssen.
Es erübrigt noch, ein paar werte über die einleitenden kapitel zu sagen, die
Reeves seinen texten vorausgeschickt hat. Als hauptzweck des Verfassers ergibt sich
aus denselben die absieht, die tatsache der vorcolumbischen entdeckung Amerikas,
an der man seltsamer -weise in den Vereinigten Staaten noch bis auf den heutigen tag
zu zweifeln scheint, gegen diese übertriebene Skepsis sicher zu stellen. Er sammelt
daher alle stellen der isländischen litteratur, die zur bekräftigung jener tatsache die-
nen können, und sucht vor allem zu beweisen, dass aus inneren und äusseren grün-
den dem t'orfl.nns |)attr, der sicherlich auf berichten von augenzeugen basiere, ein
hohes niass von glaubwüi-digkeit zu vindicieren sei, während er die erzählungen der
Flatoyjarbök, die man früher in den Vordergrund zu stellen pflegte, nur als eine
vielfach getrübte mu\ unzuverlässige quelle betrachtet. Wir haben um so weniger
Ursache, dem Verfasser liierin zu widersprechen, als Gustav Storm in seinen tref-
lichen Studier over Vinlandsreiseme (Aarboger 1887) zu denselben ergebnissen gelangt
ist. Die ausführungen von Reeves sind im wesentlichen nur eine — wenn auch in
einzelheiten weiter ausgeführte — reproduction von Storms Untersuchungen. Diesem
folgt er auch m der chronologischen fixierung der grönländischen entdeckuugsfahrten
nach Amerika und in der hypothese über die geographische läge der im 11. jalir-
hundert aufgefundenen und betretenen landstriche. Die litteratur über die Viulands-
reisen ist jedoch selbständig und einsichtig benuzt. Sorgfältige anmerkungen zu den
texten und ein register beschliessen das buch, das, als erstlingsarbeit betrachtet, eine
recht tüchtige leistung ist, der sicherlich reifere fruchte gefolgt wären, wenn nicht
ein jäher tod den herausgeber der Wissenschaft und und seinen freunden vorzeitig ent-
rissen hätte.
KIEL, MÄEZ 1891. HUGO GERING.
1) Bekantlich ist bei der altnord. prosalitteratur ein verfahren, wie es der kritische herausgeber
bei einem klassischen autor oder einem mhd. dichter anwendet , in vielen fällen unmöglich. Die hss.
weichen nämlich oft so bedeutend von einander ab , dass zwar einzelne fehler durch vergloichung sich
auffinden und beseitigen lassen , eine durchgängige herstellung des ursprünglichen textes aber unausführ-
bar ist, da die abschreiber, wenn sie auch an dem tatsächlichen nichts änderten, an den Wortlaut der
vorläge nicht ängstlich sich banden. Es bleibt daher häufig nichts anderes übrig, als die relativ beste
hs. zum abdruck zu bringen und nur offenkundige fehler mit hUfe der andern zu berichtigen. Auf diese
aufgäbe wird auch der herausgeber des I'orflnns Jiättr sich beschränken müssen.
90 F. VOGT
Wilhelm Wisser, Das verhiiltnis der miuneliederhandschriften ß und C
zu ihrer gemeinschaftlicheu quelle. Programm des gymnasiums zu Eutin.
Ostern 1889. 42 s. 4.
Scherer hatte iu den Deutschen studien II s. 15 anni. 1 eine abhandlung in
aussieht gestelt, in der er es unternehmen wolte, die den handschriften B und C
zu gründe liegende liedersamlung so genau wie möglich herzustellen, und eine ähn-
liche Untersuchung kündigte Apfelstedt Germ. 26 , 229 an. Beidon war es nicht ver-
güut ihren vorsatz auszuführen, und so bietet denn die vorliegende schrift den ersten
versuch, das bisher nur mit bezug auf diesen oder jenen einzelnen dichter erörterte
Verhältnis jener beiden nächstverwanten sammelhandschrifteu im zusammenhange dar-
zustellen und so zugleich ein bild von ihrer gemeinsamen quelle zu geben.
Die in B von der ersten band geschriebenen 25 dichter kehren auch in C
wider, teilweise iu derselben reihenfolge; bei ihnen allen ist die Übereinstimmung der
beiden handschriften so gross, dass man in jedem einzelnen falle eine gemeinsame
quelle für sie voraussetzen müste, wenn B und C jedes nach freier auswahl jene 25
zusammengestelt hätte. Nähme man dieses an, so müsten also B und C in aUen
25 fällen unter den verschiedenen samlungen, die sich von den liedern eines dichters
in Umlauf befanden, immer gerade auf ein und dasselbe Uederbüchlein geraten sein;
das ist gewiss nicht wahrscheinlich, und so zieht denn Wisser den schluss, dass bei
aUen 25 dichtem ein und dieselbe gemeinscliaftliche quelle den handschriften B und
C zu gi'unde gelegen habe. Für die bestimmung der art und weise, wie B und C
mit dieser ihrer quelle (Q) verwant seien, genügt es daher seiner meinung nach,
das Verhältnis der beiden an einem der 25 dicliter zu prüfen, da, was für ihn nach-
gewiesen werde, auch für- die übrigen als teile desselben ganzen gelten müsse.
Von diesem gesichtspunkte aus untersucht Wisser die äussere überHeferung
der gedichte Friedrichs von Hausen. Bekantlich stimt hier, abgesehen von einer
Versetzung der strophe MF 46 , 39 in B , die reihenfolge der Strophen in beiden hand-
schriften überein. Nur werden die zu einem tone gehörigen und in B aufeinander
folgenden Strophen MF 42, 1 — 27. 43, 10 — 27 in C dm-ch 14 Strophen (zwischen
MF 42, 27 und 43, 10) unterbrochen, von denen nur die erste (MF 43, 1) demselben
tone, die übrigen aber 5 anderen tönen Hausens angehören. Und ähnlich werden
später die nicht nur zu einem tone, sondern auch zu demselben Hede gehören-
den in C aufeinander folgenden Strophen 47, 25 — 32 und 47, 17 — 24 durch 12 Stro-
phen unterbrochen, welche jedoch nicht Hausen, sondern Eeinmar und dem mark-
grafen von Hohenburg zugehöreu. Nach der bisher herschenden annähme wurde
diese erscheinung darauf zurückgeführt, dass einmal C, das andere mal B an der
betreffenden stelle in Q eine einlage vorfand, die der eine wie der andere ohne rück-
sicht auf den Zusammenhang mit abschrieb. Wisser prüft die Stichhaltigkeit dieser
aufstellung, indem er ein büd von dem format der handschrift Q zu gewinnen sucht.
Da sowol die erste als auch die lezte der in B C zwischen den beiden fraglichen
stellen stehenden neun Strophen durch die einlagen von einer strophe des gleichen
tones getrent wurde, der sie zuvor doch ohne zwischenraimi gefolgt oder voraus-
gegangen sein wird, so müsten jene 9 Strophen in Q gerade ein von anfang bis zu
ende beschriebenes blatt ausgemacht haben. Gegenüber diesem 9 Strophen umfassen-
den blatt von Q steht aber die erste einlage als ein blatt von 13 oder 14, die zweite
als ein solches von 12 Strophen; und wie die strophenzahl, so geht auch die gesamt-
heit der Zeilenlängen bei den vermeintlich eingelegten blättern erheblich über die
einem blatte der handschrift Q zukommende hinaus. Da somit das format dieser bei-
ri3EK WISSKK. LIKDEIillANUSClllillTEX 91
ileu ciiilagen ein anderes gewesen sein inüstc als das der handsclirift, (^>, so liiilt der
Verfasser jene liypotheso für unniöglieli. Er meint, ]] und C können nicht unmittel-
bar aus einer gemeinsamen vorläge abgeleitet werden, vielmehr sei jedem der l)eidcu
eine mittelstufe (b untl c) \i»rausgegang(!n. Die äussere bescliafTenheit dieser vcimit-
telndeu liandsehriften sucht nun der Verfasser vermutungsweise herzustellen; er
bemüht sich wahrscheinlich zu machen, dass die mehrstroplicu, welche 1» zeigt, in b
ursiirüuglich auf dem lezten, für nachtrüge bestirnten blatte der die lieder Ihiusens
enthaltenden läge aufgezeichnet, dann aber durch blatte -r vertausch ung an die stelle
geraten seien, wo sie in B vorliegen, während die C eigentümlichen strophcn CT) —
17 schon in (^. und zwar als lezte stroiihen der ganzen samlung enthalten waren;
in c fülten sie dann gerade das lezte lilatt, welches nun widerum durch vertauschung
au die stelle geriet, wo es in C abgeschrieben wurde (zwischen MF 43, 0 und lOj;
in li kam das blatt, welches sie enthielt, au einen platz, wo es leicht ül)ersehen
werilen koute und von U übersehen wurde.
Mit so minutiöser Sorgfalt diese Untersuchungen auch geführt sind — die
summe der Zeilenlängen des einzelnen blattes wird bis auf den millimotei' berechnet ! —
ich glaube doch nicht, dass sie zu irgend sicheren und praktisch verwertbareu resul-
tatcu geführt haben und führen kouten. Zunächst ist es meines orachtens dem vei-
fasser nicht gelungen, Müllenhoffs hyi)othese über jene beiden einlageu endgültig zu
widerlegen. Er verfährt, als ob Müllenhoff behauptet hätte, dass sie aus je einem
lilatte bestanden hätten, während er doch vorher selbst Müllenhoffs woiie angeführt
hat, nach denen die in B überlieferten plusstrophen, als B abschrieb, der vorläge „als
ein zufällig eingelegtes doppelblatt " einverleibt waren, die fraglichen mehrstrophen
der handsclirift 0 aber „ ursi)rünglich ein lieder büchlein für sich bildeten^, wel-
ches ähnlich wie jenes doppelblatt in die ältere samlung eingefügt und so von C
vorgefimdeu wunle. Es waren also demnach zwei selbständige, zufällig in die sam-
lung geratene blattpaare, und diese konten am Schlüsse ebensowol einen liclieliigcn
unbeschriebenen räum für nachtrüge enthalte]!, wie nach AVissers annähme die Hau-
sens heder umfassende samlung in b; sie konten also auch, wenn man das wirklich
für erforderlich halten will, sehr vrol dasselbe format haben, welches nach Wissers
annähme die handsclirift Q hatte. Aber dieses format lässt sich für Q gar nicht ein-
mal so sicher erweisen. Jene 9 durch die beiden späteren cinlagen nach vorne und
hinten abgegrenzten strophcn der handschrift Q, nach denen der Verfasser den blatt-
unifang dieser handschrift bestirnt, brauchen in ihr-, da sie verschiedenen tönen ange-
hören, keineswegs alle unmittelbar aufeinander gefolgt zu sein, sondern es könteu
zwischen dem schluss eines tones und dem beginn eines neuen lücken ganz unbe-
stinibaren umfanges für nachtrage freigelassen sein, wie das in (_' so liäufig geschieht.
Erscheinen somit A\'issers einwürfe gegen die ältere hypothese als nicht aus-
reichend begründet, so lässt sich nun bezüglich seiner eigenen aufstellung mit
bestimtheit nachweisen, dass der Sachverhalt nicht so gewesen sein kann, wie er
ihn sich versteif. Die Voraussetzung für seine erklärung des einschuhos der strophcn
.5 — 17 in C ist bei ihm die, dass in c str. 1 — 4 auf dem ersten blatte, 18 — 53 auf
den 3 folgenden und 5 — 17 auf dem lezten gestanden halien. Nun konten aber die
Strophen 1 — 4 weder ein blatt noch eine seite einer handschrift des formates, wie
es der Verfasser nach jener berechnuug für c voraussezt, auch nur annähernd aus-
füllen. Er erklärt das daraus (s. 14 anni. 3), dass (entsprechend der annähme Lehfelds
Paul-Br. Beitr. li^ 352) c ebenso wie Q und b eine Sammelhandschrift war, in der
den liedern Hausens die eines anderen dichters unmittelbar vorausüienaen. Dieses
92 F. VOGT
ist aber sicher nicht der fall gewesen. Zunächst vor den liedern des dichters muss
vielmehr in c sowol wie in Q und in b sein bild gestanden haben; die Übereinstimmung
der abbildung Hausens in B und C macht das zweifellos. Hätte dieses bild nun über
den str. 1 — 4 noch auf derselben seite gestanden (was übrigens dem in B und C
beobachteten brauche widersprochen haben würde), so müste das format von c ein
viel grösseres gewesen sein, als "Wisser aunimt; stand es dagegen auf der Vorder-
seite, so war die ganze rückseite durch jene 4 Strophen ausgefült, und das einzelne
blatt jener handschrift hatte dann einen geringeren umfang, als es nach der aufgestel-
ten berechnung der fall gewesen sein müste. Damit stürzen aber auch die auf diese
gegründeten folgerungen.
Es zeigt sich hier, was Wisser s. 4 anm. selbst zugegeben hat, dass eine ent-
scheidung der fragen, die er aufwirft, ohne heranziehung der in B und C vorliegenden
abbildungeu nicht getroffen werden kann. Diese kommen auch schon in betracht,
wenn es sich darum handelt, ob wir als gemeinsame grimdlage von B und C überhaupt
eine einzige handschrift anzunehmen haben oder nicht. "SVisser sezt das ohne genü-
genden grund voraus. Die Übereinstimmung von B und C erklärt sich an iind füi*
sich doch ebenso gut, wenn Q eine handüchriftensamlung, als wenn es eine sammel-
handschrift war. Und die reiheufolge der dichter in B und C spricht keineswegs für
das leztere. Sie zeigt mehr abweichung als Übereinstimmung; das bringt die Über-
sicht, die der Verfasser s. 7 gibt, nicht zur geltung. Übereinstimmend folgen in B
und C nur auf einander: 1. Hausen, Rietcnburg, Seveüngen; 2. Muuegur und Rute;
3. Heinzenburc und Seven, denen an und für sich wie in B so auch schon in Q
Rubin gefolgt sein könte, der in C nur durch den in B nicht enthaltenen AValther
von Metz von Liutolt von Seven getrent wird; doch ist das aus anderen gründen
nicht eben wahrscheinlich. Dagegen mögen (4.) Singenberg und Künzich (in C durch
Sahsendorf getrent) schon in Q vereinigt gewesen sein, ebenso wie endlich (5.) kai-
ser Heinrich und Rudolf von Feuis, zwischen die nur in C neun in B nicht über-
lieferte fürstliche dichter eingeschoben wurden. Dass B und C übereinstimmend durch
den kaiserlichen minnesinger eröfjiet werden, ist begreiflich genug. Dass aber im
übrigen jene einzelnen complexe von 2 bis 3 dichtem sich verschieden auf die sam-
lung verteilen und dass die übrigen dichter einzeln in ganz abweichender anorduung
dazwischen stehen, würde unerklärlich sein, wenn ein codex mit feststehender reiheu-
folge der einzelnen sänger die gemeinsame grundlage gebildet hätte; es lässt sich
durchaus kein grund erkennen, aus dem C oder B oder C und B sich die mühe
einer so durchgreifenden umordnung des vorgefundenen gemacht haben selten.
Andrerseits aber kann Q auch nicht aus einer anzahl von liederbüchern ganz ver-
schiedenen Ursprungs bestanden haben, es muss vielmehr eine einheitlich angelegte
samlung gewesen sein. Dies geht eben vor allem aus dem umstände hervor, dass sie
bereits mit den nach einem gemeinsamen Schema angelegten abbildungen der dichter
und ihrer wappen geschmückt gewesen sein muss. Leider sind die Krausschen nach-
bildungen der miniatui-en von C nicht in färben ausgeführt; das ist besonders in
bezug auf die wappen zu bedauern, umsomehr als v. d. Hagcns angaben in diesem
punkte unvolständig sind. So viel ich aus ihnen aber entnehmen kann, zeigt die
kolorierung der gesamten bilder in B und C zu viele ab weichungen, als dass man
sie auf eine gemeinsame vorläge zurückführen könte. Dagegen ist eine solche für
die Zeichnung mit geringer eiuschränkung zweifellos anzunehmen. Ohne weiteres ist
das klar bei Bl Cl kaiser Heinrich, B2 CIO Fcnis, B3 C41 Hausen, B8 C 27 Eist,
B9 C60 Hartmann, Ell C44 Rucke, B12 C16 Veldecke, B13 037 Reinmar, BIT
i'HEI! WISSER. I.IKnKRUAXliSi IIK'Il -TKN
93
C7S Muüi"<,nur. DIS ('70 I>uto. I520 ('.")(! Küiizidi, IVJn ('ir. Waltlicr: wenn ;uir!i
boi 2 (10), 12 (Ki) uiiil 25 (1.')) (' das wappoii vur I'. voraus liat und S (27) in ("
volst;iiidii;-er ausgeführt ist als in I!. Ferner /.eigen dann die miniatureii 15 ä Ci:!
(Sevolinii-en) , J'. Ifi ('.")."> (Jlerheini), ül!) ('IS (Singenborg) unter üljereinstininiendeni
■\vai)penschild und holm jedesmal die beiden liebenden, weini auch in abweichender
Stellung, ebenso B 10 0 50 (Joliannsdorf) wenigstens unter der gleichen darstellung
des lielnies. Auch liei 15 7 C öS (Bligger) blickt nicht nur in der v()llig gleichen
zeicluuuig von sehild undiielm. sondern aucli in der (U'S ilicihters nocli dieselbe vor-
läge durrh, weiuigleicli Üligger in 11 seine liedeirnlle selbst hält, widirend ov sie in (!
vom lioten schreiben lässt. 1) 23 0 52 (Scven) stimmen wenigstens insofern iil)erein.
als der dichter beiderseits zu pferdc mit dem porgamiMit in der band dargestelt ist.
und der Schild, den er in V> am arme trägt, währeml derselbe in C i\vm gewöhn-
licbenMi lirauche gemäss über dem eigi'ntlichen liilde steht, zeigt das gleiche Wap-
pen, danz abweichende üguivn zeigen bei ül)ei-einstimmung des wappensehibbss und
des helmes B4 ('42 (Kogeusburg), BG ('14 (Botenlaulien), B 14 »'32 (dutenburg),
l'>22 C51 (Heinzeuburc); doch ist bei 4 und ß in B das fortbleiben der zweiten figur
und die dadurch bedingte abweichung dei- darstcdlung offenliar durch den umstand
xcranlasst, dass B hier mit dem räume kai'gte, indem es die beiden bilder noch
unten auf den zum grossen teil schon bi'schriebeuen Seiten 18 und 23 anl>rachte —
die beiden einzigen fälle, wo dem bilde nicht eine besondere Seite eingeräumt ist.
Dagegen mag bei 14 und 22 nur erst die zeichimng des Wappenschildes und des hel-
mes in di'Y vorläge gestanden haben. Bei B 21 t'4G (Schwangau) trägt der dichter
auf dem übi'igens gleichfals ganz abweichenden bilde in 0 wenigstens am kleide das-
selbe waiijien, welches B, der gewöhnlicheren weise entsprechend, in dem l)esonders
dafür abgeteilten oberen fehle bringt, (lanz verschieden ist das bild zu BIG ('34
(Morungen), wo C das richtige. B ein nach dem nameu des dichters erfundenes
wapiien bietet; gleichwol hat sich die figur, welche B gibt, schon in der vorläge
befunden: sie ist vou C für (Uiers benuzt. So ist B 24 C 54 (Rubin) schliesslich die
einzige miniatxir, bei der sich weder im wajipen noch im liilde irgendwelche borüh-
rung zwischen den beiden handschriften findet, und gerade hier, boi Rubin, weicht
in B und (.' aucli die reihenfolge und der bestand der Strophen in einem grade ab,
wie bei keinem anderen dichter. Trotzdem weisen einzelne übereinstimmende text-
verderbnisse in B und C auch hier auf eine vom original verschiedene, abgeleitete
ipiidle der beiden hin. Al:)er diese muss hier anders geartet gewesen sein als in den
übrigen fällen; sie l.)estaud vielleicht noch aus einzelaufzeichuungen, denen noch nicht,
wie den liedern der ülirigen dichter, das liild des Verfassers beigegeben war. Und
so scheint Q überhaupt noch einen unfertigen charakter getragen zu haben, als B
daraus abgeschrieben wurde. Es wird eine im wesentlichen einheitlich ausgeführte,
nüt Zeichnungen versehene samlung gewesen sein, die jedoch noch aus einzelnen
losen abtoilungen bestand und überall der erweiteruug fähig war. Enthielt sie damals
noch nicht inehr als was in B aufgenommen wurde, so wird sie nachher noch in dem-
selben Stile fortgesezt und schon beträchtlich vermehrt gewesen sein, als sie die
grundlage vou (.' wurde. Bafür spricht die nicht unerhebliche anzahl von liildern
iler handschrift (.', welche in B nicht enthaltene dichter darstellen und doch den
alten, einfacheren, einem beschränkteren räume entsprechenden tyitus dei' B und C
gemeinsamen abbildungen aufweisen, nicht den der gestaltenreicheren, gleich für ein
grössei'es format com])onierten übrigen miniaturen in C.
94 FRÄNKEL
Sollen nun ausser jener alten illustrierten samlung Q aucli noch zwei oder gar
noch mehr andere bilderhaudschriften , als mittelstufen von Q zu B und zu C, exi-
stiert haben, die ebenso wie Q selbst spurlos verloren gegangen sind? Ohne zwin-
genden grand wird man sich zu dieser annähme nicht entschliessen , und einen
solchen beizubringen ist dem Verfasser der vorliegenden abhandhmg meines erachtens
nicht gelungen. Zu einer erschöpfenden behandlung dieser frage würde es freilich
auch nötig sein, auf die texte selbst einzugehen, eine aufgäbe, die der Verfasser hier
so wenig in den liereich seiner arbeit gezogen hat wie im zweiten hauptteile, einer
vergleichung des strophenbestaudes und der strophenfolge in B und C, die er übii-
gens auf s. 15 fg. in einer recht wilkommenen tabellarischen Übersicht veranschaulicht
hat. Überhaupt hat er die äusseren Verhältnisse der textüberlieferung sorgfältig
geprüft und dargelegt, nur hat er zu viel aus ihnen gefolgert.
BRESLAU. F. VOGT.
Tugendhaffter Jungfrauen und Jungengesellen Zeit-Vertreiber. Ein
weltliches liederbüchlein des X-VII. Jahrhunderts aus v. Meusebachs
samlung in der Berliner öffentl. bibliothelc. Nachweisungen der quellen,
aus denen die 201 lieder geschöpft sind, von K. II. O. Freiherr von Meusebaoli
(f 1847). Als beitrag zur geschichte des deutschen Volksliedes herausgegeben
von Hugo Hayii. Köln a. Rh. , vorlag von Franz Teubner. 1890. 24 s. 1,50 m.
Der durch eine reihe von Veröffentlichungen zur kuriosa - bibliogi'aphie be-
kante Spezialist Hayn legt hier in verbesserter gestalt eine arbeit vor, die bereits
1870 im lezten (31.) jahrgange des Serapeum nr. 10 — 11 sehr- fehlerhaft gedruckt
worden war. Die hier dargebotene neuausgabe hatte Hayn schon 1885 in seiner
„Bibliotheca Germanorum erotica" (2. aufl. s. 179), diesem äusserst inhaltsreichen,
wenn auch teilweise nicht völlig zuverlässigen hilfsmittel, angekündigt^. Nunmehr
tritt sie in sehr übersichtlicher gestaltung und typographisch vortreflich ausgestattet
vor den freund und kenner des älteren neudeutschen Volksliedes. Der genaue titel
des zu gründe liegenden werkchens, dem bisher nicht die gebührende rücksicht
gewidmet wurde, lautet: „Tugendhaffter Jungfrauen und Jungengesellen Zeit-Vertrei-
ber Das ist: Neu -vermehrtes, und von allen Fan -tastischen groben unflätigen und
Ungeschick - ten Liedern gereinigtes, "Weltliches Lieder -Büchlein, Bestehend in vie-
len, meistenteils Neuen, zu vor nie im Truck ausgegangenen lieblichen und anmu-
thigen Schäferey- Wald- Sing- Tantz- und keuschen Liebes -Liedern. Alle, von
bekannten annehmlichen Melodeyen, in ein ordentlich verfastes Register zusammen
getragen, Dm-ch Hilarium Lustig von Freuden -Thal. Gedruckt im gegenwärtigen
Jahr". Als entstehungszeit dürfte etwa 1690 anzunehmen sein; doch steht über die
äusseren umstände der Veröffentlichung nichts fest; datum, druckort usw. sind unbe-
kant, auch ist der Verfasser bisher noch nicht entlarvt. Das haudexemplar Meuse-
bachs auf der königl. bibliothek zu Berlin (Yd 8" 5111) umfasst 100 blätter ohne Sei-
tenzahl, A bis Ny signiert. Der titel steht in einfassimg, mit einem holzschuitte,
der eine musicierende geselschaft von sechs köpfen darstelt. Der text enthält 201
lieder, „gesetzweise" gedruckt. Auf diese bezeichnung gründet Meusebach seine aller-
dings nur mit grenzen benante Zeitbestimmung. Seine handschriftliche notiz in jenem
1) Neuerdings hat Hayn noch eine „Biblioüieca Germanorum nuptialis" folgen lassen (Köln,
F. Teubner, 1890. 89 s. Preis 4m.); vgl. Fränkels anzeige i. Centralbl. f. bibliothekswesen YIII 57 f.
Eed.
i'HKIJ IIAYiN, LIEDEl!BiiriII,EI\ 95
excnii)lai' l)(>sat;t: ^Dass diese lieilersaiiiluiit;- iiadi Opitz luul FleiiDiiinjj,- ,i;eiiiaclit wor-
den, zeigen dii^ daraus geiioinineiicn stücke; dass aljer noch im XVII. jalirhuMderf,
zeigt z. Ij. hier am eude des 17G. li(>des der ausdruck ^desetz' für ^Strale'^. l>er
atidnick, dow nun Ilayn von den dem Iiierzu gefertigten regist.(>r heigegchenen qucl-
leiHiacliweisungcn Mensebaclis besoi'gt, ist geziemend ein diplomatiscli getreuer nach
ilcn 4S liandsehrii'tliehen hlättern, die besagtem cxemplar angelmnden sind. Die aus
,\leusehaclis samlung in die königl. bibliothek zu IJerlin gelangten origiiialdrueke. die
er selbst also völlig ausgenuzt hat. sind hier recht gut durch gospcrten (h'uck her-
ausgeholten, llcsondere aufmei-ksamkeit verdiiMit das s. 2.) fg. von IFayii hereingczo-
geni- liederhuch ^Gantz neuer Hans guck in die Welt, Das ist: Neu- vermehi'te welt-
lichi' 1/ast- Kannner. In welcluM' mehr als sii/henzig ausbündige neulichst ei-snnnene
artige Schiifferey- Welt- Spali- Y(;xir- Täntz- und andere kurtzweiligo Liech'r liey-
samn\(^n getrag(Mi zu finden. Allen besehendonen .lungengesellcn und züchtigen Jung-
ti-auiMi Iie(|ueiner Zeit uinl Gelegenheit, ehrlicher (iemüts- Belustigung erlaubet zu
gehrauchen. Anjetzo mit vielen Neuen Liedern vermehret worden. Zufinden bey
Job. Jon. Felseckers sei. Erb(>n". (Nürnl)erg, etwa neuntes .labrzehnt des 17. jlis.)
Ks enthält unter Signatur A bis G 79 nummcricrte liedei-, darunter eine grosso anzahl
mit unsei'em liederbuche gemeinsam. Vielleicht hilft ein tätiges uachforsehen, etwa
gar (h'r fand eiiu'S dedikationsexem])lars auf die spur unseres auonymus. Dem cxem-
plar der konigl. bibliothek zu Berlin (Yd 8» 5110) fehlt übrigens bogim 8.
Auf einzi'lheiten der nachweise sei hier nicht des näheren eingegangen. Hof-
fentlich luimmeu sie den bearbeitern des nuu wider fleissig bebauten feldes der litte-
raturgeschichte des 17. Jahrhunderts gelegen, ebeuso dcir forschern auf den fluron
dos deutsehen liedes. Man kann Hayns urteil unterschreiben: „si(j weixlen am besten
Zeugnis von dem rastlosen, stillen und resignationsvollen fieisse luid der unübertrof-
fenen sachkentnis des grossen samlers und ausgezeichneten kenners deutscher litteratur
ablegen". Vgl. Meusebachs Fischartstndieu hg. von Wendeler (1879) s. 20. 25 ff. u. ö.
HELGOLAND, FFINGSTEN 1890. LUDWIG FHÄNKEL.
Johannes llöser, Die syntaktischen erscheinungen in Be Dnmcs Dcr^c.
Halle a. S. 1889. 8. 70 s.
Eine lleissigc syntaktische Untersuchung, von der man nv^r bedauern kann,
dass sie sich auf ein so wenig umfängliches denkmal beschränkt. Die 304 versz eilen,
aus deneu Bc l^uincs D/r^c besteht, lassen den Verfasser um so weniger zu durch-
weg festen ergobnissen gelangen, als der toxt mancherlei Schwierigkeiten bieti't.
Einiges in der vorliegenden arbeit gehört nicht in die syntax; dies gilt z. b.
mehr oder weniger von den abschnitten, in denen die adverbia und die pronomina
lieliandelt werden. An einigen stellen hätte strenger geschieden werden sollen, so
wäi'cn § 5. 2. Ij) die fälle, in denen das prädicative adjectiv bei intransitiven steht,
zu trennen gewesen von jenen, in welchen es zu einem passivum gehört; in v. 107
wird übrigens sfcdelcasc besser als attributives adjectiv gefasst. — § 5. 3. ))) a) wird
gelehrt, dass das particip des Präteritums bei sein und icerden zur Umschreibung der
zusammengesezten zelten des activs intransitiver verba verwendet werde; das ist alier
insofern ungenau, als ja das futurum (fals es nicht durch ein präsens ausgedrückt
ist) nicht auf solche art umschrieben wird. ITiei- möge beiläufig auf den übelstand
liinge\^'iesen werden, der aus der bildung alzu langer paragraiiheu mit vielfältigen
96 NADER, ÜBER HÖSER, SYNTAX IN BE DOlffiS D.EGE
Unterabteilungen entspiingt: rasches und sicheres auffinden von citaten ist dadurch
fast unmöglich gemacht, und die Verweisungen selbst werden ungemein schwerfällig.
Von dem, was ich mir bei der durchsieht der abliandlung angemerkt habe,
sei noch folgendes angeführt. § 5. 3. a) «) Wenn auch fMan sonst nicht in
reflexiver bedeutung belegt ist, so würde das nicht verhindern, dass es v. 130 so
gebraucht sei; mir scheint aber tvearä gegen fedend zu spreben. — Ebd. /3) ctceäan
ist kein intransitivum. — § 8. In ue. aJl of us, seven of them liegen ebenso wenig
partitive genetive vor wie im lat. umis ex iis. — § 18. Dass der instrumental des
pron. se vom dativ verschieden ist, hätte schon deshalb angeführt werden sollen,
weil dies in BDD der einzige erkenbare instrumental ist. — In § 136 gehört v. 132
pä pe tvdron unter 2 (relativsatz eingeleitet durch se pe) ; dorthin ist auch v. 300
zu stellen : ^tf pü tville sec^an soä posm Pe frineä. Ich glaube nicht, dass der Ver-
fasser recht hat, wenn er §53, c) ß) u. ö. diesen relativsatz für einen un verbundeneu
erklärt. Ebenso unwahrscheinlich ist mir, dass, wie § 36. 1. a) ß) gesagt ist, „die
relativpartikel pe [der relativsatz?] als Substantiv seinem beziehungsworte vorangestelt
ist" in v. 290 pe ealle Uet . . . pcet is Maria; es bezieht sich das relativum vielmehr
auf das vorausgehende, und zwar entweder nominativisch auf beortost, was das siu-
gemässere wäre, oder accusativisch auf wereda, was dem lateinischen text (agmina,
quae trahit alma Bei genetrix) entspräche. — Im § 50 liest man, dass das histo-
rische präsens im angelsächsischen überhaupt selten sei. Komt also doch irgendwo
in einem ags. denkmal ein präs. bist, vor? Ausser Beowulf 1879, wo ein sehr auf-
fälliges präsens steht, das man zur not als ein historisches erklären könte, ist mir
kein sicheres ags. präs. bist, bekant. Es unterliegt keinem zweifei, dass, wie Höser
vermutet, in BDD v. 15 und 17 ondrSde = ondr&dde als präteritum zu fassen ist. —
§54, 2, b) Ob pü cwade als conjunctiv zu gelten habe, lässt sich durch v. 12 nicht
entscheiden; das veralgemeinernde eall vor swylce scheint allerdings einen couj. zu
begünstigen. — §54, 2. c) f). Es wäre auch der indicativische folgesatz anzuführen
gewesen. — § 94, 2. a) In v. 277 wird man hliäe besser als nachgesteltes attribu-
tives adjectiv auffassen, wie deren im § 96 mehrere aufgezählt sind.
Schliesslich noch eine kleine bemerkung, die eine stelle in meinem aufsatz
über den dativ und instrumental im Beowulf angeht. Der herr Verfasser scheint
§16, c) zu zweifeln, dass Heyne forwyrnan mit dem dativ ansetze; ich kann nur
widerholen, dass Hej'uo dies in der 4. aufläge (unter woruld-rcvden s. 283) iind wol
auch in den früheren (weingstens in der 2., die mir ebonfals vorliegt) wirklich tut.
WaEN. E. NADER.
Elard Hug-o Meyer, Völuspa. Eine Untersuchung. Berlin, Mayer und Müller.
1889. 8. IV, 298 ss. 6,50 m. ^
Zwingt es uns nicht ein überlegenes, selbstzufriedenes lächeln ab, wenn wir
einen chauvinistischen hetzpriester von der edlen sorte eines Julius Firmicus Mater-
nus in seinem liber De error e profanarwu reUc/iomim die heidnischen mysterienculte
aus dem alten testameut herleiten sehen? Der tractat ist herausgegeben von Halm
im "Wiener Corpus Script, eccl. lat. vol. H, 73 fgg. und mag etwa im jalir 347 ent-
1) Die Verleger haben für dio ausstattung- des buches so gut wie nichts getan , papier und druck
sind aussergewrihnlich schlecht; ich kann mir auch nicht denken, dass der heiT Verfasser für die unge-
wöhnlich mangelhafte currectur voraiitwnrtlich gomaclit werden dürfte.
KAUFFMANX, ÜBER MEYKR. VÖLURPA 97
standeu sein. Nicht bloss hat Habacuc 3, 3 — 5 (comua in maiiibus eins erunt) die
quelle nstelle für (voT di'xeQug &i\uün(^e (c. 21) geliefert, in derselben weise ist der
liaunicultus in sacris Frygiis, in Isiacis sacris, in Proserpinae sacris nichts ande-
res als teuflische uachbikUmg der christlichen Symbolik des lobens- resp. kreuzes-
bauinos (c. 27). Doch hatte auch er bereits ernsthafte Vorgänger, wenn schon nach
Justinus Martyr der an den weinstock gebundene esel im segeu Jakobs (1. Mose 49, 10)
der hellenischen Bachusmythe oder mittelst Verwechslung des esels mit einem pferdo
der sage von Bellorophon imd Pegasus zu gründe liegt, ferner das psalmwort 19, G
die motive der sage von den Wanderungen des Herakles abgegeben hat u. a. Ans
dem, wie mir scheint in unsern fachkreisen zu wenig l)emerkten, lehiTeichen buche
von 0. Zöckler, Geschichte der beziehungen zwischen theologie und naturwisseiischaft
mit besonderer rücksicht auf die Schöpfungsgeschichte (Erste abteilung, Gütersloh
1877) Hesse sich zu diesem capitel noch mancherlei beibringen. Solche in der theo-
logischen litteratur späterliin sehr beliebte Spielereien haben bekantüch in dem Scan-
diiiavien des mittelaltcrs uachtreter gefunden; ich brauche bloss an Formali und Eptir-
mäli zu Gylfagiuuing zu erinnern, denen es mit Brimis salr = hqll Priamns,
()I:iip6rr = Hector, ragnarokkr = trojanischer krieg usw. sehr ernst gewesen ist.
Die von den neueren gefundenen entstellungen der alten namen empfehlen sich nicht
immer so leicht. Es ist mir nicht möglich, zu gunsten des heutigen Verfahrens
einen unterschied zu entdecken, wenn auf der einen seite die cormta des alten testa-
ments für den .hövvoog TuvQÖy.tQwg oder ßovxitywg, andererseits in gleich unbedach-
ter weise die cormm crucis für das Gjallarhorn {hqtt hhpss Heimdallr VqI. 46, 3)
verantwortlich gemacht werden. Die Umwandlung der cornua crucis in die tuba
des gerichts erfordert einen salto mortale, zu welchem meine phantasie nicht fähig
ist. Man ist doch almählich gegen die versuche abgehärtet, bresche auf bresche in
die alte götterburg der Germanen zu legen. Die Situation der mythologischen for-
schung ist nicht so ungemütlich und unbehaglich, wie dies Meyer s. 1 — 8 zu schil-
dern sucht. Wol haben widerholt kenner unseres germanischen alteiiums einspräche
gegen unberufene Störenfriede erhoben. Aber nicht mag „leidenschaft, heisse liebe
zur vaterländischen dichtuug" (s. 8) die Überlegenheit ihres geistes geblendet haben:
ein P. E. Müller (den Meyer nicht übergehen durfte), J. und AV. Grimm, Uhland,
R. Keyser, Petersen, Müllenhoff waren- doch wol mit anderem rüstzeug versehen,
um wie liebhaber nach lust und neigung ihre entscheidung zu treffen. Man wird
allerdings nicht mehr auf grände wie Mythologie I*, 81 verweisen dürfen.
Es war von vornherein zu erwarten, dass der rücksichtslose fonnalismus der
Norweger, die sucht, in den alten liedern einzelne Wörter oder phrasen aufzuspüren,
die als Übersetzung kirchen- oder dogmengoschichlicher schultermini gedeutet werden
könten, in Deutschland eine selbständige entwicklungsphase nicht erleben werde; und
so ist denn auch das vorliegende buch E. H. Meyers in etwas anderem stile gear-
beitet. Bugges schwächen werden verschiedentlich beleuchtet, „einfalle von Bug-
gescher kühnheit" sind mit der arbeitsmethode , wie sie in Deutschland tradition
geworden ist, nicht verträglich. Was sollen wir aber dazu sagen, wenn Meyer trotz-
dem vorsätzlich und alles ernstes Buggesche läppen ansezt und den Buggeschen sog.
Volksetymologien die gleicliungeu Hrymr = Gharon (s. 196), Hcener = HenocJi
(s. 226) hinzufügt? Es kann uns bei dieser wilfährigkeit aufzuraffen, was irgend die
wankende säule zu stützen vermöchte, nicht verwundern, dass Meyer statt mit
Qnrmr mit Cerberus rechnet und Bugges herleituug des Iparqllr aus Eden anspre-
chend findet (s. 175 anm.), ohne davon zu reden, dass schon die Vorstellungen der
ZEITSCHRIFT F. DEUTSCHE PHILIOLOGIE. BD. XXH'. 7
98 KAUFFMANN
kirchenvätcr von der goograpliischon läge des gartensEden (Zöcklor a. a. o. I, 128 fg.)
einen vergleich mit dem felde der götter ausschliesseu. Ich will nicht davon reden,
dass die Nordleute die paradiesvorstellung durch den Odainsakr ausgedrückt haben
(Notae uberiores zu Saxo I, 160. Maui'er, Bekehrung II, 370) ; bezüglich des namens
wird man berechtigt sein, an den Ida filitis Eohha bei Nennius c. 65 zu erinnern.
Meyer hat sich nicht vor der stilverirnmg gescheut, die durch solche fremdartige
auswüchse in den aufriss seines buches geraten ist. Einflüsse griechisch-römischer
mythologie will nämlich Meyer in der V(jl. nicht widerfiuden, sondern er betrachtet
dieselbe „als eine in der skaldischen mythensprache des heidnischen nordens vor-
getragene christliche heilslehre", sie soll eine „summa christlicher theologie" enthal-
ten (s. 293 fg.); das ganze des gedichts habe in gewissen christlichen littoratur-
werken seine Vorbilder und Vorläufer gehabt (s. 246). "Was sich Meyer unter der
skaldischen mythensprache eigentlich gedacht hat, ist mir aus dem buche nicht
deutlich geworden-, eine geschichtliche betrachtung der poetischen diction wäre aber
erste Voraussetzung für seine litterarhistorischc kiitik gewesen. Schon die, allerdings
unzulänglichen, resultate E. M. Meyers (Die altgerman. poesie, Berlin 1889) wollen
sich schleclit damit vertragen.
Im III. kapitel fasst Meyer die ergebnisse seines buches zu einer neugestal-
tung des VglospQ - textes zusammen, die sich etwa folgendermassen ausuimt:
1) Einleitung v. 1. 2 (E). Statt iuipiur (H), ivipi (E) 2, 3 wird ivister
conjiciert (s. 46 fg.); das wort soll gerade an unserer stelle „die unterweltliche wohn-
statt im iunern der erde" bedeuten. Ich glaube nicht, dass auf die Verantwortung
Meyers hin unsere lexicographen diesen Zuwachs verzeichnen werden. Als quellen
werden für die beiden Strophen die sibylUnischen Orakel und Honorius von Augusto-
dunum angcsezt.
2) Schöpfung V. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 16. 17 (E). hjupom yppo (bjofwm um E)
4, 1 soll nach s. 65 dem sibyllinischen ovqkvuv Inpioas entsprechen und in dem sehr
zweifelhaften bjöpom sollen, wie ich übrigens schon bei Finn Magnusen (Lex. Mythol.
533) lese, die cireuli codi (himmelssphäi-en) in "Wilhelm von Conches philosophia
mundi oder die orbes in Ambrosius Hexaemeron stecken; ich verweise auf Beda,
de natui'a rerum c. 9 (de circulis mundi), ferner J. Giimm, Mythologie nachtr. zu
s. 464. V. 5, 3^ — 5. 6, 1 — 2 (ausserdem Mio ok viipjan day , undorn). 8, 3. 4.
16, 5. 6 (E) sollen interpoliert sein. Das in E v. 9 — 15 überlieferte sog. dvergatal
hatten bereits frühere „mit recht als späteres einschiebsei ausgestossen" (s. 72 fg. 74).
"Wahrscheinlich bilden v. 11 — 15 (E) einen ursprünglich nicht an diese stelle gehö-
rigen zwergkatalog ; aber v. 9 und 10 bringen einen zu bestirnten Inhalt, als dass man
diese Strophen so leicht überspringen könte. Das Interesse heftet sich an das gemein-
germ. wort manlicon (E), mmilikan (H), vergleiche got. manleika, ags. vianlica,
ahd. erine tnanalilmn (statuas ereas) Alid. gl. II, 762 u. ö. Nach J. Grimm Mytho-
logie I*, 465 bildeten Mötsogner und Durcnn eine menge menschenähnlicher zwerge
aus der erde. Das widerstreitet der angäbe in v. 9, wonach die drott der zwerge
ur Brimes blope ok 6r Blaens leggjom geschaffen werden soU; vgl. dazu Yaff)!!!})-
nesm. v. 21. Grimnesm. v. 40. Dagegen gibt uns v. 10 ausreichende antwort auf die
frage, woher Askr und Einbla stammen, welche die göttertrias vorgefunden hatte.
Offenbar sind von den zwergen (aus holz?) geformte manlicon damit gemeint. Für
die scliöpfungsgeschichte hat der dichter der VqI. Genesis imd Genesiscommentar von
Ambrosius, Isidor und Honorius, Hiob und Fred. Salomon. benüzt, ferner hat der
leser ags. Domesdaeg 106 und "Wunder der Schöpfung 95 zu vergleichen.
VBER MEYER. VÖLUSPA 99
3) l)or süiuloiit'ull der iiieiischcu und seiiio folgen. Unter diesem
tit(>l werden die Strophen 18. 21. 22. 23. 24. 25. 2G. 27 (R) voreinigt, v. 19. 20 (R)
sollen interpoliert sein, ausserdem 22, 2 (R). Für den text haben Genesis, Ambro-
sius und Houorius die grundlage gebildet.
4) I)ie erlösung der sündigen seele durch den gekreuzigten =
V. 28. 29. 30. 32, 1. 2. 34, 3. 4. 35 (R). Die zwischeuliegendeu Strophen 31.
32,3. 4. 33. 34,1. 2 (R) werden wegen ilires vordringlichen prunkens mit mytholo-
gischen namcu, ihrer tondenz die heidnische färbuug zu verstärken (valkyrienepisode),
wegen ihres unsichern und unbeliolfenen ausdrucks {mistiUeinn) mit verblüffender
kühnhcit weggeschnitten. Für den text hat sich der mysteriöse Verfasser sein mate-
rial aus Honorius imd andern kirchenschriftstellern, sowie aus der apokalypse zusam-
nicngeklaubt.
5) Hölle und paradies. Hier soll sich die christliche visionslitteratur nebst
einfluss Ezechiels in den Strophen 36 — 38 (R) bemerkbar machen; nur v. .38, 3 ok
panns annars glepr eyrarüno wird trotz der „bis auf den überraschenden siugular
hin wörtlichen übersetziuig " von Ezechiels unusquisque uxorem proximi sui polluit
(s. 1C9 fg.) ausgenommen, wegen Hqvam. 115, 5.
Gj Die Vorzeichen des jüngsten gerichts in der uatur sind, wie die
Strophen 39 — 43 (R) sie überliefern, vorwiegend germanische personificationen unheil-
droliender naturereiguisse (s. 179); mit andern werten „nach einem ungeheuren um-
schweif durch die christlichen vorstellungskreise kehrt der Verfasser jezt zur hei-
mischen bahn zurück" (s. 175) und doch sollen die termini ragnarqk und ragnarekkr
eher christlicher als heidnischer prägung sein [dies judicii, respera mmuli). Die
heidnisch - christliche zwitternatui- des gedichts (wie reimt sich das zu der anläge
einer christlichen heilslehre?) hat es zu verantworten, dass wir mit str. 44 (R) „plötz-
lich mitten aus dem bunten treiben einer überwiegend germanischen mythenweit "
herausgerissen werden. Da es für Meyer fraglich ist, ob überhaupt die weltunter-
gangsidee eine einheimische gewesen, nnd da er andererseits bis hieher nachgewiesen
zu haben glaubt, „dass unser dichter fast ausschliesslich fremde ideen vorträgt, da
ferner die annähme nahe liegt, dass ihm, als geistlichen, gerade mehrere derjenigen
Schriften bekaut sein musten, in denen dieselben zustände mit der christlichen ten-
donz aufs jüngste gericht geschildert werden und da wir endlich die art der darstel-
luug des sittenverfals nicht als specifisch germanisch anerkennen können, so müssen
wir auch hier uns fragen, ob nicht auch hier fremde muster l)enüzt worden seien"*
(s. 183). Heisst das nicht, die einfachsten, elementarsten grundsätze historischer kri-
tik preisgeben?
So hat denn also unser dichter das evangelium und die propheten
7) in den Vorzeichen des jüngsten gerichts auf erden und am himmel
ausgeschrieben v. 44 (ohne zeile 4. 5). 45 (R) -f 40, 3. 4 (H). 41 H = 49 R. 44 (R).
8) Beginn des jüngsten gerichts: ansturm und kämpf der dämonen mit
der gottheit und weltbraud aus der apokalypse und den propheten geschöpft: v. 47.48
(Heljar statt muspellz). 50. 51. 52. 53, 1 R -f 58, 1. 3 H. 53, 3 — 55 (R).
9) Die neue weit und ankunft Christi zum jüngsten gericht gleich-
fals nach der apokalypse und den propheten gearbeitet, die Strophen 5G. 57 -j- 53, 3.
59. 60, 61. 58 IL 62 umfassend. \. 58 habe schwerlich irgend welchen volkstüm-
lichen oder litterarischen Ursprung, sei vielmehr ein nicht gehörig motivierter und
unbeholfener breiter ausfluss der 7. strophe, den möglicherweise ein interpolator in
bewegung sezte (s. 218).
7*
100 KAUFFMANN
Meyers gründe für seine textkritische herstellung einer ursprüngliclieu compo-
sitioii dos gedichtes sind nirgends überzeugend. Es niusten andere matorialien bei-
gebracht werden, ehe unser interpret gerechtfertigt sein konte, eine von ihm zu-
sanimengestelte stroplienreihe als VqIospq auszugeben und dieses stück jüngster
Eddakritik als christliche heilslehre zu deuten. Selbst der hinweis auf die Eireksnic^l
und Hakonarmql (s. 2G2 fg.) kann auf grund der damaligen zustände in Norwegen
nur ein weiteres zeugnis für die unerschütterte festigkeit des glaubens liefern. Ge-
wiss waren die betreffenden liofdichter vom schlag eines Jarl Sigurdr, den seine
hochsinnige treue zum getauften könig niclit hinderte, zugleich einer der eifrigsten
Verteidiger des alten glaubens zu sein (Maurer, Bekehrung I, 151 fgg.).
Es ist nicht unmöglich, dass sich empfängliche gemüter finden, die dem küh-
nen Schwung des führers folgen — gewiss wird es für sie eine befriedigende abrun-
dung und Vollendung des ganzen sein, in Sa^mundr dem weisen den Verfasser der
E. 11, Meyerschen VQlospc'j kennen zu lernen (s. 275 fgg.). Wenn überhaupt jemand,
kontc er als solcher genant werden: hat ihm ja die legende manches ungeheuerliche
angedichtet, vgl. z. b. hier einschlagend Yita Saemundi s. XXVII, 87 (dazu Zöckler
I, C5). Er ist 1133 oder 1135 gestorbefl. Die von ihm benüzten Schriften des Ho-
norius Augustodunensis „waren kaum schon alle im ersten viertel des 12. Jahrhun-
derts auf Island bekant" (s. 272 fg.). Kurz vor seinem tode muss also der verdiente
pastor Oddensis der nachweit die grosse mystifikation zugeeignet haben, die für den
1170 geborenen Snorre schon als altes gedieht gegolten und im Zeitalter der schritt
nicht bloss die entsteUimgen in Snorra Edda, sondern auch die in cod. H. erfahren
haben solte.
Ssemundr, eine hauptstütze der kirche (er ist z. b. 1097 bei der einführung
des zehnten beteiligt), nach allem was wir wissen ein volksmann bester sorte, der
die Vergangenheit seines volkes kante und studierte — Sremundr traue ich anachro-
nismen, wie die Meyersche VglospQ sie enthält, nie und nimmer zu. Man verzeihe
die abscli weifung, aber unwilkürlich wird es einem inr Meyerschen buche zu mute,
als Ijewegte man sich in der inoderneu mytlienfabrik, die das publikum mit dem
Bacon - Shakespearemythus in Spannung gehalten und die sjjitzfiudigkeiten Bugges und
Meyers auf den markt geworfen liat. Die fabrikmarke ist hier wie dort dieselbe, die
mache gleich unhistorisch.
Ich verzichte darauf zu widerholen, was Müllenhoff, Iloffory, Jessen, Bugge
ül)er das alter der überlieferten Vijlospö beigebi'acht haben. Es sind nunmehr die
littei'arischen parallelen zu prüfen, die Meyer in seiner untorsucliuug aufgestelt hat.
Icli constatiere zunächst, dass v. 42 — 44 und dazu gehörig v. 20 (von Meyer gestri-
chen) nach s. 180 „ohne zwcifel" echt germanischen Inhalts sind, nur der höUenhund
Garmr soll antik zugestuzt sein = Cerberus. Im vorbeigehen füge icii an, dass der-
selbe ja leicht, z. b. aus Bedas bei'ühmtem bricfe an Ecgbert zu haben war: ille
triceps inferorum canis, cui fabulae Cerberi nomen indiderunt (Haddan and Stul)bs,
Councils and ecclesiastical documonts III, 325). Im stil der herschendon mythendeu-
tung bricht, nachdeni die wolkonfrauen herangeschwebt sind und der wind seine nocli
fröhlichen weisen angestimmt hat, das gewitter los. Allein der dichter der Volospü
habe die schlimmen germanisclien wettermytheu nur zum aufputz seiner heilsgesehichte
vorwendet. Icli zweifle nicht, dass die Ijctreffenden Strophen ihre ausuahmestellung
nur den lieblingsideen E. IL Meyers veixlanken.
Für uns andere, die wir tuis unmöglich entscliliessen können, die religions-
geschiehte der Germanen in eine gewitteruacht mit winddämonen und blitzheroen auf-
ÜBER MEYER, VÖLUSPA 101
/Ailusen, iu vorblcndctcr riiiseitigkcit dio uiiscliauung des mitiirlolicns zu hypostasicren
uiul allü andern lebeusbedinguugon unsorov vorfahren auf sieh beruhen zu lassen,
1 Reiben derartige einfalle Jiöclist gleichgültig. Solte man es bei ruliiger Überlegung
für möglich oder auch nur denkbar halten, dass mau unsere vorfahren über dio natur-
vo]-gäugo grübeln lässt, während uns doch die formen des rechtslcbens und der
sitte, die mit den Individuen so innig verschmolzenen nationalen Institutionen
der Germanen die bedürfnisse der gemütor so anschaulich widerorkenncn lassen? Es
ist liier nicht der ort, ein programm zu entwickeln und meinen in arbeit genom-
menen untersuchungeu über germanische religionsgcschichte vorzugreifen. Hängt es
nicht mit den in ganz falsche bahnen gerateneu grundanschauungen zusammen, wenn
auch E. H. Mej-er widcrum meteorologische Vorgänge als germanische mythenstoffe
anerkent, dagegen dio Zerrüttung des volks- und familienlebens (v. 45) verdächtigt?
V. 43 mit ihrer Unterscheidung von Hol und ValhcjH wäre leichten kaufs durch eine
anleihe bei Schullerus Beitr. XH, 235 aus der Originalfassung der VcjlospQ auszu-
schliessen gewesen; was zeichnet die strophc vor der Baldrepisode aus, dass diese
getilgt, jene erhalten ist? Es fehlt dem buche, an dessen resultate wir nun im ein-
zelnen heranzutreten haben, all das, was uns bestimmen könte, wo wir zweifeln,
seiner entscheidung zu folgen und wo wir überrascht werden, aus ihm zu lernen.
Vielleicht befriedigt es den einen oder andern, wenn ich für die meirc nk
iitinnc mngo Ilcimdallar (v. 1) an die forniel der päbstlichen kanzlei erinnere, die
adresse magnis et parvis, ingenitis et servis Zacharias papa, welche der aus dem
jähr 748 stammende 68. Bonifatiusbrief (Jaffe s. 195) trägt, oder wenn ich die vielleicht
dem eingang der 5. strophe zu gründe liegende naturerscheinung auch aus Jordanis
III, 20 ((luod nobis videtur sol ab imo surgere, iUos [Scandza] per terrae marginem
dicitur circnii-e) belege. "Weitere gelegentliche lesefrüchte stelle ich später zu nutz
und frommen zusammen. Lassen wir zunächst einzelnheiten aus Meyers buch revue
passieren. AVas Meyer s. 15 fgg. über Heimdallr mythologisiert, „ein offenbar jünge-
res und sonst nicht besonders angesehenes mythisches wesen", von dem nicht zu
begreifen sei, wie er zu der hohen ehre eines städtegrüuders gelangt sein solte,
beschäftigt sich mit der symbolischen deutung des regenbogens und seiner färben.
Die biblische regenbogenscene nach der sintflut und die sich anschliessende stände-
sonderung (bei Honorius, imago mundi: hujus [Noe] tempore divisum est genus
humanuni in ti'ia: in liberos (de Sem), milites (de Japhet), servi (de Cham)) scheine
ein nordischer gelehrter vielleicht nach irischem vorbild in eine art inneren Zusam-
menhangs gebracht und so auch diese dem heidnischen gott des regenbogens über-
wiesen zu haben. Weil die grüne färbe des regenbogens die erde, die blaue das
Wasser bedeutete, wird der im anfang geborene (mit Christus verschmolzene) gott
des regenbogens genährt durch der erde kraft und durch das kalte wasser und end-
lich durch den — sonardreyri. Dass hier für das zu erwartende feuer das blut
eintritt, gerade das bezeuge den christlichen einfluss am unwiderlegiichsten (s. 30).
Gemeint ist einfach das blut Christi, des sohnes {sonardreyri)^ als ob kenningar
wie fnprgjqld jqtna Sn. E. II, 306. I, 244 nicht existierten. WiU Meyer geck kann
til sonar blöts, tu frettar Heimskr. 1, 24 (Uhland Schriften VI, 213) ebenso deu-
ten? Das misverständnis Meyers hat schon der rationalistische compilator der VqI-
sunga saga verschuldet, vgl. Bugge zu Gu{)rünarkv. II , 21. Die rote färbe des regen-
bogens werde auch auf das unsere sünden sülmende blut gedeutet, das dem herrn
nach dem speerstich aus der Seite floss. Durchzudenken hat Meyer seine annähme
wol selbst nicht vermocht, wenn er a. a. o. meint, die Charakteristik spiele zwischen
102 KAUFFMANN
den erinnerungen an den alten regenbogengott Heimdallr und den neuen eindrücken
der erscheinung des heilandes hin und her. Sind für das 12. Jahrhundert die ein-
drücke der ersclieinung des heilandes noch „neu" gewesen?
Nach s. 85 ist L6{)orr der heilige geist. Nach s. 127 war es ein kühner aber
geschickter griff miseres dichters, dem heiligen geist noch einen andern heidnischen
namen, nämlich den des Mimer zu geben. Unter solchen Voraussetzungen habe ich
auch nichts dagegen, wenn Meyer s. 190 behauptet, in v. 46 vertrete Heimdallr nicht
den heiland, sondern einen engel, „wahrscheinlich weil er nach engelart das himlische
Wächteramt bekleidete und nach Apokal. 10, 1 einer von den englischen verkündern
des jüngsten gerichts, eine Iris, also das zeichen des regenbogens auf dem haupte
trug". Ich wüste nicht, dass mir irgendwo in meiner wissenschaftlichen erfahrung
eine solche nachgiebigkeit des autors gegen seine tendenzen aufgefallen wäre, die vor
dem gewalttätigsten nicht zurückschreckt. Mir ist nur bei einem coufusionarius wie
Honorius von Augustodunum (gelegentlich von Zöckler so genant) etwas begegnet
wie: leo sirjnificat aliquando Christum, aUquando diabolum, aliquando siiperbu))i
principem (Bibl. Max. XX, 1179 E). So weit ist Meyer von seinen einfallen befan-
gen, dass er uns zumutet, ein corim eruois, den verborgenen teil des kreuzes Christi,
mit der tuba, die Heimdall bläst, zu verwechseln. Ich habe darauf bereits hingewie-
sen. Allerdings lassen sich anspielungen auf das gericht gottes beibringen. Ich lese
z. b. bei Schönbach Altd. pred. 11, 181 fg. aus Ven. Hildeb. Cenomanensis: iwofunditas
id est pars illa qtiae latet profunda mysteria judicioruin Dei, während es bei
andern die oceidta gratia Dei zu bedeuten pflegt. Dass aber dabei nicht an das
jüngste gericht gedacht werden darf, stellen die worte bei Schönbach s. 184: occidta
voluntas Dei et incomprehensibilitas judiciorum ejus unde ista gratia in honiines
venit usw. ausser zweifei. Hat einmal einer der mittelalterlichen mysticisten die
cornua crucis etwa durch die cornua lunae symbolisiert oder umgekehrt? Auf
christlicher Überlieferung beruhend ist hörn Sn. E. I, 48 verwendet worden, worüber
unten weiteres zu sagen sein wird. Wenn eine skandinavische phantasie dazu fähig war,
einen kreuzesbalken als posaune blasen zu lassen, dann allerdings würde ich gerne
darauf verzicliten, das plastische auschauungsvermögen der nordleute zu bewundern
und eine dichtung wie die VqIospq zu verteidigen.
Str. 27 Veit Heimdallar hljöp of folget
und heipvqnom helgom bapme
Str. 46 en injqto'pr kyndesk
at eno ga.mla Ojallarhorne
h(}tt bkess Heimdallr horns d lopte . . .
Der deutung dieser strophen s. 116 fgg. ist die anerkennung scharfsinniger combina-
tion nicht vorzuenthalten. Ich kann es mir versagen, für die schon so vielfach seit
Jac. Grimm belegte anschauung des kreuzes als des lebensbaumes weitere citate zu
häufen, sie liegen alüberall am wege. Die arme des kreuzes, die sich nach den vier
regionen erstrecken , werden bekantlich als cornua bezeichnet und bilden durch ver-
mitlung Alcuins die vorläge für Otfrid V, 1, 19 (thes kruces horn)^ worauf seit
J. Grimm Mythol. II, 665 und Holtzmann, Mythol. s. 188 wieder Bugge, Studien
s. 473 aufmerksam gemacht hat. In dem bereits erwähnten traktat des Julius Fir-
micus Maternus heisst es c. 21 : cornua nihil aliud nisi venerandum signum cru-
cis monstrant. hujus signi uno extenso ac directo cornu vmndus sustcntatar , terra
constringitur et e duorum quae per latus vadunt covtpagine oriens tangitur,
occidens sublevatur, ut sit tottcs orbis tripertita stabilitate firmatus eonßxiqtce
i'BKR MEYER, VÖM'SPA 103
oprris ißi//>/ii)iiil//)/is rinliclhus fninUuncnhi iriiccuiiiir. c. L'ö lliiiunii cra/ hi para-
ihfxo Ay. \t;l. uiK'h c. 'J7. Iiitcrossanturü stellfii sind ;uis Tcrtullian ln'i/.uln'inp.'ii /.. Ii.
iidvL'r.s. .Iiulai'us (cd. Odder) s. 11015: quid iiiain'fcsliii^^ . . iil <iiii)il jicrleral (iliiii
per liiiiitiiii in Addiii , id. rrstihicnii(r per liijinini (''lirisli. Iloc Hijiiuin sihi et
ls(((ir. . . (id s(/(;ri/iciu/it ijisc jidiidbat . . rl Isaac cum liijiHi r('sn-r(üi(.-< es/, (irictr.
<ihl((ti) i)i rejire (■(ii-i/ibi/s Inicrodc et Cl/ris//(s ti/tis IfiiipdriliKs li<iin(m hininris
suis portaril iidiucniis coriiiliKs cnicis roroiia spiz/cfr in cdpilc eins cirvnuidiila.
Adv. Maa'ioucm 1. III. c. 18. I!). 22 u. a.
Es wäre des Nonlliinders dii'htrnsclior kral'i nicht unwürdig;- mit //y'^/'z/^/' /.////'/r.sV,-
at OK) (jdDila (IjallariKirnc liclitL'l'foktc in der inanirr eines <!al)riel Max unter die
vorzeiclieii seines ragnanskkr aulgeiKjninien zu ]ial)cn, weini der zusainmeidiang dos
Verses, wie M. will, bedeuten könte: der heilaud Icuehtct au jenem altb(,'rüliinten
kreuz. Das st-hniettei'nde (ijallarliorn Ileinidalls kaini ein coruu crucis, aueh wenn
wir die niysiiiikatinii weit treiljen weiten, nicht vortreten; M.'s ei.g'eno werte
(s. 11!): .Ji/ji'/) das sunst seludl, .geliiu' usw., wie hörn bedeutet, verwendete der hier
g-anz besonders niysteritise Verfasser für das einfaeho horu") .g'emahnen an Bugge,
der ad hoc mir einen Shakespeare zu vergleichen wüste.
A\'ie leicht wir mittelst der biblischen terminologie auch tlie dunkelsten an-
dcutungen der Vid. aufzukliircn vermögen, zeigt namentlich, was M. s. 120 ff. iiliei'
die Worte
1/ s-('r a/isasl- aitrr/oni forsc
af repc Valfopor
beigeliracht hat. Das pfand Walvaters ist Christus der gekreuzigte. Dass die pignura
rn/cis in der mittelalterlichen litcratur reliquieu meinen, kann ich nicht verschweigen.
A"(in diesem pfände ergiesst sich lilut und wasser, als Christi soitc mit dem speerstiche
geöffnet wird. Wollen wir uns auch gefallen lassen, dass der ausdruck fars kaum
übertrieben erscheinen könne, wenn man sich die kunstdarsteUungen der sceuo ver-
g(\genwäi1:ige, so last uns auch M. im stich, wenn wir fragen, wie unser christlicher
dicht.i'r das in diesem Zusammenhang in erster liuie wichtige Idut vergessen konte!
AN'as langen wir damit an, wenn gelegentlich die formel gebraucht wird: ex hifcrc
fniis saf/ifis iiosfrac eiiiaiiat, oder bi/i Ezzo 25: der gntes pr/inuo isi da\. phtot,
wenn M. bchau[itct, diesen l)runnen habe auch Xql. 29 zur grundlageV Schliesslich
ist ,,das in dem ijuell verpfändete augo AValvater (Jdins das im quell aller dinge, gott,
ruhende pfand, Christus, aus dem sich vom paradiesesbaum her das wasser des
lebens ergiesst und der hüter, der jeden morgen daraus trinkt. Mimer, kann nun kein
anderer sein, als der hl. geist'' (s. 127). Der altgermanische custos fontium, in dem
M. früher einen gandharvcn gesehen hatte, muste solch ungeahnte mctamorphose
erdulden! Ich begreife nicht, wie M. auch jezt noch seine ansieht (s. 124) damit zu
vereinigen wüste, dass Mimer zu deu altertümlichsten gestalten gennanischen glau-
l)ens gehöre. Wir sind indessen nach dem bisherigen auch auf solche auswoge vor-
bereitet; nnt leichter beschwingter {ihantasie lässt sich die vorstelliuig vielleicht nach-
denken.
Dass H(>fu{)lausn v. 21 unseru mythus wahrscheinlich voraussezt (Beitr. Xll, 3!J0.
XllI, 107), hcätte all solche speculationen im keim ersticken sollen. Doch im gegen-
teil. Im bannkreis seiner einfalle erhebt M. deu akt, dass Mimer jeden morgen mct
trinke, zum abbild des täglichen messopfers. Hier verzichte ich darauf die philologische
lupe anzusetzen und frage nur, ob es denkbar ist, dass eine derartige heidnische
vermummung des allerheiligsten sich irgendwo mit dem gewissen eines Christen ver-
104 IvAUFFMANN
tragen konte! Traut M. eine solch frivole profanatiou seinem priester von Oddi,
dem besten kleriker Islands, zu? Mich würde es nun nicht mehr wundern, wenn
jemand mit der behauptung aufträte, auch die himmelsköuigin Maria sei in der alten
liedersamlung nachweisbar, wenn Ht'^v. 146 von der pjöpans kona und dem mantu^
mqgr (menschensohn?) in geheimnisvollem Zusammenhang die rede ist. Solche witz-
lose schnurren sind ebenso billig, als sie ernste, eindringende historische kritik per-
siflieren.
Parallelen, die mich überrascht haben und ein sorgfältiges eingehen erfordern,
bringt M. s. 94 ff. zu den strophen 21 ff., die Schicksale und person der GoUveig sowie
den Vanenkrieg betreffend. Auf die nordischen Spiegelbilder des sechstagewerks folge
die scenerie des sündenfalls und engelsturzes. Hiergegen ist sofort der entscheidende
einwand zu erheben, dass nach algemeincr ansieht der stürz der engel entweder dem
sehöpfuugsakte vorausgieng oder am ersten schöpfungstag spielte (Zöckler I, 420). Der
stürz der engel konte von unserem dichter eventuell nur im Zusammenhang mit der
Schöpfungsgeschichte behandelt werden. M. hat nicht einmal daran gedacht, gründe
für die Umstellung, die unser dichter vorgenommen haben müste, beizubringen.
Meyer citiert Ambrosius de paradfso c. 15. Hier wird etwa folgendes über
den Sündenfall dargelegt: serpentis tyjnim accejnt delectatio corporalis: midier
symbolunt, seiisus erat nostri, vir meiitis . . . delectatio sensum, scnsus autem men-
tem captivam facere eonsuevit. Schon im 12. cap. hiess es, die delectatio sei divino
aversa mandato et inimica sensibus nostris . . . si autem ad diabolmn referas,
vertcs inimicus est generis humani. Qiiae autem causa inimicitiarum nisi in-
vidia? . . diabolus . . invidit hotnini eo quod ftguratus e linio nt incola paradisi
esset, electus est . . dicens: iste de terris müjrabit ad caelum, cum ego de caelo
lapsus in terra sini . . . Itaque machinatus est, itt non primo Adam adoriretur,
sed Adam per mulierem circumscribere conaretur . . . Cognoseens igitur hoc loco
tentanienti genus, plurima etiam aliis locis teiitamenti genera reperies. Alia
sunt per principem istitis miindi, qui qioaedam, vcnena sapientiae in hune
mundmn evomMit, ut vera putarent homines esse quae falsa sunt et specie quadam
hominum caperetur affectus .... sunt quaedam potestates quae amorem Simu-
lant, gratiamque praetendant, ut paulatim cogitationibus nostris venenum suae
iniquitatis infundant a quibus oriuntur illa peccata quae vel ex deleetatione vel
ex quadam mentis facilitate nascuntur. Sunt etiam aliae potestates quae col-
luctantur nobiscum. Hernach werden ministri diaboli genant, qtii et cordis et
voeis suae infectas veneno veluti verborum suorum jactant sagittas.
Der kirchenvater komt im verlauf zum Schlüsse: Viderint alii quid sentiant mihi
tarnen videtur a midiere coepisse Vitium. Es ist nirgends davon die rede, dass Eva
durch dreierlei infectae sagittae diaboli bezwungen worden sei (s. 94), sondern
Ambrosius zählt zwei arten von versucliung auf und sagt schliesslich: multipUcia
tentamenta sunt diaboli. Die an zweiter stelle genanten potestates, quae velut col-
luctantur nobiscum lassen sich durch eine stelle aus dem 2. cap. illustrieren, wo es
heisst: nemo enim nisi qui legitime certaverit coronatur. Joseph quoque casti-
monia numquam ad nostri memoriam pervenisset, nisi midier domini ejus contu-
bernalis ignitis diaboli spiculis incitata tentasset ejus affectum, nisi postremo
affecfasset ejus interitum , quo clarior esset castimonia riri qui mortem pro casti-
tate contemserit. Sind wir der sache und ihrem Zusammenhang nach berechtigt, wie
M. tut, jene infectae sagittae diaboli der Versuchung im ])aradies mit den ignita
diaboli spicula zusammonzuschweissen, die in der brünstigen lüstornheit des weibes
ÜBER MEYER, VÜLUtiPA 105
den unschuldigen bedrohend Wieso ist die siniionversuchung des Josepli dem an-
griff des toufels auf Evas nascliliaftigkcit „älinlieh" "? Was sagen wir vollens dazu,
wenn die dreifache Versuchung Jesu in der wüste (als laqueus gidac, jactantiae,
avaritiae atquc ambitionis Ambrosius de Cain et Abel lib. I. c. 5) die dreizahl stützen
soUV Zu prijsvar horna ist indessen auch MüUenhoff DA. V, 1, 310 anm. zu beachten.
Ähnlichlieiton, die tatsächlich nicht bestehen, bilden die brücke zu M.'s werten (s. 95),
Ambrosius rede von einem weibe, das im paracUese durcli drei feurige Speere getroffen
worden sei. Mit diesem weibe habe aber imser mysticus nicht die Eva gemeint, son-
dern das faustische: duac cnim mulieres unicuique nostrum eohabitant inimicitiis
ae discordiis disidenies vchit qiiibusdam xelotypiae contentionibus nostrac rcplentcs
anivii do/iiuvi. Una earum nobis suavitati et amori est, blanda conciliatrix gra-
iiac qiiae vocatur voluijtas. Ilanc nobis opinmnur sociam ac domesticcmi, illani
aftcram immitem, aspcram, ferani credimus, cid nomen virtus est. lila igitur,
»leretrieio proeax tuotti, infracto per delieias incessu, nutantibus ocidis
et ludcntibus jaculans palpebris retia quibus pretiosas juvemim anitnas
capit focidos enim meretricis, laqioeus peecatoris) qioemeii'mque viderit dubio
sensit practerenntem in augtilo transitus domus suae sermonibus ado-
ritur gratiosis, faciem jiivenum volare corda domi inquieta, in plateis vaga,
oscidis prodiga, pudorevilis, amictu dives, genas p)icta. Etenim quia verum deco-
reni naturae habere non jjotest, adidtcrinis fiicis aff'ectatae pidehritiidinis lenoci-
iiatur speciem non veritatem. Vitiorum suceineta comitatu et quodam nequitiarum
choro eireuinfusa, dux criminum talibus verborum machinis muriim mentis
aggrcditur himtanae. Mit berufung auf Prov. 7, 14 ff. heisst es weiter: Hane enim
per OS Salonionis speciem fornicariae videmus expressam . . . opprobriosae frau-
dis vclamine operit corporis sui stratimi ad sollicitandos juvenum animos . . .
thesauros demonstrat, reg na promittit, amorcs spondet continuos, inexploratos
concubitiis pollicetur . . . confitsa omnia, nihil naturae ordine. Illic . . repleta
vomitu bibentiiim poeula majore odore ebrietatis quam si recentia tantum vina
flagrarent. Ipsa in medio sians: Bibite, inquit, et inebriamini, ut cadat
unusquisque et non resurgat. . . Ille mihi gratior qiii sibi nequior. Galix
aureus Babylonis in manu mea inebrians omnem terram a vino meo
biherimt omnes gentes .... His auditis veliit cervus sagittatus in jecore haeret
saucius. Quem miserans virtus et casurum cito videns improviso occurit . . .
palam inquit apparui tibi non quaerenti ine. Ne fallat imprudentem et circum-
veniat te mulier effrenata et luxuriosa quae non novit pudorem: sedet in fori-
bus domis in sella, palam in plateis advocans praetereuntes ... tzc
aidcm accipe potius disciplinam . . . veni ad convivitim sapientiae etc. (Ambrosius
de Cain et Abel lib. I. c. 4. 5). In Warnungen vor der libido oder fornicatio und
der avaritia klingt die grossartige Schilderung aus. Ich setze noch zur Charakteristik
folgendes her: inflammat anitmim, igne suo pascit cum . . . elementa concidit, mare
sidcat, terram effodtt, caeluni vutis fatigat, ncc sereno grata nee nubilo, condemnat
provcntus annuos fetusque terrarum arguit. Es ist die gier nach dem gokle, deren
völkerzerstörende leideuschaft auch die phantasie der Germanen zu den eindruckvoll-
sten büdern aufgewühlt hat.
An einer andern steUe (de Elia et jejunio c. 15) ruft Ambrosius — es nimt
sich humoristisch aus, nach dem was in meiner darstellung vorausgegangen, doch ist
das nicht beabsichtigt — ein dreifaches Vae ! über die, welche manc ebrietatis potum
requirunt, qiios conveniebat Deo laudes referre . . . Vix diluculum et jam cursatur
106 KAUFFMANN
per tabernas, vinum quaeritur, excutiuntur tapetes, accubitiivi festinant sternere,
lagenas argenteas, aiiratos caliees exponunt. Calix atireus in manu
domini inebrians omnem lerram. A vino ejus bibcrunt onmes gentes, ideo com-
motae sunt. Et subito cccidit Babylon et contrita est. (Jerem. 51,7). Calix ergo
aureus contritus est, quia Babylon contrita est quae est calix aureus . . .
deniquG divina indignatione conteritur. Qua ratione calix atireus? Qtionimii
qui veritate deficitur quaerit illeeebrant, , ut species sattem pretiosa ad bibendum
aliquos possit illicere . . . Non te inducatit atirea vasa et argentea . . Vas
apostolicum fictile est, sed in eo thesaurus est Christi. Vae siceram niane sectan-
tibus. Aureuin est hoc vas, poculum est, et in co 2}oculo veneuum mortis, vene-
num libidinis, venenum ebrietatis.
Noch, besteht der altbewährte erfahruogssatz jeder historischen forschung zu
recht, dass die chancen zu irren grösser werden, je mehr einzelne data der Über-
lieferung aus ihrem gegebenen Zusammenhang gerissen und isoliert oder gar in wil-
kürlich geschaffene ordnuugsreihen gestelt werden. Man vergleiche wie von M. die
soeben ausgehobenen partien aus den ambrosianischen tractaten zerstückelt und mit
ganz fremdartigen bruchstücken contaminiert worden sind. In dieser hinsieht ist M.
leider nicht über Bugges äusserliche citatenhäufung hinausgegangen. Man lese das
4. und 5. cap. in Ambrosius de Cain et Abel I. fortlaufend, wie der Verfasser sie
componiert und seinen lesern vorgelegt hat. Ist es denkbar, dass nach der bachan-
tischen aufreguug der Voluptas der faden abgeschnitten werden darf? Bricht sich
der grelle strahl der das gemiilde beleuchtet, nicht erst zum versöhnenden milden
glänz in der Schilderung der Virtus?
Und ich frage wieder: hätte ein christlicher heilsprophet es vor sich selbst
rechtfertigen können, abgerissene citate aus dem 4. cap. sich zu notieren und das für
die heilslehre viel wichtigei'e 5. cap. zu überspringen'? Aber auch wenn wir im ein-
zelnen uns zurecht finden weiten: bei Ambrosius ist wiederholt hervorgehoben, dass
die verführuugskünste der Voluptas gegen die juvenes gerichtet sind. Was mochte
den Isländer veranlast haben, die juvenes durch junge frauen zu ersetzen? Die figur
der Voluptas, in der Zeichnung des Ambrosius, wirkt in der geselschaft junger frauen
geradezu widersinnig, absurd. "Wir müssen uns also höchst bedenkliche gewaltsam-
keiten gefallen lassen, bis wir dazu gelangen, nun voUens die Voluptas mit der
babylonischen hure und diese mit dem calix aureus ==: Gollveig zu identificieren.
„Der ganz nordisch klingende weibername Gollveig (D. A. V, 1, 95) und die von Bugge
behauptete Verbindung von ags. wcc^c becher und an. veig getränke wrd aus diesem
ideenzusammenhang besonders deutlich" (s. 96). Es fält auf den Salzburger kleriker
ein eigentümliches licht, der den calix aureus der babylonischen hure verdeutscht
und einem seiner beichtkinder als christlichen ehrenuameu beigelegt hat. Die sprach-
lichen bedenken MüUenlioffs gegen die Identität Gollweig, Choldimaih (Salzburger
Verbrüderungsbuch 103, 17) sind bekautlich nicht zu rechtfertigen. Ich rede nicht
von den an. Sölveig, Hallveig, pörveig etc., inzwischen hat Bugge" selbst seine ansieht,
an. veig sei aus dem ags. entlehnt, zurückgenommen (Studien s. 574). Aisl. veig
bedeutet eben nun und nimmer becher, sondern getränk (veig betyder en jäsande saß
Eydberg, Undersökniugar I, 176, vgl. auch N. M. Petersen, Mythologi s. 219). Mit
dem hinweis auf Sn. E. 11, 489, wo reig unter den kvenna heiti ukend aufgezählt ist,
können wir uns hier über das geheimnis der namenbildung beruhigen. GoUveig ist
eine gemeingermanische namensform (ganz analog verhalten sich Heiprän und Chai-
deruna Beitr. Xn,264) und kann nach bedeutung der compositionsglieder aus calix
ÜBER MEYEK. VÖLUSPA. 107
aureus nicht hergeleitet werden. Ferner möchte icli daran erinnern, dass das treiben der
Gollveig-nei})r sieh durch die bcstimmungen der ags. gesetze gegen die horcwenan
veranschaulichen last. In den gesetzen Edwards und Gudrums (c. a. 906) heisst es
c. 11: loiccmi oiMc ici^leras, mdnsicoran oääe moräivyrhtan oääe fule, äfylede
fehfcrc horcwcnan ahwar on lande ivuräan a^ytene ponne fysie hie man of earde
and cldnsie pd pcode etc. (Schmidt' s. 118). Iiörcivenan sind ausserdem in Aethol-
reds (a. a. o. s. 228) und in Cnuts gesetzen (s. 272) erwähnt. Diese hörciccnan sind
die oi'gane gewesen, welche die deoßicau ^aldorsansas, snldorcrcrftas usw. (^if hica
tviccije ynibe ceni^cs mannes litfe) beim weibervolke colportierten , worüber uns das
Poenitentialo Ecgberti archiepiescopi Eboracensis (Ancient laws and Institutes of Eng-
land ed. B. Thorpe s. 343) interessante einzelnhoiten überliefeii hat, die allerdings
nur im zusannnenhang der abendländischen poenitentialordnungen gewürdigt werden
können, worüber ich bald andern orts handeln werde. AVas die bestrafung solcher
Personen betritt, so verweise ich auf R. Keyser, Normaindenes religionsforfatning
(Samlede afhandlinger) s. 371.
So löst sich auch diese verlockendste partie des M.'schen buchcs, die verführe-
rische deutuug der Gollveig durch den biblischen calix aureus der babylonischen hure,
in eine selbtstäuschung auf. Es wird aber trotzdem wegen des folgenden notwendig,
uns die Verschmelzung der Voluptas mit der babylonischen hure zu besehen. Ambro-
sius de Cain et Abel I. c. 4 gibt den calix aureus Babylonis der Voluptas in die
liand. Excerpieren wir aus De Elia et jejunio c. 15 die werte Babylon contrita est
quae est calix aureus, so sind wir immer noch nicht so weit, dass die Voluptas
durch den calix aureus resp. Babylon hätte vertreten werden können. „Wider ist
Honorius unser nothelfer" (s. 97). Die vorliegenden dunkeln stellen der VqI. empfangen
ihr voUes licht erst aus der Expos itio in cantica canticoruin Honorii; ohne sie und
vor ihi- ist die VqI. nicht denkbar. Wir haben schon gesellen , dass wir des dem be-
ginnenden 12. jahrh. angehörigen Honorius nicht bedürfen. Ich möchte aber doch,
um M. ganz gerecht zu werden, zusammenstellen, was für die Gollveig -episode in
betracht kommen könte. Ich halte mich dabei möglichst unabhängig von der M.'schen
darstelhmg und gebe meine eigenen auszüge aus der merkwürdigen dichtung des
rätselhaften mannes.
Im prolog werden die grundvoraussetzungen erläutert: fdia regis Babylonis (id
est diaboli) est gentilitas in confusione idololatriae natu. Sed liaec facta rcyina
aiistri venit ad Salomonein quia spiritu sancto quem auster signifleat illustrata
venit in coelis regnatura ad verum pacificum Christimi. Last sich dies auch
nur entfernt mit den Schicksalen der Gollveig vereinigen? Nach dem altgeprägten
Schema werden die einzelnen positionen historice, allegorice, tropologicc, anagogice
umgedeutet (ich bezweifle, ob eine vermengung dieser categorien zulässig war); und
so ist die braut Christi die angelica et humana natura . . a paradiso expulsa . .
hanc gigantes quasi latrones . . in devium äeduxerunt et mtdtis vitiorimi sordi-
bus polluerunt. Cujus miseria sponsus coiulolcns hostes ejus diluvio delevit. Iitsam
vero Noe quasi paedagogo eustodiendam tradidit. Sie ist dann unter Sara, Rebecca etc.
zu verstehen; immer ist ihr freund und bräutigam schützend ihr zur seite, bis er sie
in caelestem aulam coronandam addtceet. Es heisst von ihr mtdtis ?)ialis cam
tyrannus et aevmla ejus saepe tentavertont , quot modis quot dolis qtiot insidiis
quot artibus eani ab amore sponsi avertere conati sunt et non valuerunt . . per
gigantes tnulta nefaria ei intulenmt . . adhuc sub antichristo eorum omnibus
modis tentationem instabunt . . habet in comitatu omnes, qui sub praedicatione
108 KAÜFF3IANN
Heliae et Enoch et sub persecutione Antichristi pro Christo sanguinern fiiderint.
Sie weiss selbst, dass sie alles füi' Christus erduldet; formosa dicitur quia forma osa,
id est, propter formam odiosa. Fonnum quipipe est ferrimi in ignc candens iinde
dicuntur formosi . . ideo dicitur ecclesia formosa quia in igne tribulationis
excocta martyribus rubescit, virginibus albescit . . . adver sitatibus mundi deni-
grata, interitis gemmis virtutum ornata, oder, wie es an anderer stelle von
der sapientia heisst, ut aurura pura et in Camino tribulationis excocta.
Sie ist sich bewusst: ego quidem sunt nigra quia huic inundo p>ropter passiones
quos stistineo dcspecta . . quasi sim de furibus et latronibus nigris in pecca-
tis. Diese latroncs identificieii Honorius mit den daemones, unter denen wir nach
kii-chlicher lehre sogar die heidnischen götzen verstehen dürfen. Sie ist die verfolgte
ecclesia, welche tanto odio est habita ut nidlus ei locus manendi tutus esset, sed
semper de civitate in civil ateni fugiens miyraret, einzig dui'ch das be wust-
sein aufrecht erhalten: non pro furto vcl aliquo crimine sed pro Christo kaee
patior . . . sol (auch fervor) pcrsecutionis me obfuseavit. . . . Persecutio dicta est
meridies fsolis fervor) in quo solis ardor fervet in quo ecclesia aestuabat mit
andern werten : cris tu ecclesia amica mea inter gcutes fdias Babylonis . . . quae te
mtcltis spinis cruciatuum pungcnt et Dtultis imenis lacerabimt, a carnißci-
bus ut lilium a spinis lacerata. Im «chatten des lebensbaumes , des hl. kreuzes
sezt sich die fidelis aninia dum aestum- specularis vitae declinans in requie spiri-
tualis vitae refrigerari desiderat. Leider sind es zunächst die propheten, von denen
gesagt ist: qui in altam contemplationcm sublcvati Christum et ecclesiae mysteria
a lotige prospexerunt ; doch sagt Honorius auch von der ecclesia: sciens patris
secreta. .Wer konte darauf verfallen, die ecclesia in coclis rcgnatura mit Babylon
zu identificieren , von dem es heisst: cccidit et coutrita est?
Im fortgang des commentars wird dann die mortalitas als originale peccatum
mit einer mauer verglichen. Quem rnurum coepit Adam aediflcare, et omnis poste-
ritas eius laborat eimi consummare. Vielleicht konte an diese periode der Verfol-
gung die Schilderung angeschlossen werden, die Honorius an späterer stelle von den
kämpfen beim Weituntergang gegeben hat. Die gesamte Weitentwicklung überschaut
er von da aus noch einmal, und alles dulden fasst er zusammen in einer langen reihe
von kriegen. Im reich der gnade, d. h. seitdem das erlösungswerk volbracht ist,
zählt er 6 kiiege: Primum bellum fuit inter Christum et diabolmn etc. Voraus
liegt die algemeine friedensruhe unter Augustus, die eine sechszahl der kriege vor
dem erscheinen Christi beschlicsst. Die vorchristhchen kämpfe eröffnet das primum
bellum {civile bellum sagt Honorius in seinem Speculum) inter tyrannum et impe-
ratorem . . . quando tyrannus . . similis altissimo esse voluit . . victus a rege
Deo cum omnibus suis de aula coeli cccidit et carceris inferni supplicium subiit.
Secundum bellum fuit sub gigantibus . . tertitim bellum fuit sub aedißcatoribus
ttirris . . quartum bellum fuit sub patriarchis etc. Das erste bellum civile (folkvig
fyrst V(jl. 21) solto der dichter aufgenommen, die folgende liste nicht einmal auge-
deutet haben?
AVenn Schcrer, dessen fleiss wir Germanisten nächst Diemor unsere bisherige be-
kantscliaft mit Ilonoiius zu verdanken liabcn (vgl. Zeitschr. f. österr. Gymnasien 1868
s.5671f.j in den Denkmälern-' s.418 anm. sich ausdrückte, die person des Honorius behalte
etwas rätselhaftes für uns, so gilt diciS heute noch ebenso. Mau ist in den fachkreisen
der historiker geneigt, ihn nach Augsburg zu versetzen (siehe Watteubach, geschichts-
quellenH^, 182); sei dem wie ihm wolle, Schönbach's 2. bd. altdeutscher predigten hat uns
ÜBER MEYER, VÖLITSPA 109
wider gezeigi, dass Müllcnlioff recht zu haben scheint, wenn er von Honorius sagte
(Denkm.- s. VIII), dass er für die deutsche theologie seiner zeit besonders erfolgreich
tätig gewesen sei. Erst E. H. Meyer hat es gewagt, die in unserer mythologisclicn
iiboiiieferungeu so nicrkwürdig anklingende darstelluug in unmittelbare abliängigkoit
von demselben zu setzen; die bearbeitcr der Denkmäler liatten bei gelegenheit von
s. 418, 16 noch nicht an die esche Yggdrasels erinnert, wie jezt M. s. 116 ff. Es
musste verlocken „in der dreisten travestie (??) der heiligen geschichte das Schicksal
der Gollveig-Hei|)r, die verstossung aus dem himmelreich und ihren bösen lebens-
waudel auf erden widerkehren zu sehen" (s. 99); um so verlockender, als sich aus
Honorius mittelst überspringung weitläufiger erörterungcn auch eine deutung für das
folkvig fyrst gewinnen zu lassen schien. Es gehörte zu einer solchen deutung
erstaunlich viel kühnheit. M. erkent ausdrücklich in den Strophen 23 — 26 heidnische
grundvorstelluugen an, glaubt aber trotzdem, es handle sich um den mythus der aus
dem paradies verstossenen menschenseele, der braut Christi und den damit verknüpf-
ten aufrulir der engel gegen gott, den ersten krieg der weit.
Bei dem mysteriösen dunkel, in das für uns die VQlospo gehült ist, müssen
wir anerkennen, dass berechtigung vorliegt, mit denkprocessen zu rechnen, bei denen
nicht alles an der straff gerade gespanten richtschnur abläuft. Das ungewöhnliche hat
vorerst noch ein besonderes anrecht auf Wahrscheinlichkeit. Es wäre unbillig, dar-
legungen zu verlangen, wie sie bei unserem Verständnis zugänglichen quellen zum
wissenschaftlichen stil gehören. Aber es gibt doch auch hier grenzen. Diese grenzen
werden zumal durch die Überlieferung selbst gesteckt, andererseits gelten auch für
schlussfolgeningen , bei denen die prämissen erst zu reconstruieren sind, die alge-
meinen logischen gesetze und es ist nicht statthaft, sich durch petitio principii fangen
zu lassen.
Wie ein vergleich meiner excerpte aus des Honorius Expositio in cantica can-
ticorum mit den von M. s. 98 ff. gegebenen citaten zeigt, ist die auswahl bei ihm sehr
wilkürlich. Und was M. beibringt, bedarf der historischen begTÜndung, ehe es gestattet
sein könte, aus demselben zeugenstimmen für seine sache zu entnehmen. Im Specu-
lum des Honorius (Migne patrolog. 172, 941 C) ist von dem lumen vulhis Dei (i. e.
Christus) die rede: per hoc quijyje sumus a inorte reconciliati, i^er hoc supernae
curiae sunt damna restaurata; was aber mit diesen damna gemeint ist, deutet
der parallelsatz an: per hoc anglorum agminum gaudia duplicata. Die einbusse
(damna), welche die superaa cima durch den stürz des Lucifer erlitten hat, kann
nicht deutlicher ausgedrückt sein. Nichts desto weniger müssen wir die sich anschlies-
sende Wendung: Bens namquc o)]mipotens caelestis Hicrusalem palacium ad
Umdem sui S2^lcndifltiis ordiuibus angelortim plcnitcr instntxit, sedjit'i-
vnis archangclus a Deo recedens hoc nequiter destruxit im citatenschatz unseres
vermeintlichen skandinavischen Interpreten des Honorius als quelle für VqI. 24 (bro-
temi ras borpveggr äsa) verzeichnet sehen. Es ist für mich ein ding der Unmöglich-
keit, einen christlichen kleriker den gedanken hegen zu lassen, Lucifer und seine
getreuen hätten das palacium des himmels zerstört. Vernünftigerweise können die
werte des Honorius doch nur besagen, dass die Ordnung der himmelschöre durch
den abtrünnigen zerstört worden sei. Hier rächt sich bitter die methode Meyers,
immer nui' mit abgerissenen citatenfetzen zu operieren.
Weil wir über die Vanen nicht sonderlich viel wissen, so soll nach s. 104 ihr
mythus ein kunstproduct späterer gelehrter skalden und geistlicher sein, zu dem sie
dui'ch die ags. poesie angeregt sein mochten, die gerade den aufruhr der engel und
110 KAUFFMAKN
die damit verbundeueu stoffe sehr liebte (Gen. 25 if.). Schon die Eireksmi'^l sind
um- eine nachahmung des descensus Christi ad inferos im Nicodeniusevaugelium.
Die gefallenen engel, Satan an der spitze, seien mit namen von göttern belegi worden.
Sitifjqtli wird zu einem ags. helden gestempelt, trotz seines gut skaudinavischen
namens. Manches erbauliehe fält im detail ab, nur kann z. b. weder die rückkehr
Baldrs noch die äusserung Odins : ser ulfr hinn h^svi d sjqt gopa (von anderem ab-
gesehen) nicht untergebracht werden. Ich hätte es nicht gewagt, nach den tatsachen,
die z. b. K. Maurer, Bekehrung I, 172 f. über den zwangsweisen übertritt des Eirekr
zum Christentum verzeichnet, in so bestirnter form von dem Christentum des dichters
zu reden, wie dies s. 105 geschieht. Vollens die anspielung auf den schwedischen
Ericus ist flickwerk; oder meinte M., der verf. der EireksuK^l habe die vita Anskarii
gelesen? Die zweifellos heidnischen Hakonarmul, in denen die heidnischen götter mit
stolz genant sind, sollen nach christlichem muster gedichtet sein? Ich sehe keine
veranlassung mich weiter mit den einfallen unseres autors zu plagen. Gegen ende
des buches steigert sich die combinationsfreudigkeit immer mehr, Weltuntergang und
welterneueiimg werden zu bunter mosaik zusammengewürfelt. Ich möchte zum
schluss nur noch die Schöpfungsgeschichte eines bhckes würdigen.
Es handelt sich um VqI. 3 — 6, Strophen, in denen schon lange biblische oin-
flüsse gewittert worden sind. M. ist auch hier seiner boweisführung volständig sicher,
die ganze strophenreihe 3 — 19 folge im wesentlichen der Genesis. Der nordische
Schöpfungsbericht habe durchaus keinen germanischen oder gar indogermanischen
character; auch den iranischen erzählungen, an welche man immer mit Vorliebe
erinnert hat, scheine ein Zusammenhang mit der Genesis nicht abgestritten werden
zu können. Mau habe sich indessen mit der kirchlichen exegese vertraut zu machon,
um den Zusammenhang zwischen dem biblischen Genesis- und dem nordischen
VqIospq- texte ganz zu begreifen, dabei aber eine gewisse freiheit der auffassung,
auswahl und widergabe dem nordischen dichter von vornherein zuzuerkennen. Er
habe giimd gehabt seine abhängigkcit zu verhüllen. So? Ymor war in der tat ein
echt nordischer riese, ja er gehörte sogar dem idg. dämoneukreise an; dagegen sei
es oberflächlich an den indischen Purusa zu denken, aus dessen gliedern hiramel,
erde und sonne usw. geschaffen wurden. Und doch wird s. 52 capital daraus ge-
schlagen, dass schon der heidnische Ymer wie der indische Purusa seinen schädol zum
himmel und sein blut zur see hergegeben hat. Es Verstösse aufs sclu'offste gegen alle
altindogermanischen Vorstellungen (wie sie nämlich in M's Idg. Mythen I, 210 ff. dar-
gelegt sind), dass aus der band so junger gebilde, wie die götter es seien, die Schöpfung
hervorgegangen sein könne. So ist denn Ymer bewohner der wettei-wolke , die kuh
Au{)umla gibt nur eine andere anscliauung derselben gewitterwolke wider — mir wii'd
jedesmal in solcher Umgebung so gewitterschwül, dass mein anschauuugsvermögen
versagt.
Ymer ist abei' auch das chaos der Genesis, mit dem ginnnngagap gleichfals
identisch ist. Die terra inanis et vacua und die aquae von Gen. 1 , 2 verwandelte
unser dichter in die negativen, aber bestimmteren vasa sandr ne srer ne upphimenn.
Hat M. die svalar unncr vergessen ? Und wie weiss er mit der terra inanis et vacua
das jqrf) fannxk a:va zu vereinigen? An der massgebenden stelle ist keine der for-
mein genant. Die facics ahyssi gal) Veranlassung zu der bildlichen darstellung eines
abgruudriosen : ein wilder mann mit widerwärtigem köpfe. Der erste akt der bibli-
schen Schöpfung, die Scheidung von licht und finsternis kümmerte unsera Verfasser,
der sich überhaupt auf das allernotwendigste beschränkte, nicht — er liess ihn fort.
VllFAt MEYER. VdUJSPA
111
Gegen die cimnischuii;^' der Snorresi'lieii tassuiic;, sowii' der iilierlieferunj;' anderer
lieder in die darstellunj,' der Vc>l. li\^v ich narhdriicklicii vcrwalii'unt;- ein; von einer
gleichstellung Yniers mit Adam (siehe Zdckler a. a. o. I, (>'). !:!!). 220. 187 f.) ist in
der V(jl. so wenig eint> simi' /ji linden, als vun ihn' miselanig der gegensätzlichen
elemento (Züeklor I, 173) oder der zerteilung des mikrokosmisehen urri(^s(Mi. V. 4
hjojiom i/pßi) entspreeho dem 2. tagvwcrk, der erseliaffung des firmaments. Die zahl
der in der V(d. anl'tretenden sehüprer werde kcMnen anstnss errrenen (iil)er di(! hetei-
lignng der trinität s. Züekler I. l'.\7>. 171 n. ö.). Wohei' hat nnser Verfasser al)er die
beuemunig Bors st/i/rr'f Der ausdruek seil alieniings von hliehst zweitelhafter eeht-
heit sein. AVcnn dann die sonne auf die .,grundstein(! des (n'densaales" herahseheint.
um sie zu trocknen, um die /nrhu rirriis lii>rvorzul)ringen (.3. tagewerk), so begehe
der Verfasser den ülirigens verzeihliehen Verstoss, die soinie scheinen! zu lassen, ehe
sie noch geschaffen. Was unserem dichter diesen tadel zug(vogen, ist wol andern
ebenso unerfindlich wii' mir. ich selie von der urliehtstJieoi'ie der kirehenväter ab
und verweise dafür auf Zöckler I, 17:5. :ii)(5. 401. Aml)rosius He.xaem. lib. 1H. c. G
zieht die streuge Schlussfolgerung als glaubcnssatz: sricoit oiimcs soloii (iiirtorcm
//())/ r.v.sv nascciitiu'»! , J/on'or rsf hcrhis. junior foevo. Dil). IV. c. 3: coite solem
htrri qiiideni snl 'lioii rcf/i/(/rf dies <[iil<( (iiHpIhis unmiiiv }>/ er i d I a iio solc rcsplcu-
dct , mit merkwürdiger ül)ei'einstimmung zu si(i)))an A"i)l. 4; vgl. c. 7 Jiiun als coii-
sors et f rater solis. Ich lial)e mir die sache immer so gedacht, dass dii' sonne
längst geschaffen, der dichter nur nicht geschwätzig genug war, auch das natüiiichste
im einzelnen zu erzählen, pcir ea ii/ißr/arp u/o'rrt» sküpo wird mit stilschweigen
übergangen, denn die beizielunig von des Kosmas /} ntat] leisti't nichts. Die vulgat-
ansicht der exegeten von der kugelgestalt der erde (Zf'jcklei- T, 123) ist mit den nor-
dischen vorstelhuigen nicht vereinbar. Ich weiss wol, ilass einzelne väter die erde
sich als scheibenförmig Hache, vom ocean rings umflossene läudermasse gedacht haben.
AVas gerade Kosmas betritt, so lehrte er eine viereckige olilonge gestalt der erdober-
fläcbe im anschluss an die vier zipfel oder ecken der erde. Aw iiüpgarjyr ist
man versucht zu denken, wenn man sieli dii^ mittelaltei-liche gäocentriscln^ auffassuug
des Planetensystems gegenwärtig hidt (terra in rnedio omniuv)): vgl. auch diese Zeit-
schrift X, 37.
V. 5. G. sind mit ]\Iüllcnlioff u. a. spätere Zusätze oder wahrscheinlicher in eine
Strophe zusammenzuziehen (s. o.), die sich volkommeu im rahmen des 4. tagewerks
bmvege. Sie vergesse freilich die sterne. Dii' deutung Hoft'ory's, die auch M. unab-
hängig gefunden hat, wird preisgegeben, nicht \\'eil sie luirichtig ist, Sendern weil sie
nicht in den liericht der Genesis passt. Dass nun alier mit v. 7 nicht das 5. tage-
werk, die tierschopfuug, ci'zählt wird, bezeichnet endlich auch M. aufrichtig als
bedeutende abweichung. ITuser mysticus hätte sich als blossen nachahmer der Gene-
sis (wie ja bekantlich viele andere) sofort vijllig blossgcstelt — so lautet die vielleicht
andern lesern einleuchtende entschuldigung. AVas M. sonst noch weiss, muss ich
bitten l)ei ihm selbst s. 72 ff. nachzulesen. Es haben wider einmal die berge gekreist,
es ist aber nicht einmal ein mausgrosser gewinn für die A'"ol. zu tage gekommen.
Dagegen für Suorre. AVir In'auchen mis fernerhin keine skrupel mehr darüber zu
machen, wo bei Snorre (II, 255. I, 38) Ymer geblieben ist. Der gute christ hat
erbarmungslos die lehre der kii'che zur seinigen gemacht und mit seinem ekki
das nichts an den anfang dei' dinge gestelt, vgl. Alüllenhoff, de carm. AVessof.
s. 9. Ich acceptiere diese zweifellos richtige erklärung als sicheren gewinn. Es
herscht, wie Zöckler I, 137 hervorgehoben hat, bei allen kirchcuväteru weseat-
112 KAUFFMANN
liehe Übereinstimmung darüber, die heidnische und jüdisch -liellenistische annähme einer
nngftschaffenen materic, die coätcrnität oder gar priorität des weltstoffs mit der
gottheit zu verwerfen. Sehr interessant ist in diesem Zusammenhang die polemik
Tertullians in seiner Streitschrift gegen Hermogeues (Zöckler I, 156 f.). Wer
sich die viel verzweigten ströme vergegenwärtigt, die in der christliclien Hexaeme-
ron-literatur zusammengeflossen sind, der wird vielfach geneigt sein, wenigstens den
gedanken anklingen zu lassen, ob nicht Urverwandtschaft in einzeln teilen vorliege. Die
orientalische kosmologie bei einem manne wie Ephraem, hat, wie es den auschein
hat, aufgesogen was von ur zeitlichen Überlieferungen erreichbar gewesen ist; von
den nachweislich starken einüüssen der griechischen philosophenschule nicht einmal
zu reden. Der menschliche Organismus ist nach der naturphilosophic der Stoa das
mikrokosmische abbild des alls (Zöckler I, 47), für die Stoiker wie für die anhänger
riatons ist die materie als das gestaltlose chaos von anbeginn der dinge (Zöckler
I, 52 f.); an den massgebenden einfluss eines Philo brauche ich nicht zu erinnern.
Doch ist nicht aus dem äuge z\i verlieren, dass die Schöpfungsberichte verschiedener
nationalitäten leicht unabhängig zusammentreffen, da es sich stets um die herkunft
ungefähr derselben guter des lebens liandelt. So, meine ich, könte auch die scenerie
von Vgl. 4 auf eine anschauungsweise zurückgehen , wie sie vielfach von den exegeten
des 1. Gonesiscapitels vorausgesezt wird. . Die erde war ursprünglich vom meer über-
strömt und wird aus den wassermassen emporgehoben. Die sonne leuchtete durch das
wasser auf den festen meeresboden {d salarstcina'^ : vgl. den nameu der Salier als der
meeran wohner und die späteren Salgau, Salland?), und es wächst der grüne rasen,
nachdem die wasser eingcdämt sind. Die deutung Hoffory's auf dem meeresboden
halte ich für zweifellos richtig, nur die berufung auf lat. soh;m ist bedenklich. Ich
lerne aus Zöckler I, 248, dass gerade Beda sich mit der anschauung getragen hat,
wonach das neugeschaffene urlicht durch die den erdball rings umgebenden wasser
bis zur Oberfläche der erde durchgedrungen sei, wie die taucher es verstehen, in den
tiefen des meeres das wasser um sich her heller zu machen. Ambrosius Hexaem.
in. c. 2 sagt: tractavimus invisihilem ideo fu/'sse ferram, quod aquis operta tegc-
retur . . post congregationem aquae, quae erat super terram, et post derivationem
eius in maria, apparwisse aridmn. lib. I. c. 8: solis radius, qui solet et suo aquis
latentia declarare.
Was weiten wir dagegen sagen, wenn jemand beliauptete, die geheimnisvolle
mythologie der runen, wie Sigrdrifa sie kent und lehrt, sei nichts anderes als der
gedanke eines Origcnes, Athanasius und anderer, dass die uns umgebende creatur nur
eine Zeichenschrift des allerhöchsten sei, buchstaben in seinem Schöpfungsbuche? Nach
Gregor von Nazianz eine grosse und herrliche schrift (aroi/fTov) gottes, wodurch
dieser wie durch eine stumme Zeichensprache verkündigt werde; ähnlich bei Basilius,
Chrysostomus, Augustin u. a. (Zöckler I, 113 f.). Es ist so sehr leicht anklänge au
die nordischen berichte aufzuspüren : wenn in der Genesisdichtung des Spaniers Juven-
cus der cherub als eine art von waberlohe um das paradies her dargestelt wird
(Zöckler I, 257); ab horto jjaradisi qui dieittir undique igneo muro esse eonelu-
sus . . vi homines inde prohiheat ignis sagt einmal Honorius von Augustoduuum
(a. a. 0. 1181 D); oder wenn beim Massilioten Claudius Marius Victor das eiskrystall-
artige firmament als ein kühlender schild für die erde gegen die hitzc der ätherregion
aufgcfasst wird (Zöckler I, 261 f. 378): man erinnert sich dabei des himintarga SnE.
I, 292, des Svalenn stendr solo fyrer sJcjqldr, sMnanda gnpe : hjnrg ok brim reitk at
1) Vgl. nol■we_^^ soll grundstock (Aasen').
illil'.R MKVKR. YtimsrA 113
brinna slciila cf hioni fcllr i frd (ii-imiicsin. MS. Si.nrili'irmii. lä. W'i'uii (_»|)iiiu und
Frigg in der (>iiii!,aiii;'S|iV(isa zu den (Irimnesni. siilti i lilifisL-jalfH (wie Xm'v vVn'Cryog';)
ok sd UV) licivia alln, so Iioisst es auch von gott in der allen, icüivdii'li von Ewald
herausgegebenen, in England entstandenen, soiir weif vnllen Vita (iregm-ii: Deu (imiiia
ex (ircc stni sprc/tliD/lr pro/- ii/i'nfri//ff' (Kcsischiilt für <<. Wailz s. fil), wohl nach
Ps. 13, 1 il(i»ii)iiis (If i'dclii jinis/ic.rt/ st/jicr /ilios h(iiiiiiiiiiii : vgl. aneli .laFie, Mon.
Mog. p. 44, 1 ff. Für d(>n halsschniurk dei- Freyja künti' man des niiniilf gcdenki'ii,
von dem wii' liei llonnrius lesen: iiionllc, unml {vi-i'U'^iani) nniiil cl nnuiil jiectns. fs/
xii/i/Niu riri//in's (/rs/KUiisiitiir . i/r (iduUrr iinlldl iiudunii ni siinim alniKic a. a. o.
llli.'{ F. Als i'iiii' schildlmfg wird die larr/'s Darid geseliildi'i't : j/u'/lc t////iri pi-iiilod
ex Cd a. a. o. 1177 F; und die au/ti citcli iinii rccipit iillitiii pcccdli iiKtciihiiii , \\\r
llaldis wolmung a. a. o. IISO 1!.
Die üherrinstininiungrn werden alier ei-nsthal't(M'en eharalcters. snhald wir uns
d(M' liherlieferung in Snnri'i-'s cinniiendium niUiern. A\'it' daiikhar wären wir gewesen,
wenn M.s lleissige hand eine iiucllenkund(^ der Snorra Edda uns besi'hert liättrl So
lange wii' eine solche nicht bi'sitzen, ist es nicht statthaft orziUilungen für das heiden-
tum in anspruch zu mdimen. füi' widdie nur Snori'o und sein ki'ois die gewähi's-
männer stelt. Ich keime nur aus Sn. E. 11, 2S1. 1, 142 jene komische geschichti', die
[tiu'!' i>assiei'te. als e]' seine luM-ke geschlachtet hattr und sie am aiidei'n morgen jnit
seinem hammer wider helehte. wovon Hymeskv. 37. 3S nichts weiss. Dazu gibt es
aus iler wuudergeschichtc d(^s Brittena[»ostels ('«ei'maiuis ein veiiilüfi'endes seitenstück,
das uns wenigstens gegen die noi'dische überliefei'ung (zu dei- übi-igons 11. Petersen,
(iottesdienst s. .'iS zu vergleiehen ist) versichtig machen muss.' Sie sticht bei Neninus
s. 32 und ausführliciier in der Acta SS. zum 31. .Tuli (s. 272). (iermamis war bei
i'inem ai'inen Kidudots n'i/is an einem stürmischen wiutertag eiugekelirt; die kleine
familie besizt nur eine rai-ca nelist nfuliis. Dieser wird dem gaste zu ehren
gesehlachti't : cociki cxjdicitd hi'dliis (IcniHiniis nndicrni/ vnx-ni, inipvniUiiic /d assa
r/'f/di eol/ectd d/l/t/cid üts s//jicr jicil/cnldii/ ('/'//s aide iindroii in jiracsfpin cnu/jio-
iial. (jiio fdctd (mij'dni dii-tii <ju()d vstj rif/rlns dl/s<j/ic iiinrd ndrrcxil , iiid1ri(juc
rnadsfaiis pahidiiiii cdrprrc cuepit. Dagegen bei Nennius (Mon. Ilist. Ih'it. 1, 03):
rHidinii dccidli , cnxif et pasiiif didc svrruiii Dei ractrrd^qtic sdcio!< ejus, tj/n7t/(f<
S. (Icniidinis prdvfcpit . itt nmi cdiij riiKiercfur "S- de dssihds eil/di. ef sie pictuiii
esf. Ii) eraff/itifiii rit/ilds i/ireidds est dide iiiafreiii sitdiii saiids ef r/n(s. Iiieo-
l/nt/isij/te dei //riserieordid ef nndiuiie S. (leniidiii. Amdi übei'cinstimmungeu wie
die von Maurer Bekehrung 1. 4()8, UU und Jac. Grimm, iiiyth. ' l.")7 f. 753 anm. 2
erkanten dürfen erwähnt wenlen. AVähi'cnd Vaf|n'ü{inesm. 30. 37 auf die fragi^ Ojjius
an den riesen. woher doi' wiml koinnu'. die antwort gegclien wird: Ilmsrelur l/eifer
es siff d lii»iens endd jutiDHi in dnnir Intin . df i/dits r<eii(jjoiii l'rejxi riiid h(niid
iilld ineiui yfer, weiss Snorre II, 2r)7. I, 48: rjerpo hiiieinti oh- seffd _///lr jorpina
med IUI skaiäiim (d{ i/iidir I/rerf hiini seffn pcir drer;/ ÄHsira , \'estrd, Noipru,
Stipfd , zwerguamen, die amdi litu-eits in dem interpolierten katalog der V(^)l. stehen.
,1. Grimm hat Myth. ' s. 382. 525 in denselben die bezeichnung der vim' haujitwinde
gesehen, was nii'gends überliefei't ist, der Sache nach aber das ilehtige hei'ausgehobeu
hat. In solchem falle kann nur blinde Voreingenommenheit ehi'istlichen einfUiss ver-
kennen, vgl. Apocaly[ise 7,1: pusf J/aee ridi qtiafuur aii(jelns sfd//fes super (ludfiior
augidos fcrrae (= skduf, doch ist zu der Wortbedeutung Buggc. Studien s. 205
1) Nachträglich sehe icli, dass bereits Moni' und Wnlt daraal hiiiL;('\vii"-i.'ii lialicii, vgl. Mannhardt,
üerm. Mythen s. 57 ft'. Vu;!. auch Grimm, Myth. 151.
ZEITSCHKIFT F. DEUTSCUE PHILOLOGIE. BD. XXIV. 8
114 KAUFFMANN, tJBER MEYER, VOLUSPA
anm. 3 zu bcrücksiehtigen) tencntcs qnataor renton terrae, ne flarent super ferrani
neque super mare neqtie in uUam arborem. Es sind die mundi eardines, e quibtis
ventortim potens quaternio (F. Oeliler corp. haeret. I, 131) oder die quatiior partes,
distitiGtiones mundi, welche die cornua crucis umfassen: orientem seilicct et occi-
dentem, aquilonem et meridiem (in derselben reilienfolge wie im nordischen text
gegen YqI. 11). Eine deutlichere spur als der termiuus hörn der Eddastelle ist nicht
zu verlangen (doch vgl. landshorn Yigfusson Dict. s. 279), und es liegt auf der band,
dass in demselben christlichen boden die poetischen jaräarslaut, heimsskaut wurzeln.
Ob dagegen eine termiuologie wie Honorius Augustod. de imagine mundi I. c. 5G:
dieuntur autem nubes quasi nimhorum naves die quelle für vindflot Alvism. 18
gebildet hat, kann zweifelhaft sein. Ich habe mich Beiti'. XV, 195 ff. dafür erklärt,
dass bereits unsere töltesten mythologisclien lieder von dem kulturstrom berührt sind,
der im sonnigeren Süden entsprungen war. Diese berührungen nachzuweisen, ist eine
ernste aufgäbe, an der schon manche kraft sich erschöpfte. Wie tiefgreifend das
römische recht die germanische nationalität gefährdete, muss hier nachdrücklich her-
vorgehoben werden; es ist notwendig an den ergebnissen der rechtsgeschichtc den
blick zu schärfen, wenn es gilt, die Wandlungen der religions Vorstellungen auf christ-
lich-römische einÜüsse zurückzuführen. Seitdem ITsonors Eeligionsgeschichtliche Unter-
suchungen (I. II. Bonn 1889) erschienen sind, selten auch wir gelernt haben, wo
und wie der spaten angosczt werden muss, um an die wurzel der volksbräuche zu
gelangen. An verwegenen verlorenen einfallen haben wir jezt reichlich genug erlebt.
Die mythologische forschung hat jezt als nächste aufgäbe, aus dem bunten
bilde der Überlieferung die factoren auszuscheiden, die dem religiösen leben der
einzelnen germanischen stamme angehören. Auf der grundlage des religiösen lebens
erhebt sich der labyrinthische bau der religiösen dichtung. Ich zweifle nicht,
dass die religiösen anschauungeu,. ceremonien und Symbole, die das gesamtvolk be-
herrschen, wie ein Ariadnefaden uns durch die übeilieferten dichtwerke die richtige
bahn führen werden. Die Scheidung zwischen der kunstleistung des individuellen
dichters und dem festen fonds des volkstümlichen glaubens ist die Vorbedingung für
die behandlung der frage nach der herkuuft der dichterischen Stoffe. Die einzelneu
formen der volkstümlichen religiösen ceremonien haben gleichfals ihre geschichte, an
deren aufhellung wir zu allererst werden zu arbeiten haben. Ausgangspunkt kann
aber nur- der zustand des germanischen heidentums unmittelbar vor dem bekehruugs-
werke der christlichen missionare sein, wenn wir- historisch zuverlässige resultate
erwai-ten. Ich arbeite seit längerer zeit in dieser richtung und bin von ganz anderer
Seite der frage nach der kulturberührung der Germanen mit der romanischen weit
nahegetreten.
MARBURG, 8. FEBRUAR 1890. FRIEDRICH KAUFFMANN.
A. Wagner, prof., Der gegenwärtige lautstand dos schwäbischen in der
mundart von Reutlingen. Er.ste hälfte. Reutlingen 1889. (Festschrift der
kgl. realanstalt zu Reutlingen zur feier der 25jährigcn regierungszeit sr. majestät
des königs).
Für den verf. ist die nähere bestimmung seiner abhandlung, die gegenwär-
tige lautform der Rcutlingor Ma. zur darstoUuug zu bringen, wesentlich. Denn auch
er huldigt der ansieht, dass wir im stände seien, den proccss der lautveränderung zu
KAUFFMANN. i'BER WAOXER , REUTLIXGER MUNDART 115
belauschen und die richtung- derselben vorauszusagen. Das ist ein durch die engli-
schen Phonetiker nach Deutschland verpflanzter irtum. Von den schriftsprachlichen
einflüssen wie ac statt qe (aeclrks i^ohört aber nicht hierher, ahd. ccjidchsa) , ö statt
ao u. a. abgesehen, bedarf es nur der koutuis der älteren spräche, um isolierte reste
wie (Is^ot (zehnte ans zöhendo > *zehede), ßrcllaeno (entlehnen aus verlehenen),
qemots (irgendwohin aus *naiswaze) u. a. als besonders altertümlich zu schätzen; von
einem vorschwinden der nasalierung kann vernünftigerweise nicht die rede sein. Die
Reutlinger ma. hat in der alt(Mi reichsstadt zweifellos genau dasselbe Schicksal gehabt,
wie der scliwäbisehe dialekt in weniger exclusiven bezirken und ist in ihrem laut-
bestand seit jahi'huuderten fest geworden. Durch zerstreute boeinflussungen von selten
der gemeiusprache wird derselbe im gründe nicht berührt.
Die Schreibweise schliesst sich im ganzen den von mir gebrauchten zeichen an.
Es ist zu bedauern, dass der herr verf. darin nicht consequenter gewesen ist und da-
durch sein scherflein zur herstellung einer gleichmässigen dialektorthographie bei-
getragen hat. Aus verschiedenen gründen wäre ä statt u vorzuziehen gewesen;
warum der verf. die fast algemein recipierten e, o (statt dessen m, o) verschmäht hat,
ist nicht einzusehen. Das griech._;if können wir auch sehr leicht entbehren, wenn wir
neben x noch x einführen etc. Es ist geradezu pflicht, in dialektdarstellungen klein-
liche Sonderinteressen zu opfern, um dem leser das Studium dadurch zu erleichtern,
dass man die Systeme älterer arbeiten beibehält.
Die abhandlung enthält s. 3 — 20 eine sehr gehaltvolle phonetisclie analyse der
laute , die in einzelheiten von meiner darstellung abweicht. Fremdartig ist mir nament-
lich die airfstellung eines kieferwinkels 5. grades für ä; aus meiner erfahrung wüsste
ich nichts zur bestätigung desselben beizubringen. Ferner soll, was jeder beobach-
tung meinerseits zuwiderläuft, der kieferwiukel für ^ und q derselbe sein; ich muss
an der absteigenden reihe o, a, (p festhalten. Im übrigen haben indessen unsere
unabhängigen beobachtungen zu volständig übereinstimmenden resultaten geführt
(namentlich was den schwierigen diphthong di) betritt, so dass wir behaupten dürfen,
die schwäbische lautbildung sachgemäss erläutert zu haben. Widerspruch muss ich
gegen "Wagners steigende diphthonge (s. 11) erheben. Man mag die Verbindung ja
als steigenden diphthong betrachten (dessen erstes einsilbiges element nicht als *
sondern als e anzusehen wäre); die termiuologie ist aber nicht empfehlenswert, schon
weil sie auf w übertragen, zu Ungeheuerlichkeiten führt, ic in iva ist überhaupt kein
halbvocal mehr, wie Wagner schon von Winkler hätte lernen können, folglich ist
seine Umschreibung "« H «e etc. in hohem gTad irreführend. Ausl. -e, -o sind
nicht mit dem nasalzeichen zu versehen, es sei denn, dass nasenresonanz vorausgeht.
Sehr dankensweii ist nun aber, dass uns hier zum ersten mal in philologischer
darstellung experimentelle messuugen der Quantitäten vorgelegt worden sind.
Wagner hat mit dem Grützner -Marey'schen apparat gearbeitet (vgl. jezt Phonet.
Studien IV) und die quautitätskurven auf tabellen beigelegt. Ich benutze die gelegen-
heit, auf den artikel von herrn William Martens in Kiel: Über das verhalten von
vocalen und diphthongen in gesprochenen werte n. Untersuchung mit dem sprach-
zeichner in der Zeitschrift für biologie, herausg. von W. Kühne und C. Voit (N. f. VII.
bd. 1889 s. 289 ff. , mit sehr wei-tvoUeu tabellen und tafel I) die aufmerksamkeit zu
lenken. Herr Martens hat nüt dem apparat von prof. Hensen (vgl. Zeitschrift für
biologie, N. f. bd. V.: über die schrift von schallbewegungen) gearbeitet (wie neuer-
dings noch eingehender Pipping). Es empfiehlt sich jedoch bei widcrholung der ver-
suche, vorsichtiger zu verfahren. Wenn ruis Wagner s. 5 als resultat seiner vocal-
116 KAUKFMANN, ÜBER WAQNKR, REUTLINUER MUNDART
messnugen mitteilt, dass die (|uantit;it der langeu vocalc zu der der kurzen sich wie
3:2 verhalte, so weiss ich damit wenig anzufangen, wenn ich über die termini „lang-
und „kurz" ohne aufklärung bleibe. Die oxperimente von Martens ergaben z. b. eine
maximaldauer von 0,549, eine minimaldauer von 0,038 Sekunden. Sehr schön sind
dagegen die resultate bei den consonanten s. 13 ff. Auffallend bleibt mir nur, dass
dem verf. der lautwert auslautender lenis entgangen ist : inlautende lenis wird in aus-
lautstellung zu aspirierter fortis: rap nicht rah rabe, rappe etc. Möchten doch die
physiologischen experimente auch auf andern dialectgebieten recht sorgfältig widerholt
werden! Es ist keine frage, dass die wissenschaftliche, tatsächliche ergebnisse liefernde
dialectforsohung erst mit hilfe von apparaten ihren zweck erfüllen wird, wie ja selbst-
verständlicli die iuteressen der phj'siologen ihre notwendige wissenschaftliche unterläge
erst erhalten, wenn sie nicht mit einer abstracten, sondern mit der individuell mund-
artlichen aussprachsform operieren. Der Edison'sche phonograph wird walirscheinlich
unseru zwecken nicht die erhofften dienste tun. Kreisen, welche die technischen
erfindungen mit Interesse verfolgen, mache ich noch eine in Deutschland, wie es
scheint , nicht beachtete Untersuchung von Adrien Guebhai'd namhaft : Nouveau procode
phoneidoscopique par les anneaux colores d'interference in der Association Francaise
pour Tavancement des sciences. Paris 1879 (Oongres de Montpellier.) Vielleicht
haben andere mit der Wiederholung der experimente mehr glück, als ich.
S. 20 ff. erhalten wir eine sehr reichhaltige, auf idiotismensamlung angelegte
Statistik, zunächst die vocale umfassend; diphthonge und consonanten werden in aus-
sieht gestelt. Ich möchte den Verfasser dringend dazu ermutigen. "Was kentnis der
älteren formen anlangt, so werden zwar am schluss der abschnitte aus den Urkunden
des städtischen archivs materialien verzeichnet, aber in sehr äusserlicher form. In
diesem stück bleibt viel zu wünschen. Auch die gruppieruug der (juantitäten ist
verfehlt.
MARBURO, DECEMBER 1889. FRIEDRICH KAUFFilANN.
Kautrinanii, Friedr., Gcschiclite der schwabischen mundart im mittel-
alter und in der neuzeit, mit textproben und einer geschichte der Schrift-
sprache in Schwaben. Strassburg, Trübnor, 1890. XXVIII, 355 s. 8°. 8m.
Das buch enthält eine behandlung der lautlehre des schwäbischen , in welche
verwobon ist, was der verf. über flexionserscheinungen gesammelt hat. Wie von ihm
zu erwarten, gibt der verf. eine von den gruudsätzen heutiger Sprachwissenschaft
ausgehende und denselben völlig genüge tuende arbeit. Aber, was mehr heisseu will,
er komt auch zu ganz hervoiTagenden ergebnisseu. Manche partien schwäbischer
lautlehre werden für absehbare zeit zur hauptsache nun fertig gestelt sein, andere
sind hier ganz erheblich gefördert. AVas der verf. an historischem material aus den
denkmälern von den ältesten lU'kundlichen nameusformen an abwärts bis auf die dia-
lektdichter des 18. Jahrhunderts zusammengetragen hat, führt vielfach zu ebenso über-
raschenden als fest begründbaren resultaten. Und mag das hier gegebene, was sich
heute kaum völlig übersehen lässt, in manchen punkten noch in ausschlaggebender
weise ergänzt werden, ao bildet es doch jedesfals für jede weitere arbeit ein
ausgezeiclmetes hüfsmittel. Bedeutend weniger genügend ist das material aus der
lebenden mundart. Hier musste verf. mehrfach die mundart eines einzelnen punktes,
des Städtchens Horb a. N. als förmliche grundlage benützen. Dazu konte er fügen,
was er aus seiner heinuvt Stuttgart kent, was er selbst sonst erreichen konte und was
BOHNKNBEKCiER, ÜßEIt KArFFMANN, OKSril. VKU SnnvÄB. MUNÜART 117
neben einigen engere gel)icte oder einzelne erscheinungeu behandelnden kleinereu
publicationen uuscro oberamtsbeschreii)ungen bieten. Horb hat nun wohl für einige
erscheinungcu eine ganz besonders günstige läge, aber es erscheint als Städtchen
schon nielirfach von der gebildetensprache beeinflusst. In Stuttgart ist kaum mehr
etwas von bedeutung zu holen. Die oberamtsbeschrcibungen aber, auf welche es für
die grossen weiten gebiete des dialocts ankäme, sind hierfür ganz unzureicliend. Ein-
gehenderes und brauchbares material liefern nur die alleracusteu , Babingen, Tuttlingen
und Ellwangen. Somit vermögen dieselben nur über begrenzte gebiete im n.o. und
im s.w. zu untcrriehteu , alles andere fehlt. Und selbst das bei ihnen gegebene
bedarf der controlle. Gut steht es wider dank BirHugers arbeiten um das oberschwä-
bischc. So mag es sich aus diesem mangel an material und einer daraus sich erge-
benden Unsicherheit u. a. auch erklären, dass verf. auffallender weise im gebiet der
lebenden mundart dem von ihm selbst als absolut unumgänglich anerkanton grund-
satz, die gesetzmässigeu bildungen als solche zu bestimmen, mehrfach nicht oder
nur ungenügend nachkomt, sich mit aufführung der neben einander hergehenden ver-
schiedenartigen entsprechunjjen begnügt und selbst nicht volkstümliches als gleich-
berechtigt einreiht. Oft worden auch den im text aufgeführten durcliaus gleich-
berechtigte entsprecliungen in der anmerkung abgemacht, offenbar weil sie einem dem
verf. weniger naheliegenden dialectgebiet angehören. Damit bin ich auf das formale
gekommen. Wer auf guten sprachlichen ausdruck, richtige Stoffverteilung in absätzen,
Paragraphen und abschnitten, corrcctes anbringen der paragraphen- und absatzziffern
sieht, wird andere anforderungen machen, als der verf. an sich gestelt hat. Über
dem bestreben pointiert und eigenartig zu reden, wird der verf. manchmal auch
dunkel und unverständlich. Weite er uns aber vor die wähl stellen, ob wir lieber
das buch, wie es ist, mit seinen formalen Unebenheiten und seiner unvolständigkeit in
Verarbeitung der lebenden mundart annehmen, oder erst länger warten möchten, bis
er gelegenheit gefunden, diesen mangeln vollends abzuhelfen, so würde der fachmann
zweifellos doch ersteres vorziehen.
Das Vorwort benüzt der verf. , persönliches und sachliches verknüpfend , zu
principiellen anseinandersetzungen. Gegenüber der von Paul aufgestelteu erklä-
rung der sprach Veränderung sieht verf. deren grund in einer bestirnten, zeitlich
begrenzten und aus konkreten anlassen hervorgehenden änderung der function der
Sprachorgane. Wer mm auch diese aufstellung des verf. anerkent, wird eine
wesentliche modifizierung der ansichteu der Sprachwissenschaft nur dann darin
sehen, wenn ihm dieselben früher mit den aufstelluugen Pauls, nun mit denen des
Verfassers völlig zusammenzufallen scheinen. Da seit dem 14. jahrh. keine Verände-
rung der lautbildung nachgewiesen werden kann, die Stabilität des lautbestandes viel-
leicht aber noch älter sei, so sieht der verf. die vorauszusetzenden functionsändemngen
der Sprachorgane, veranlasst durch die einwanderung des Stammes in seine heutigen
sitze, und gibt als gesichtspunkte veränderten luftdruck, gänzlich andere bodens- und
lebensverhältnisse. Aber was ist diesen Verhältnissen bei ihrer Verschiedenheit in
oberschwäbischer ebene und Schwarzwald , in Alb und Neckarthal gemeinsam gegen-
über den Verhältnissen der alten heimat? Würde verf. wirklich versuchen, in ein-
zelnen aus solchen veränderten Verhältnissen die functionsveränderungeu der sprach-
organe zu erklären, so würde er wol, um bestimte Ursachen zu erhalten, gezwungen
sein einzelne Verhältnisse herauszugreifen, welche niu- für einen grösseren oder gerin-
geren kreis, nicht aber für sämtliche stamniesangehörigen gelten konten. Damit wäre
anzunehmen, dass sich die einen dem beispiel der anderen anschlössen; wir hätten
118 BOHNENBERGEK
also hier psychische gründe, und die functionsveränderung hätte dann bei beiden teilen
durchaus verschiedenartige Ursachen. Diese aus psychischen gründen hervorgehende
bewegung müsste dann aber ebenso ausnahinelose gesetze geschaffen haben, wie die
aus mechanischen gründen gegebene, und sie wäre zu trennen von der secundären,
welche analogicbildungen schaft. Aus gleichem gründe geht meines eraclitens verf.
zu weit, wenn er für die hd. lautverschiebung das bild der Wellenbewegung für un-
statthaft erklärt und vielmehr jede einzelne mundart den process selbständig durch-
machen lässt. SoU damit gesagt sein, dafs auch das Individuum ohne psychische
abhängigkeit von anderen denselben vollzieht? Mag man mit verf. darüber einver-
standen sein, dass noch andere Umwälzungen der gleichen zeit angehören und dass
womöglich ein alle zusammen erklärender einheitlicher grund anzusetzen ist, so wird
es doch auch hier, fürchte ich, bei der grossen Verschiedenheit der Verhältnisse der
einzelnen sehi- schwer sein, irgend welchen zustand in der weise für das ganze gebiet
der Verschiebung gleichartig zu denken, dass derselbe allenthalben wesentlich gleich-
zeitig dieselbe funktionsveräuderung der sprachorgane bewirken könte. Immer werden
zum mindesten inseln bleiben, innerhalb welcher gerade in den fraglichen Verhält-
nissen Verschiedenheit oder wenigstens ])edeutende abstufung herscht. Diese müssten
dann die funktion der Umgebung angenommen haben. Und damit wäre räum für
irgendwelche art der ausdehnungsbewegung. Ob aber dabei zum mindesten eine an-
zahl von h au pt Zentren als ausgangspunct der Verschiebung, oder nur ein einziges
hauptgebiet anzunehmen, darauf will ich nicht weiter eingehen, zumal der Vorgang
selbst heute überhaupt noch unerklärbar erscheint.
Hauptabschnitt I, phonetik, gibt die nötigen phonetischen gesichtspunkte und
charakterisiert den lautphysiologischeu bestand der mundart. Dieser wäre als die haupt-
sache noch mehr hervorgetreten, wenn manches der algemeinen phonetik angehörige
gekürzt oder gestrichen worden wäre. Ueberhaupt kann man sich bei diesem ab-
schnitte mehrfach fragen: für leser welcher art ist dies geschrieben V Wenn verf. in
betreff der geräuschlaute angibt, dei- versuch mit einer Wassersäule in einer glasröhre
von 7 mm durchmesser ergebe bei lenis ein steigen von 1 '/, cm , bei fortis von 2Y, cm,
so verliert ein solches experiment dadurch ziemlich an wert, dass man dasselbe nicht
wohl durch den die mundaii redenden mann machen lassen kann. Und dann wäre
das experiment auch auf die aspirierte fortis anzuwenden gewesen, ob diese nicht
noch stärkere explosion aufweist.
Hauptabschnitt II gibt eine Orientierung über namen von stamm und Sprache,
Stammesgrenze, merkmale der nachbardialecte , teilung des schwäbischen in östliches
und westliches gebiet. Unbeschadet aller kürze solte man aber, nachdem ort und
zeit richtiger bestirnt sind, nicht mehr von der „sog. Schlacht bei Zülpich a. 496" reden.
Den hauptteil der arbeit bildet abschnitt HI, die lautstatistik. Hier werden
die einzelnen laute in ihrer geschichte von den ältesten nachweisbaren, vom verf. aus
den denkmälern meist überreich belegten formen an bis in die heutige mundart vor-
geführt, die gesetze wie die zeit der Umbildung bostimt. In dieser beziehung ist
allenthalben das ergebnis, dass seit dem 14. jh. keine wesentliche änderung in der
mundart mehr statgefunden hat. Aus der benützuug der denlcmäler ergeben sich
ganz interessante grundsätze füi' deren Verwertung, z. b. für che bedeutung der „um-
gekehrten Schreibung", für beurteilung der Schreibart in Übergangszeiten, wo das tra-
ditionell gegebene von dem der ausspräche entsprechenden zeichen verdrängt \\ird, für
Charakterisierung der Schreiber, welche je nach stand und bildung mehr der traditio-
nellen Schreibart anhangen oder den lebenden laut geben. Was die vocale betrift, so
ÜBER KAUFl'MANN, GESCH. DEK SCHWAB. MUNDART 119
beabsichtigt verf. zuerst durch behaudluug der oinzelvocalc einen ausweis des bestan-
des zu den verschiedenen zeiten zu geben; in einem nachfolgenden cap. „Geschichte
des vocalismus" werden die wirkenden gosetzo eruiert und die zuvor nacligowicsenen
Vorgänge erklärt. Ich gebe der küi-ze halber nur, was ich aiiszusetzen habe. Durch-
gehend sind bei behandlung der alten kürzen die quantitätsverhältnisse zu wenig genau
gegeben. Es wäre rnit rücksicht auf die einzelnen gebiete der mundait genauer zu
untersuchen gewesen, welche beispiele dehnen und welche die kürze erhalten. Das
gleiche gilt in betreff der diphthongisierung alter kürze, und hier wäre besonders noch
zu beachten, wo dieselbe vor nasal -]- spirans consequent durchgeführt ist, und wo nur
zum teil. Ferner wie weit heute noch die Vertretung c > ej und e "> de durch-
geht. Was hierüber §69, 2, b und § 72 gesagt ist, ist z. t. selbst für Horb anfecht-
bar. Dasselbe gilt vom wandel ö > äo und oc > de. Bei den Vertretern von mhd. iu
ist eingehender als geschehen der versuch zu machen , diejenigen der beiden ursi)rüng-
lich verschiedenen laute auseinander zu halten und genau anzugeben, in welchen bei-
spielen und wo der diplitliong als ui, t, ü erscheint, oder dafür mit dem Vertreter
des Umlautes von ü zusammenfallend oi auftritt. Das gebiet von ü ist ausgedehnter,
als verf. meint. Eingehend sind die vocale der nebensilben behandelt und sehr in-
haltreich die belege aus den denkmälern für endsilbenvocale der ahd. und mhd. zeit.
Ob die frage über das Verhältnis pe : po als Vertreter von cd durch den ohnedies etwas
unbestimt algemeinen hinweis auf verschiedenen nachdrucksgrad (§110 A 3j gelöst
ist, bleibt mir fraglich. Soll hier gesagt sein, i in ai sei direct zu a geworden?
Und wenn so, wo bietet sich hiezu eine parallele? Dies fiUu't auf die erklärung der
gegebenen vocalveränderungen hinüber. Hier stimme ich im princip der darlegung des
Verfassers bei, dass bei schwachgeschnittenem accent tieftonigkeit des stamsilbenvocals
mit zum höchsten laut aufsteigender betonung für das schwäbische sich womöglich
zweigipfliger accent und dehnung ergibt. Wenn aber verf. diese Wirkung auf die
geschlossene silbe beschränkt, dehnung iu offener silbe auf ausgleiclmng beruhen und
umgekehrt jede silbe in pausastellung sich dehnen lässt, daher auch ebenso kurze
einsilbige formen auf ausgleichung zurückführt, so kann ich diese annähme nicht für
das ganze schwäbische gebiet teilen. In einer anmerkuug weist der verf. die rück-
sicht auf den charakter der folgenden cousonanz kurzweg ab. Stände ihm mehr ma-
terial zur Verfügung, so wäre er wol anderer ansieht. Es lässt sich in bestimten
gebieten ganz genau nachweisen, wie vor bestimter consonanz dehmmg bez. für e
diphthongisierung stathaben kann, und wie dieselbe vor andern unterbleiben muss.
Wenn dann innerhalb bestimter grenzen wider einzelne cousonanzen wie z. b. aspi-
rierte fortis oder b -j- cons. verschiedene quantität des vorgehenden ursprünglich
kurzen vocals zeigen, wenn ng anderen stand zeigt als nk, german. h anderen als
der Vertreter von germ. k, so ist diese interessante erscheinung auch bei der bestim-
mung der articulation der betreffenden cousonanteu zu beachten. Dass zwischen den
verschiedenen consequent bildenden gebieten Übergangsgebiete entstehen, kann nicht
auffallen. Somit sage ich: zum mindesten in einem teile des schwäbischen gebietes
tritt organische dehnung auch ein, wo der vocal die silbe schliesst, und es gibt bestimte,
die dehnung aufhaltende consonauzen. Bei der erklärung der diphthongisierung wäre
auf grund des zuvor bei der darstellung der einzelnen laute eingehender zu gebenden
materials zu fragen gewesen, warum gerade die nasalvocale anderen voran sein konten,
und warum auch unter ihnen ein teil zurückblieb. Dann wäre der satz, dass der
homogene geschlossenere vocal erzeugt wird, wenn bei überlangem vocal kehlkopf und
Zungenrücken sich heben, specieller auf die einzelnen erscheinungen anzuwenden. AVie
120 BOHNENBERGER , ÜBER iCAUFFMÄNN, GESCH. DER SCHWAB. MUNDART
wird ostschwäbisch ö zu da unclczup? Soll p über ei geleitet werden (§140, 2. a)?
Parallel 03 aus 0 geht es doch wohl direct auf e zurück. So war wol auch e, wo
es als ea erscheint, zunächst durch dehnung zu e geworden, so dass für das gesamt-
gebiet diphthongisierung des offenen e zu ea nachzuweisen wäre.
Bei darstellung der cousonanten schliesst sich an diejenige der einzelnen ge-
räuschlaute eine sehr eingehende behaudluug der lautverschiebung au. Zumeist
liandelt es sich dabei um eine mit grosser bestimthcit und geuauigkeit diu'chgeführte
auseinandersetzung mit der Schreibung der denkmäler. Doch zeigt sich dabei wider
aufs neue, wie verwickelt die Sachlage ist, besonders bei ph, eh. Aber auch für die
sachliche fassung, welche man im grossen mid ganzen als feststehend anzusehen
jiflegt, führt die Untersuchung desverf. noch zu mehrfachen genaueren bestimmungen.
Es ergibt sich z. b. , dass germ. dentaler reibelaut schon um die wende des 7. und
8. jh's. zum verschlusslaut wurde, dass dieser leztere stumm war, da < mit rf wechselt,
und dass die auftretenden th nicht letzte spuren oder graphische fortsetzung des alten
reibelautes sind, sondern erst jünger und gleichwertig mit ^. Die aufstellung Kögels,
dass ausl. fortis explos. zunächst affricata wurde, hat verf. in der hauptsache
abgewiesen. Im gebiet der Sonorlaute wäre § 181, 2 wider über das eindringen von
ff nach z bez. cons. -j- ^ bestimtere angäbe zu machen gewesen.
Ein anhang behandelt in guter spraehe und von gemässigtem Standpunkte aus
die geschichte der Schriftsprache. Hier werden selbst strengere Verfechter einer mhd.
Schriftsprache ein gut stück mit dem verf. gehen können. Zur trennung wird es
kommen, wo er die reinheit der i'eime der mhd. classiker betont; wo er darülier weg-
geht, dass nach H. Fischers nachweis Rugge saelekeit : freit reimt; wo Hartmann
definitiv ausserhalb Schwabens im engeren sinne lokalisiert werden soll. Beim buch-
druck weist verf. mit recht auch auf die frage nach der heimat der druckenden
gesellen und auf die bedeutung der messen hin. In betreff der nachlutherischen
drucke kann er sagen, dass er über umfänglicheres material verfügte, als seine Vor-
gänger.
Als abschluss sind die textpi'oben, beginnend mit einei' solchen aus demL^>. jh.
und herabgehend auf die heutige mundart, von wert.
TÜBINGEN. K. BOHNENBERGER.
Zur entstehungsgeschichte des Evangelienbuches von Otfrid I. Von
L. Tescli. Grcifswald, diss. 1890. 60 s.
Der Verfasser sucht die entstehungszeit der einzelnen kapitel des Otfridischen
Werkes zu bestimmen. Als kriterien für frühe abfassung gelten ihm (s. 57) : häufiges
auftreten des part. praes. mit sin, häufige nachstelluug des attributiven adjcctivs,
alliteration , widerholtes fehlen der Senkungen (leider ist die crörterung dieser beiden
metrischen fragen nicht mit abgedruckt!), Vermeidung fremder eigennamen, benutzung
der evangelien ohne commcntar, gliederung in strophen von je 4 langzeilcn, abrun-
dung der einzelnen kapitel zu selbständigen liedern ohne anknüpfung an das vorher-
gehende und an das folgende. Dem resultate (s. 42 fgg.), dass aus dem ersten buche
namentlicli die kapitel 4. ö". ü. 7. 9. 10. 11*. 12 -f 13. 17*. 23*. 25* zu den
ältesten bostandteilon des evangelienbuches gehören, kann man zustimmen; die aus-
scheidungen späterer zusätze, welche Tcsch aus den nüt * bezeichneten unter diesen
kapiteln versucht, beruhen aber doch auf subjectiver Vermutung, deren Wahrschein-
lichkeit von der stärke der bcwciskraft abhängt, die man den von Tesch in jedem
KKUMAXN. fnKK TKsCJl . i:NTSTK!irN(iSil l-XIl. \<V> KVANIi. Ill rilK> VOX MTl'RHi. 121
falle vorgebrachten ,i;ründoii /AigestcJion wird, rhcv die i^licilcruiii;' in ali^cluiitti' von
je 4 laugverscn z. 1). urteilt Tcscli zwar unisiclitigor und l)csonuonor. als Olsen in
seinem aufsatze Z. d. f. a. 31 . l'OS fi;. ; aber er geht doch vielleicht zu weit, wenn er
anninit, ein an den nieisti'n stelh'ii vierzeiligc abrundung zeigendes kajütel müsse
eine sdlciic an allen stt-llcn ursprünglitdi gehallt haben. Kr vermutet aus diesem
gründe z. b. hinter den verscn 1,-1,9.10 ausl'all (idtsr s|);itere absichtliehe auslassung
zweier alten vers«; (für I, 4, (i.'>. (34 und GO. 70 si'heint er keine Störungen d(>s vi(U'zei-
ligen al)schlusses anzuerkennen), und hält anderseits aus demselben gründe !,:"), 21.122
für später zugesetzt, zu einer zeit, in widedier Otfrid die vierzeilige alirumlung nicht
mehr erstrebt hal)C. Ich habe mir die sache immer so gedacht, dass Otfrid vier-
zeilige (in anderen lallen sechszeilige) gliederung zwar oft erstnjbt und in manchen
kapiteln auch ausuahmides dureligefUhrt hat, dass er sie alier zu keiner zeit für unbe-
dingt oi'ford(n'lich hielt, und dass er also auch 2 in sich abgcschlusscm^ langvorso
zwis(;ben vierzeiligen (oder sechszciligen) gruppen stehen lassen konte, wc!ni ihm
keine passende erweiteruug oder füUung einüel. Ausscrlich bezeichnet ist ja (abgesehen
von den fällen, in denen ein refrain' in gleichen abständen auch dem äuge auffal-
len muste) d'w vier- oder sechszeilige gliederung in keinem falle in den handscliriftcn.
Übrigens hat die frühe abfassung der bisher genanten ka[utel des i'rsten bnches,
mögen sie nun zum teil spätere Überarbeitung erfahren halicn oder nicht, l)ishcr wohl
niemand bezweifelt.
In der annähme siiäterer abfassung für 1, '.i und I, 27 stimme ich Tesch (s. 'u)
liei. Inwieweit er für die einreihuiig der ülnigon teile des evangelienbuehes in die
flrei jterioden der entstehungszeit, die er s. öS f. charakterisiert, bestimte uml wahr-
scheiuliche neue resultate gewonnen hat, ist aus dem bisher veröffentlichten teile der
arbeit noch nicht ersichtlich. Mit anerkennenswerter ofl'enheit gibt er zu, dass aus
der s. 29 fgg. angestelten untersuehimg über „volkstümliches im evangelionbuch" sich
keine residtate nach dieser riehtung gewinnen lassen; liestrebungen dieser art treten
in jüngeren wie in Jüteren bestandteilen gleich stark hervor. Die Verwendung seltener
Worte oder abweichender wortformen (wie z. b. hirinncs nur 11, 0, 57 statt des sonst
stets gebrauchten hirun, zugleich der einzige fall einer form auf -;;/r« ohne adhorta-
tive bedeutuDg; gebrauch des inf. wcsan oder shi; 2. sg. auf -.y oder auf -.s7) hat er
nicht für die zwecke seiner arbeit verwendet. Ich liillige diese enthaltsamkeit ; deim
liei der anzunehmenden formellen Überarbeitung des ganzen Werkes, deren leztes Sta-
dium in den correcturen und Zusätzen der haudschrift V uns noch vor äugen liegt,
dürfte es sehr bedenklich sein, aus derartigen differenzen Schlüsse auf die abfassungs-
zeit der einzelneu teile zu machen. Zu s. 19 liemerke ich, dass der uannj Jesus nie
in fremder form vorkomt, weil //ci7«/<< als entsprechende Übersetzung galt, vgl. 0.1,8,27
nach Mt. 1, 21 und <). 1, 14, 4 nach Luc. 2, 21; auch im Tatian steht an den entspre-
chenden stellen 5,8. 7, 1 (und ebenso 3,4) das deutsche wort, und nur später ist ein-
mal 82, 8 Jliesus in den text gesezt (fehlt bei Sievers im namensverzeichnis). —
Durchaus unbegründet ist die Vermutung (s. 51 note), dass die ka[iitelüberschriften und
marginalien nicht von Otfrid selbst herrühren sollen. Der corrector der haiulsehrift V
hat sie ebenso durchgesehen und stellenweise ergänzt, wie den deutschen text.
Die Widmung an könig Ludwig Ijczieht sich offeidiar auf das ganze volli-ndete werk
Otfriils; gilt dassell)e auch von den beiden Zuschriften an Salomo von Konstanz und
1) Ich wüiilo lionii (Ir. Tesch ilaiikbar yowoscn sohl, wenn er dio lio-rüniluiiv, ^eincr zwoilou thoso
,,Erilmaiiiis ansichten über dio Verwendung dos refrains in OtlVids ovangelienbucli sind nicht cünsei|iient "
mii- freundlichst mitgeteilt hätte.
122 BERGER
an die St. Galler raönche, oder begleiteten diese zunächst niu- einzelne teile des noch
nicht vollendeten Werkes V Die erste meinung wurde von Olsen (Z. f. d. a. 29,343)
ausgesprochen, die zweite vorficht jezt Tesch in der ersten these seiner dissertation.
Mir ist bei der Zuschrift an Salomo die zweite, bei der an Ilartni. und "Werinbert die
erste annähme Avahrschoinlicher; aber volle Sicherheit darüber wird man kaum ge-
winnen können — es sei denn, dass ein beweisendes äusseres zeuguis aufgefunden
werden solte, wie etwa eine neue Otfridhandschrift, die niu- einen bestirnten teil des
Werkes mit nur einer widmuug enthielte.
Ich komme bei dieser gelegenheit auf eine von mir schon öfters benuzte ana-
logie zurück. Für Klopstocks Messias kenneu wir ja das jähr, in welchem jeder
gesang zuerst erschien'; wir wissen ausserdem durch äussere Zeugnisse, dass die rei-
henfolge der abfassuug nicht immer mit der der Veröffentlichung übereinstimt, dass
z. b. lange stücke aus dem 1773 zuerst gedruckten XVIII. und XIX. gesauge
schon zwischen 1748 — 1752 abgefast sind (vgl. R. Hamel, Klopstockstudien 3, 56 und
desselben commentar in der ausgäbe DNL. 46). Würde wol jemand ohne die äus-
seren Zeugnisse diese stücke (für die zum teil auch mehrfache Überarbeitung bezeugt
ist) aus inneren gründen mit Sicherheit als ältere bestandteilo erkant haben? Schwer-
lich! Und deshalb wird man sich auch hüten müssen, den resultaten, welche herr
Tesch aus seinen beobachtungen mit anerkennenswertem fleisse und Scharfsinn gewon-
nen hat, mehr als einen gewissen grad von Wahrscheinlichkeit zuzuerkennen.
KIEL. 0. ERDMANN.
Zur Waffen- und schiffskunde des deutschen mittelalters bis um das
jähr 1200. Eine kulturgeschichtliche Untersuchung auf grund der ältesten deut-
schen volkstümlichen und geistlichen dichtungen. Von Heinrich Schröder. Kiel,
Lipsius & Tischer. 1890. 46 s. 1,50 m.
Der Verfasser der vorliegenden schrift, einer Kieler dissertation, hat sich ohne
zweifei eine dankbare aufgäbe gestelt. „Eine kulturgeschichtliche Untersuchung" nent
er sie gewiss nicht mit unrecht; man muss dabei nur im äuge behalten, dass die
realienkunde , um die es sich hier handelt, zwar ein unentbehrlicher teil der kultur-
geschichte ist, sich aber keineswegs mit ihr deckt, wie es nach einem leider noch
nicht ausgestorbenen lässigen sprachgebrauche den anschein hat. Der realienkunde
des deutschen mittelalters ist bisher weit mehr der eifer von archäologen, kunsthisto-
rikern, kriegsschriftsteUern, geistlichen und mancherlei dilettanten, als von eigent-
lichen pliilologen zu gute gekommen; die schriftliche Überlieferung ist dabei über ge-
bühr vernachlässigt und weder stofflich erschöpft, noch überhaupt streng methodisch
verwertet worden. Die schwierige aufgäbe, mit einer volständigcn beherschung des
erhaltenen anschauungsmaterials die alseitige durchforschung der mittelalterlichen Ur-
kunden, geschichts Schreiber und prediger zu verbinden, beides gegen einander zu
halten, zu vergleichen und daraus die geschichtlichen Wandlungen zu entwickeln, ist
nach wie vor ungelöst.
Für die waffenkunde hat bekautlich San Marte einen derartigen versuch ge-
macht: er hat die schriftlichen berichte fleissig excerpiert und auf gräberfundo und
abbildungen vielfach rücksicht genommen; nur leider völlig kritiklos, so dass sein
buch nicht mehr geworden ist, als ein übersichtlicher katalog, in dem es eine ent-
wicklung überhaupt nicht gibt, aber belegstellen etwa aus dem Beowulf oder Euod-
lieb mit solchen aus dem Wigalois oder Lohengrin friedliche nachbarschaft halten.
i'liEK .^rilRÜDEi;. ZUK WAFFEN- UNU SCilirFMCUMlE 123
In einem begrenzten Zeiträume, von ]]')() — 1;50(\ übcriialun das verdienstliclie, aber
sehr überschäzte werk v(in Alwin Sdiultz diesell)i' leistuni;-: eine reichiialtige mato-
rialsamlung, sehr ileissig, aber sehr iiusserlich angeordnet, ohne wirklieh liistorische
gesichtspuukto. Die frage, wie, woher und seit wann die hijfisclie liildung almählioh
vordrang, wie sie sidi naeh und narli niii der i'irdii.>iniisch('n auseinandersezti.', wie-
viel sie von dieser autnahin. umbildete, verdrängte, bekämpitc! usw.. wiitl in diesi;ni
werke gar ni(>.ht aufgewurtcn ; niclit nur l)erichto, welehe etwa hundert jahi'i' ausoin-
anderliegen, aueh Iranzösisehe luid deutsehe quellen werden zi('ndieh sorglos kom))i-
niert, und vielfaeh werden ganz vcu'einzelte belege dun-li ein voreiliges „gewiihnlieh",
,,geru'' oder dgl. fälsehlieh veralgcmeiniM't.
Schröder geht von der riehtigen l'orderung aus, dass „die versehiedenlieiti'n
naeh ort und zeit'' sorgfältiger beaehtet werden müssen. Nach dem titel seiner sehi'ift
hat er sich das Jahr 1200 als grenze gcsezt und fügt hinzu: „eine kulturgeschichtliche
Untersuchung auf gi'und der ältesten deutschen volkstümlichen und geistliehen dich-
tungen". Leider führt dieser titel irre, denn auf s. 5 erfährt man, dass noch eine
besehräukuug nach rückwärts hinzutritt: es handelt sich keineswegs um die „ältesten
deutschen volkstümlichen und geistlichen dichtungen'- — also nicht etwa um die
reiche ausbeute aus Ilildebrandslied, lleliand, Otfrid, Waltharius usw. — , sondern
lediglich um „die zeit von ca. 1100 (Exodus) bis ca. 1217 (Kudrun)'', uml aus dieser
zeit nur um „deukmäler, die noch keinen französischen einiluss zeigen". Das hätte
schon im titel angedeutet werden sollen.
Schröders arbeit fusst auf neun gedichten: Rother, Morolf, Brendel, Nibelimgen,
Kudrun, Anuolied, Kaiserchrouik , Exodus, jüngere Judith. Warum die gedichte von
Oswald und herzog Ernst nicht bcnuzt sind, hätte wenigstens gesagt werden müssen.
„Das Rolaudslied und das Alexanderlied musten, weil auf französischer quelle be-
ruhend, ausgeschlossen werden." Daraus ergibt sich die wunderliche tatsache, dass
nach annähme des Verfassers die begriffe „auf französischer quelle beruhend" und
„französischen einiluss zeigend'* dasselbe besagen; denn die genanten neun gedichte
haben keine französischen (|uelleu, folglich • — so scheint er zu schliessen — zeigen
sie auch keinen französischen einiluss. Glaubt denn aber der Verfasser wirklich, dass
es nur einen „einiluss" von buch zu buch, dass es nicht andere und viel wichtigere
wege der culturübertragung gibt? weiss er nicht, dass der französische eiutluss in der
geschichte uusrer bildung schon mit dem 11. Jahrhundert ganz deutlich wird und eine
erschciuung wie der „Kuodlicb" ohne die Voraussetzung einer aus Frankreich immer
entschiedener herüberwirkendeu ritterlichen cultur nicht zu verstehen ist? Und wenn
Schröder nur den wortsidiatz seiner neun gedichte ansah, so sprachen doch schon aus-
drücke wie hi'iitff, hantasch, pan\icr, ijnhUut, l-Drertiurf usw. unzweideutig genug
für „franzi isischen einiluss " !
Mag man übrigens dem Verfasser immerhin, ganz abgesehen von seiner Ijcgi'ün-
dung, eine solche einschränkung seines themas zugeben, so hätte er sich doch jedes-
falls nicht begnügen sollen, das rohmaterial einfach vorzulegen, damit sich jeder, so
gut es geht, selbst damit abfinde: er hätte es vielmehr für seine pflicht halten müssen,
dem leser auch den Standpunkt zu bezeichnen, von welchem er das material zu be-
urteilen habe. Er hätte liei jedem caiiitel über alter, gestalt. vi/rwendung, liozeich-
nung, bearbeitung usw. der einzelnen waffeu einige kui'zeu historischen andeutuugen
geben müssen und dann erst die frage aufwerfen sollen: wie stellen sich diese neun
gedichte dazu? wieweit stimmen ihre angaben zu den verhiütnissen der voraufliegen-
den zeit"? wo weichen sie von diesen al)V und wie sind diese abweichuniren zu er-
124 BERG ER
klären V Mit hilfe der bekanten werke von Liudeuschmitt, Max Jahns, v.Peucker,
Demmin usw. wäi'e das auch für einen aufiinger nicht zu schwer gewesen. Aber
freilich scheinen alle diese vorarbeiten dem Verfasser nicht bekant geworden zu sein:
nach s. 6 sind jene neun gedichte, die genanten werke von Alwin Schultz und
San Marte, Pfeiffer's abhandlung über das ross im altdeutschen und zwei arbeiten
von Jänicke sein ganzes rüstzeug. AVenigsteus noch das in seiner art ausgezeichnete
werk von G.Köhler „Die entwicklung des kriegswesens und der kriegführung in der
ritterzeit" hätte er einsehen müssen. Er hätte beispielsweise daraus lernen können,
dass die halsberge ursprünglich nichts war als ein halsband (monilia), eine Verbesse-
rung der römischen rüstung. welche zwischen heim und panzer den hals noch unbe-
schirmt Hess; dass die halsberge spätestens seit 813 hinten am heim befestigt, später
von einer unter dem heim befindlichen kapuze getragen wurde und über die brünne
hinübergriff, von der sie bis etwa 1150 als besonderes waffenstück völlig getrent war.
Als dann im 12. Jahrhundert halsberge und brünne, beide aus kettengeflecht hergestelt,
fest mit einander verbunden wurden, gieng der ausdruck li aisberge auf die ganze
rüstung über; wo sich dann halsborgc und brünne aufs neue trenten, ergab sich die
sonderbare begriffsverschiebung , dass man die brünne vorzugsweise als halsberge
bezeichnete. Hätte der Verfasser seine quellen nicht mit ganz anderen äugen ansehen
müssen, wenn er diese und andere ausführungen gekaut hätte? Die genaue diu'ch-
forschung eines eng abgegrenzten gebietes einer eutwickluugsreihe hat doch nur einen
sinn, wenn man von der ganzen reihe eine anschauung hat; sonst muss man im
einzelnen notwendig irren. "Wer die ergebnisse der Schröderschen Untersuchung an-
sieht, wie sie auf s. 45 zusammengestelt sind, der bemerkt alsbald, dass den Verfasser
genau derselbe Vorwurf triff, wie Alwin Schultz: falsche veralgemeinerung einzelner
Zeugnisse. Wir wissen doch ganz bestimt, dass in der bewaffnung des mittelalters
beständig sich Wandlungen volzogen haben, dass man nicht einmal in einem einzigen
beliebigen Zeitpunkte die rüstungen, etwa wie unsere uniformen, als etwas wesentlich
gleichartiges beurteilen darf. Vielmehr bestand nachweishch neben einander eine aus-
serordentliche mannigfaltigkeit der ausrüstung. Auch auf diesem gebiete hatte die mode
ihre geltung; aber an allen ihren neuerungen konten sich eben die wenigsten betei-
ligen, weil das sehr kostspielig war. Deshalb fristete sich manches alte fort; neues
wurde hier und da aufgenommen; einzelne stücke, erst kleinere, dann grössere, altes
und neues wurde neben einander gebraucht, mit einander vermittelt; jeder suchte
almählich dem andern nachzukommen usw. Daraus ergab sich eine grosse Schwierig-
keit für den Sprachgebrauch, und die vorhandenen technischen bezeichnungon wurden
keineswegs überall in dem gleichen sinne gebraucht.
Was soll man nun unter solchen umständen mit einem ^resultat" wie diesem
machen: y^Aas panzier war, wenigstens in uascrer pcriodo noch, aus ringen gefertigt" V
Diese beliauptung stüzt sich auf eine einzige belegstelle: ein guot panxier, die ringe
wären toix, und cluog Morolf 361. Woher weiss denn aber der Verfasser, was seine
quellen zufällig verschweigen? konten nicht neben den riugpanzieren auch platten-
panzierc bestehen? Wenigstens \\issen wir, dass brusti)latten schon am ende des
12. Jahrhunderts vorkommen (Köhler III, 1, 41). Wenn Schröder ferner erklärt, „das
panzicr wurde auch von ritteru getragen", so wurde ja das von A. Schultz durcli-
aus nicht bestritten, der nur angab „weniger von den rittern als von den leichtbe-
waffneten" (Eöf. leb. IP, 49). Ein drittes „resultat" lautet: y,sehiUve%%el ist nicht
der riemen zum tragen des Schildes, sondern der fass-, griffriemen". Dem sind doch
aus des Verfassers eignem material entgegenzuhalten Nib. 415, wo Brüuhikls schild-
f'BEK Sl'lIRÖllER, '/AM \V.\KKEN- UN'Ii SCHIFFSKUN'DE 125
fessel ein edel borte geuaat wird, dar üf Ulyeu steine yrüene ahani ein (jras] 1959
man n/iios in hi dem vex%el wider xichen dan; 1505, wo Ilageu mit oiiiem schild-
fossel ein schiff aul)iudet. Diese Iczte stelle hat der Verfasser übersehen, wie seine
samluugeu überhaupt nicht volständig sind. An jenen drei stellen — und an zahl-
reichen anderen im sonstigen rahd. — ist ganz zweifellos überall der lange umhänge-
rienien gemeint, an dem der schild um den hals getragen wurde (sonst auch schilt-
riemc genannt), nicht aber der kurze griffriemen, durch den man hand und arm
steckte. Wie komt also Schröder zu seiner zuversichtlichen bohauptung, dass schilt-
re'Kxel den griffriemen bedeute? Lediglich auf eine einzige stelle hin, Nib. 1875, wo
Dankwart sich zum losschlagen bereit macht: den schilt niete er hoher, den rex/xel
nider bax. Hier sei, meint der Verfasser, der griffriemen gemeint, „der sonach be-
weglich sein musste" (s. 18). Ich möchte wol wissen, wie sich der Verfasser das vor-
gestelt hat. Das hochrückeu des Schildes, ein typischer ausdruck für die bereitschaft
zum angriff, geschieht durch emi)orheben des durch die griffiiemen gesteckten armes;
wie soll es also jemand fortig bringen, den schild emporzurücken und zugleich die
griffriemen , durch die das eben ermöglicht wird , herunterzuziehen V und welcher Wider-
sinn, von einem beweglichen griffriemen zu reden — wie hätte man dann über-
haupt den schild fest fassen können? Da bei dem vezzcl an der angeführten stelle
an den schwertfessel wol auch nicht zu denken ist, so bleibt nur eine erklärang übrig,
die schon v.d. Hagen angedeutet hat: der schildrexxel, d.h. der tragriemen, musste
beim hochrücken des Schildes notwendig am halse schlottern; um das zu vermeiden
und ihn wider straff zu machen , knüpfte man das eine seiner enden am oberen schild-
rande ab und befestigte es an einem weiter unten, am seitenrande, angebrachten ringe
oder haken. Ich weiss augenblicklich nicht, ob für eine solche auffassung noch andere
belege vorhanden sind; füi' unsern fall scheint sie mir die einzig mögliche. Es ist
übrigens nicht unwahrscheinlich, dass irgend einmal dem sehiltrieme ^ dem tragriemen,
der schildvexxel als das armgestelle oder der riemen zum fassen des Schildes gegen-
über gestanden hat; nur hielt sich der Sprachgebrauch an diese norm durchaus nicht.
Ganz ähnlich steht es mit der kovertiure. Der Verfasser erklärt: „Die kovertiure
konte sowol von eisen als von zeug sein; sie unterscheidet sich nur durch ihren grös-
seren umfang von den älteren pferdedeckeu." Damit glaubt er die sache entschieden
zu haben, denn bisher waren „über die bedeutung des wertes kovertiure sich die ge-
lehrten nicht einig" (s. 37) — weil eben der Sprachgebrauch kein einheitlicher war!
Aus Köhlers buche hätte Schröder entnehmen können, dass die panzerdecke (etwa
seit der mitte des 12. jahrhundeiis) das frühere war, zu dem die zierdecke erst später
hinzutrat, wodurch das wori korert iure eine doppelte bedeutung gewann. Zu der an-
nähme, dass unter kovertiure „die grosse bis zu den füssen herabhängende decke" zu
verstehen sei, hat den Verfasser widerum eine einzelne stelle geführt: tvax man guoter
decke und kovertiure vant Kudr. 1148, 2; da der hier bezeugte unterschied nicht im
material liegen könne, so müsse er in der form liegen (s. 37 f.). Aber es handelt sich
hier um gar keinen unterschied, vielmehr sind solche doppelungen von synonymen
im Mhd. gar nichts seltenes; auch Martin fasst die beiden ausdrücke an dieser stelle
als gleichbedeutend auf. Noch einmal begegnet es dann dem Verfasser, dass er aus
seinem beschränkten material einen zu vorschnellen schluss zieht: ^ruoder wii'd mhd.
noch nicht in der bedeutung , Steuer' gebraucht", und nach s. 43 zwingen auch die
von Lexer gegebenen belege zur annähme dieser bedeutung nicht. Von der Verbindung
dax rnoder nach dem nnnde wenden (Koloczaer codex 182, 938) möchte ich das aber
126 BERG ER
doch bestirnt beliaiipteu ; uud eutscbtudend ist, dass (jubeniaciiluiii mit ruoder glos-
siert wird (Diefenbacb gloss. 270*^).
In drei punkten wendet sich Schröder gegen frühere ausführungen von mir.
"Wenn er den von mir gelegentlich erwähnten bedeutungswandel von rant (ursprüngl.
= Schildbuckel, media pars clij)ei; dann = margo) auf s. 16 einfach für „gegen-
standslos" erkläi't, so weiss er eben nicht, hätte sich aber zuvor darüber belehren
müssen, dass rant zunächst, genau dem lateinischen timbo (vgl. griech. (ijußbjv, o/tKiukog)
entsprechend, die erhöh ung auf der mitte des Schildes, welche auch zum stossen
benuzt wurde, bezeichnete, dann erst den schild überhaupt, schliesslich nur die ein-
fassung des Schildes, woraus sich die endgiltige bedeutung entwickelte; den anlass
der bedeutungsverschiebung dürfte das eintreten des auf lat. bucciila, afrz. boele zu-
rückgehenden buclcel in die iirsprüngliche function jenes wertes gegeben haben. Ein
rest der alten bedeutung ist vielleicht noch heute vorhanden, ich meine das zuge-
hörige ramft oder (jüngere) ranft^ welches noch gegenwärtig im obersächsischen und
vielleicht auch anderwärts nicht etwa die rinde am brote bedeutet, sondern vielmehr
das scharf gebackene ende oder gewissermassen den buckel vom brot, welchen man
sonst auch knust oder knollen usw. nennt. Beachtenswert ist übrigens in diesem
zusammenhange, dass diesem ranft am brote im niederdeutschen der kanten ent-
spricht; es ist nämlich sehr wahrscheinlich, dass bei dem woiie kante eine ganz ähn-
liche bedeutungsent Wicklung wie bei rand vorliegt. Mhd. ist es bekantlich noch iu
dem sinne von „schildrand" bezeugt, als eigentliche bedeutung komt ihm aber offen-
bar zu: „spitze, ecke oder buckel" (vgl. afrz. cant = ecke, dann winkel, dazu die
Weiterbildung canton, cantone = eine ecke landes, kantig = mit scharfen ecken
versehen, Brüsseler kanten = spitzen, von der zackigen form, besonders aber das
erwähnte nd. kanten = buckel am brot; auch die seekante meint zunächst nicht
den Strand überhaupt, sondern die felsig vorspringende küste). Auch hier also ein
ganz entsprechender bedeutungswandel von dem begriff „ecke, vorspringende spitze,
buckel" bis zum „säum" (vgl. nhd. kante als säum am tuch oder linnen, an der ta-
pete als einfassung, ebenso an blumenbeeten; in Berlin hört man kante für den ge-
brochenen rand am papier, welcher beim schreiben frei bleibt). Ursprungsverwant ist
gewiss kante (neben kanne) als ursprüngl. „ausgeschweiftes gefäss" ; beide worte füli-
ren auf eine Wurzelsilbe kan-^ die etwas eckig hervorspringendes bezeichnen muste.
Dies um- beiläufig!
Der Verfasser sucht weiterhin meine datierung des Orendel durch zwei beden-
ken anzufechten. Ich möchte keineswegs alles, was ich in jenen vor vier jähren ab-
geschlossenen untersuch imgeu mit der Zuversicht des anfängers hingestelt habe, noch
heute verteidigen, wenn ich mich auch nach wie vor zu dem grundsatze bekenne,
dass unter so verwickelten Verhältnissen die entschlossene durchführung einer klarge-
fassten ansieht lehrreicher ist, als die gewissenhafteste registrierung aller im wege
stehenden Schwierigkeiten. Vogt hat in dieser Zeitschrift (XXII, 484 f.) u. a. mit
recht gerügt, dass ich gewissen kulturgeschichtlichen kriterien zu wenig achtung ge-
schenkt hatte. Auf seine anregung gehen wol auch Schröders einwände zurück, dass
die ausführliche scliilderung der hehnzimiere (v. 1222 — 1260) und die erwähnung der
bis auf den boden reichenden zierdeckc des elephanten (v. 1202) auf eine spätere ent-
stehungszeit des gedichtes als 1160 deuten. Ich will diese beiden bedenken natürlich
nicht geradezu von der band weisen, möchte aber doch darauf aufmerksam machen,
dass die betreffende Schilderung gar nicht zwingt, eine reiche ciitwickluug des helm-
zimier für jene zeit vorauszusetzen: kunstwerke mit musicierenden vögeln waren ja
ÜnET? SfllKÖDER, 'AVU WMTFA"- INIi SCUirKSKTNIiK 127
seit dem lü. jalirliuiukTt aus l^yzan/., aucli vnii den Ai-alicin Iht Itükant uiul wiirdcu
min von den wuiidorsüchtigen spielUnitvn (nnihfli auf die vcrscliirdcnstcn dini^e über-
tragen, nicht nur auf den lielin, sondern doeh aucli auf den sjieer, wie in Virgiual
oder ■/.. li. im < ircndel auch, auf i'ingv, auf den scliihJ. Solche hlicrtragungen kouteii
sich ganz von selbst volziehen, ohne dass dem in der wirklieidioit etwas zu entspre-
clieu brauchte. Elieuso steht es mit dem zweiten einwände des Verfassers. Die pan-
zerung der [ifei'de ist walirscheinliidi clienso aus (h'Ui Orient, von Persm'n und Araliern
übernommen, wie die sitte, sie mit l'arliigeii decken auszusiatten (Weiss, Kostüm-
kunde, mittelalter lOf). '2öC)\ Prutz, Kulturgeschichte di'r kn'uzziige 1S4). Ol) diese
herabhängenden decken also in Deutschland um IIGO üblich waren od(n- nicht, ist
eine ziemlieh belanglo.se frage. Im Orient waren sie jedesfalls vorhanden und man
hatte sie dort gesehen; das war für einen siiielmanu ausreichend, um davon zu reden.
Mit d(>n übrigen ivsultaten seiner abhandluiig wird der Verfasser recht haben.
„Die stange der i'ieseu dachte man sich nicht aus massivem stahl oder eisen, sondern
nur mit einem stahlbeschlage'^ (s. 45). Dass sie sich z. b. auch Wolfram von holz
mit metallbesehlag dachte, lehrt Willeli. 19.j, 30f. 318, 27 ff. 41G, 28. 429, 22. Auch
der unterschied zwischen boi/e und an//f/ritst ist auf s. 28 f. gmviss richtig angegeben,
gegen San-Marte und Schultz; zu s. 29 ist zu Itemerkeu, dass es nach Köhler (III,
l, 1J3) stahlbogen erst seit dem 1."). jalirJmndert gegeben hat. Die hemerkung über
die anker s. 43 giebt eine zutreffende bericlitigung einer der vielen flüchtigen behaup-
tungeu von Alwin Schultz. Ganz ohne ertrag ist demnach die Untersuchung nicht
geblieben.
Der Verfasser hätte sicli mehr dank verdienen können, wenn er sein material
unter einen liistorischen gesichtsiiunkt gestellt und si(di nicht liegnügt liätte, aufzu-
zählen, wo und wie die einzelnen ausrüstuugsgegeustände in seinen quollen erwähnt
werden, sondern den versuch gemacht hätte, von der beziehung der einzelnen teile zu
einander, ihrem gebrauch und ihrer beschaffenheit überall ein in sich zusammenhän-
gendes, anschauliches hild zu gehen. Eine nachlese der üliorgangenen belege will ich
an dieser stelle nicht geben. Unter den nichtritterlichen waffen vernüsse ich ein
capitel über die slüigc (z. b. Kehr. 196, 9) und die gc/'sel (z. b. Nib. 4ü3, 3; Grendel
2480). Zu Seite 12 verweis? ich die hornrüstuugen betreffend auf Raumer, Geschichte
der Hohenstaufen V, 500. Noch eins aber hätte der Verfasser durchführen sollen,
wozu er ein paar mal einen ansatz macht: ich meine die, soweit seine quellen das
zuliessen, erschopfemle feststellung des spracligebrauchs füi- jeden einzelnen begriff.
Auf s. 40 hat er für die ausdrücke sc//?'f und kiel die vorkommenden beiwörter auf-
geführt und eljenso s. 10 die adjectiva, welche die scharfe, härte, stärke, breite und
den glänz der Schwerter bezeichnen. Er hätte das auch für hcliu , brünnc usw. durch-
führen und nicht nui- die beiwörter, sondern alle Wendungen, in denen diese begriffe
gebraucht werden, sammeln, klassifizieren und erklären können: das wäre auf diesem
bescliräukteu gebiete nicht alzu mühsam , aber sehr dankenswert gewesen. Mindestens
Verbindungen, die einen ganz feststehenden sinn haben, wie „den sohild an den hals
hängen, über den rücken werfen, sich auf den schild lehnen, den schild vor die füsse
stellen" usw. hätten auf s. 19 nicht fehlen dürfen.
So lässt die Untersuchung Schröders mancherlei zu wünschen; dass sie in ihrer
weise fleissig, sauber und gewissenhaft gearbeitet ist, wird man ihm mit den oben ge-
machten einschränkungeu gern zugestehen. Vielleicht entschliesst er sich, da er die
lohnende aufgäbe einmal in angriff genommen, in einer späteren Untersuchung manches
in der oben augedeuteten riclitung nachzuholen.
BOXN, 28. OKTOBER lÖHÜ. ARNOLD E. BERGER.
128 KOCHENIJÖRFFER
Eugolhard. Eine erziihluug vou Kourad von Würzburg mit aumerkungen
von Moriz Haupt. 2. aufläge besorgt von Eugen Joseph. Leipzig, S. Hirzel,
1890. 8°. XVI u. 320 s. 5 m.
Mit Lachmanns und Beneckes Iwein - und Haupts Eroc - ausgäbe ist der Engel-
hard trotz allem, was seit ilrrem erscheinen die forsch ung neues zu tage gefördert hat,
die noch unersezte gruudlage für die erkentniss der mhd. dichtersprache geblieben.
Wer sich mit den dichtungen der mhd. zeit wissenschaftlich zu beschäftigen im sinne
hat, kann sich auch heute nicht von dem genauesten studium dieser drei bücher ent-
binden. Durch ihre eigenart sind sie vor dem veralten gesichert. Ja neben Haupts
Engelhard lässt sich überhaupt keine andere kritische ausgäbe dieses gedichtes denken.
Deshalb war eine neue aufläge des 1844 erschieneneu und schon lange vergriffenen
buches wünsch und pflicht der deutschen philologie. Die art der ausführung war ge-
geben; diese selbst konte, je nachdem der herausgeber zu der arbeit gerüstet war,
verschieden ausfallen. Wii' dürfen uns und dem Verleger, dessen verlagswerke als
muster guter ausstattung bekant sind, glück wünschen, dass er in Eugen Joseph einen
gelehrten gefmiden hat, der mit völliger beherschung des Konradschen sprach- und
versgebrauchs, wovon er in der Klage der kunst den beweis geliefert, besonnenen takt,
und mit der schuldigen pietät gegen seinen grossen Vorarbeiter Unbefangenheit des
Urteils in hohem masse vereinigt. Das register der textänderungen weist die statliche
zahl von 426 nach. Zu ihnen haben in erster linie beigetragen die von Haupt selbst
mitgeteilten emendationen von ihm. Lachmann und Wackernagel; ferner die Verbesse-
rungsvorschläge, welche Bartsch in seinen beitragen zur (Quellenkunde gemacht hat.
Auch einzelnes von andern forschern gelegentlich beigebrachte ist berücksichtigt, und
eine anzahl guter konjekturen sind Edward Schröder zu verdanken, der den heraus-
geber bei der correktur beraten hat. Den löwenanteil der besserungen hat Joseph
selbst mit genau zwei fünftein beigesteuert. Was ihnen das gepräge der grösten
Wahrscheinlichkeit verleiht, sind die zahlreichen belege aus Konrads werken. In den
anmerkungon, die von 70 auf 100 seifen angewachsen sind, werden Haupts ausfüh-
rungen teils ergänzt, teils mit hülfe neuen materials berichtigt. Von bedeutung war
dabei die neuvergleichung des alten druckes, durch die nicht nur einige versehen
Haupts sich rektifizieren Hessen, sondern für die bessernde band eine reihe bisher
imberücksichtigt gebliebener kriterien sich bot. So halte ich die neue ausgäbe, die —
glaub' ich — auch Haupt freude gemacht haben würde, in der tat für eine verbes-
serte, und die wenigen bemerkungen, welche ich schUesslich noch zu machen habe,
dienen dazu mein urteil zu bestätigen.
Nur in einem punkte habe ich gegen die grundsätze, welche den herausgeber
leiteten, eine einwendung. „Der alte text Haupts", heisst es im vorwort, „ist in den
amnerkuugeu stets angeführt, im falle der neue nicht von ihm selbst herrühi-t oder
gebilligt ist." Diese ausnähme kann ich nicht loben. Denn abgesehen davon, dass
mir jede lesung Haupts des Studiums wert erscheint, da er bei seiner mnigen Ver-
trautheit mit der mhd. litteratur und seinem ausgebüdeten sinne für das typische und
individuelle nichts aufgenommen oder geändert hat, was er nicht an den kriterien
des Stiles und verses seines autors geprüft hätte, meine ich auch, es müsse in jedem
falle sogleich festzustellen sein, was in der ersten ausgäbe gestanden und warum
davon abgegangen ist, ohne dass mau diese selbst nachzuschlagen nötig hätte. Das
ist aber jezt oft unmöglich. Wenn die zeile 1447 lautet dax in triuwen ie geschiht,
der alte druck liic hat und in der aum. steht: ie Wackernagel, so ist freilich der
schluss leicht, dass Haupt dem drucke gefolgt war. Aber ratlos steht man vor solchen
ÜBER KOXnAI) V. WÜRZBURG ENGELHARD'-' ED. JOSEPU 129
stelleu , wo er geändert hatte imd in der neuen ausgäbe die lesart des druckes vvider-
hergestelt ist. So heisst es 1347 bei Joseph mit ein üf iuch gcvalkn; der druck
hat dasselbe. In der anm. steht: mit ein "Wackernagel, ohne dass man einen grund
dafür einsieht. Erst die vergleichung der alten ausgäbe lehrt, dass Haupt ein in im
geändert hatte. Oder 351 liest man alle stne gesellesehaft , in der anni. s1uc TTaupt.
Da keine abweichung des druckes angegeben ist, so erfälirt man erst durch die erste
ausgäbe, dass Haupt ursprünglich sin geschrieben hatte. Bei andern gelegenheiten
fallen Haupts konjekturon ganz unter den tisch, ohne dass man auf sie aufmerksam
gemacht würde. 1990 hat der druck ivan si gehet, jm käme hifs; Josepli nach
Wackernagel lean si g'ahte, im kmme bax., Haupt las wem si gegen im küme
sax, wovon aber der leser der 2. aufläge nichts erfährt.
153 hat Haupt gegen den druck, der hoher schreibt, hohen in den text gesezt
(mit herxen und mit munde wil ieh von hohen trimren sin wdreK mcere erniuwen).
Joseph belässt es bei dieser änderung. Haupt muss wol — ich kann wenigstens keinen
andern grund finden — die schwache form von triuu-e als dem dichter ungemäss be-
trachtet haben; er hat deshalb auch 105, 169, 181 das überlieferte treu7ven in triuwe
geändert. Aber zunächst ist klärlich hier der singiilar von hoher trimven besser als der
plural und entspricht dem Singular 181 dax ich von hoher triuwe sc(ge, wo Haupt dies-
mal nicht das adjectiv, sondern das Substantiv dem druck ziuvider geändert hat. Sodann
aber gehört triuwe — wie minne, erde u.a. — sicherlich zu den Wörtern, die Haupt
zu Engelh. 366 im sinn hat {„gold. schmiede 433 schreibe ich noch jezt kerne, da K.
von mehreren Wörtern starke und schwache form nebeneinander braucht"). Haupt
selbst hat auch sonst im Engelhard an der schwachen form keinen anstoss genommen.
FreiUch kann luau für gewöhnlich der form nicht ansehen, ob sie Singular oder plural
ist. AVo aber die majuskel die Personifikation erkennen liisst, wie 63 der Triuwen
zange, 6295 der Triuwen klüse, 6332 der Triuwen böte, da ist der plural ausge-
schlossen. Ich möchte also das überlieferte hoher für unbedenklich halten. — In der
anraerkung zu 191 stelt Haupt verschiedene verse zusammen, in welchen die form
dis für disiu erscheint, z. b. dis arxenie, und bemerkt, dass dazu auch Silv. 1857
er leite h1 der selben rrist blank und wtxiu kleider an gehöre. Ich glaube, der fall
ist anders aufzufassen. Die beiden durch und verbundenen adjektive sind dem sinne
nach eine komposition, in welcher das beiden gemeinsame, hier die endung, nur ein-
mal ausgedrückt wird. Substantivische kompositionsformen dieser art haben wir heut-
zutage zahlreich (zeit- und Streitfragen), aber auch die adjektivischen fehlen uns nicht.
In der poesie sind sie natürlich seltener als in der Umgangssprache. In dem gedichte
„An Rosetten" sagt Christian Günther: „ich untersteh mich dir, galant und treues
kind, ein schlecht geseztes lied verwegen darzubieten; s. Erdmann, Orundz. d. d. Syn-
tax §57. Pniower vergleicht Anz. 13, 2 mit recht das Goethesche froh- und trüber
xeit (dem sich klein- und grossen weit, alt- 2ind neuen %eit aus den Antworten bei
einem geselschaftlichen fragespiel zur seite stellen) und führt aus der Exodus ver-
schiedene beispiele an: 2760 iunch unde altiu, 1370 breit unde lengiu, 2093 alt unde
iungiu. Aus Schachinger, Die kongruenz im mhd. s. 114 setze ich hierher: Walther
15, 32 est al eiti, sieht und ebener danne ein zein; Parz. 57, 18 u-iz imd swarxer
rarwe er schein; Trist. 14, 32 arme und rtehe hceten in lieb und werden. Derlei
bildungen darf man in der altern spräche bei glättung der verse gewiss öfters zu hülfe
nehmen, wie mir z. b. die von Pniower a. a. o. mitgeteilte einschiebung von grox. in
der Exodus 2431 f. nü muox er gesehen xeiehen grox unde inäriii, die Diemer vor-
geschlagen hat, höchst einleuchtend erscheint. — 453 halte ich Josephs ergänzung
ZEITSCHRIFT F. DEUTSCHE PHILOLOGIE. BD. XXIV. 9
130 KOGHENDÖRFFER
disen für in, wie Haupt ergänzte (wan eine forme rander an in beiden, sirer si
sack), für falsch. Der hiiiweis auf 487, wo dise beide steht, kann nur lehren, dass
es 453 in heissen muss. Denn während 487, nachdem Dieterich und Engelliard bo-
schrieben sind, das demonstrativuin am platze ist, eignet sich an unsrer stelle nur
das Personalpronomen. Der dativ in beiden entspricht dem nominativ si beide 450,
dem genitiv ir beider 406. Auch graphisch empfiehlt sich in mehr als disen. —
1128 muss ich Haupts emendation tvan daxsi getvaltie mhi nü beide tverden ?nüexen
gegen die bemerkung Josephs (der daz aber si g. m. schreibt), dass sie ganz unver-
ständlich erscheine, in schütz nehmen. Allerdings ist nicht, wie Joseph wol gemeint
hat, wan da% zusammenzufassen und der damit eingeleitete satz vom vorherigen ab-
hängig zu denken; ■ivan gehört vielmehr zu 11.30 dax, sol den cdelen süexen sm
verxiyen, nämlich dax si beide getvaltie nun werden müe^-.en. Ich möchte zur er-
läuterung Nib. 2310 anführen ich cnkan iu niht bescheiden leax sider da gescJiach:
wan riter trnde vrowen tveinen man da sach. Der lezte satz würde, wenn man das
object durch einen nebcnsatz ausdrücken wolte, unbeschadet des sinnes lauten können
ivan dax riter tmde t^rowen weinten man da sach und damit ein analogon Inlden zu
dein unsrigen. — Bös verderbt ist im alten drucke die bcschreibung von Engelhards
rüstung 2534 ff. Haupts text ist zwar aus dem gröbsten herausgearbeitet, ohne jedooli
völlig zu befriedigen. Wenn ich hier meine lesung mitteile, so muss ich im voraus
bemerken, dass sie keineswegs das ursprüngliche zu treffen prätendiert, sie macht
auch nicht den anspriich besonders hübsch zu sein, sondern versucht nur klarer zu
veranschaulichen, was Konrad nach meiner meinung hat ausdrücken wollen. Ich
denke mir, dass Engelhards rüstung in derselben art gewesen ist wie die des königs
von Tenemark, Turn. 336 ff.: reht als die nushen xiechen rvas ex mit golde wol durch-
nät . ex- was ein rtlich pliät, der xiveier hande vartcc erschein . sich konde an im
wol under ein rot unde grüene mischen, tmd was dar üf enx.ivischen xerncrjet tvol
xatn unde ivilt. Engelliards waffenrock war demnach blau und rot geteilt; auf dem
blauen stück waren vögel, auf dem roten vierfüssige tiere von gold aufgenäht. Ich
lese also:
si waren beide wol xernät
2535 mit maneger hande bilde.
beide %,ani und wilde
stuont dar an ein tcunder
von tiurem golde drunder.
strtfehte wärens etewä:
2540 in einem velde läsürblä,
dax oiich von siden was geweben,
stuonden als si sollen leben
diu vogelUn an maneger stat.
durchliuhtie als ein rosen blat
2545 dax velt in rotem schme bran,
da von golde ivären an
nü diu -wilden tier genät.
Die samluug der reime 2537 f. ist zwar bei Konrad selten , doch nicht ausge-
sclilossen. Vgl. z. b. 2750 von golde eins lewen täpen fuorte ein ritter kiiene in
sinem schilte grüene. — 2560 hat .loscpli di?f selbe decke in den text gesezt nach
einer Vermutung Haupts in den aumerkungen. Aber die Überlieferung des druckes,
ÜBKR KONKAl) V. WÜRZRURG ENGELHARD^ ED. JOSEPH. 131
der Haupt gefolgt war, der selben decke vil (oder wol) geslal/t ivas über stueu schilt
gezogen, d. h. von demselben zeuge war aucli der Überzug des Schildes, ist unan-
stössig und besser als der uominativ. Joseph hätte den verschlag W. Grimms der
stnchcn decke (Athis s. 49 [393] anm.) erwähnen können , worauf Zs. f. d. a. 28, 250
liingewicsen ist. — 25(35 ist Haupts änderung an für umbe niclit gut. niht wan.
einen borten guot fiiorte er umben hehn sm ist beizubehalten, denn der borte ist
um den heim gesclilungen. Vgl. En. 1729 einen huot, ein borte ivas al umbe dran.
Die beschwerung der vorlezten silbe hat nach den auseinaudcrsetzungen s. 229 nichts
störendes. — 2502 f. er luHe dar von lidse gefüeret stner frouwen kus vorstehe ich
nicht. Es hat docli wol nicht, worauf man aus der falschen interpunlvtion der fol-
genden zeile, hinter der ein kolon zu stehen hat, schliessen köute, eine symbolische
beziehuug zwischen dem kuss und der Zweiteilung des Schildes angenommen werden
sollen? Für er ist in zu schreiben. Benival turniert eben auch um fraucnminne. —
2G28 %£m wähle kerte er wider m und tet sich aber under liest Haupt mit dem alten
drucke, tet sich under ist an sich gut und findet sich auch bei Walther 58, 28 dar,
(kleine vogelUn) tet sich under. Aber gerade dieses beispiel lässt mich die anwen-
dung des ausdruckes im Engelhard bezweifeln, da eine gewisse ängstlichkeit, ein
schutzsuchen darin liegt, wovon bei Engelhards absonderung keine rede sein kann.
Ich schlage sunder für under vor, wodurch auch die tautologie in den beiden zeilen
vei-mieden wird, und erinnere an Parz. 700, 26 mit tvenec Unten er simder trat. —
2G87 f. möchte ich unter näherem anschluss an den druck lesen drüf lac ein eover-
tiure, diu bran von golde in fiure. In dieser wendung sind Ursache und Wirkung
vereinigt, die in den in der anmerkung angezogenen beispielen 2 — 4 getrent vorkom-
men. — An der Überlieferung von 2716 f. dirre den und jener discn begundc rennen
ahehant, die Haupt unbeanstandet gelassen, hat Bartsch Beiträge zur r^uellenkunde
161 anstoss genommen mit der frage: „Wie kann davon der acc. abhängig sein?"
Joseph hätte sich nicht von Bartsch verfühi-en lassen sollen. Dass rennen mit acc.
statt mit Präposition verbunden ist, berührt nicht seltsamer als die gleiche konstruk-
tion von sprengen, das in allen bedeutungsübergäugen mit jenem kongruent ist. Die-
selbe konstruktion von sprengen aber begegnet Serv. 1016 daz got wil Verheugen den
hei den, daz si sprengen bediu Hute unde lant. Dass wir in der rektion des verbums,
namentlich in der wechselseitigen Verwendung von transitiven und intransitiven, nicht
mehr die beweglichkeit des mhd. haben, ist bekant. Wir können heutzutage aucli
nicht mehr das verbum /reinen aktiv brauchen, wie es im mhd. so überaus häufig
geschieht und auch Engelh. 5820 vorkomt. — 3089 hat der druck das man das Thuch
nic/it erkos. Haupts konjektur dar obe für das Thuch und Wackernagels besserung
des Hauptschen textes des daches, wofür sich Joseph entschieden hat, waren unnötig,
da des tuoches guten sinn gibt. — Zu 3650 bemerkt Joseph sehr richtig: „Bartsch
geht von einer modernen empfindung aus, wenn er verlogen wegen der widerholung
in vers 3653 durch vermeldet ersetzen will. Die mhd. dichter scheuen durchaus nicht
sachgemässe widerholi;ngen", es entgeht ihm dabei, dass auch Haupt diese empfindung
gehabt liat, wenn er 3766 das verlogen seines textes in vermeldet ändert, „da ver-
logen nach gelogen 3764 ungeschickt ist". Joseph hat auch gewiss nicht dieserhalb
vermeldet aufgenommen, sondern weil es hier in den Zusammenhang besser past. —
Für obene: ze lobene 4697 f. kann noch angezogen werden Parton. 13552 gesteines
genuoc, des mich bevilt, was drflf geströuwet obene ■ ein bilde n-ol xe lobene. Mit
noch näherem ausclilusse an den druck könte man vielleicht 4696 f. lesen der decke
was (/euch qetdn dax rjcinirhtc enobcne, indem man dann irdpenklcit als covertiure
9*
132 SPRENGER, ÜBER HELMBRECHT, ÜBERS. VON FULDA.
auffasst (uud hinter frech komma sezt). Aus Konracl liaLe ich allerdings für diese
bedeutung keinen beleg, aber Ulrich von Lichtenstein 161, 23 schreibt dar lix man
tnir drl decke sncit üf minni ors xe icüppenkleit.
Einige druckfehler mögen hier noch verbessert werden. 181 /. hu/ier. Nach
608 La. ist einzuschieben: 609 reinlich. 2655 1. icas. 4557 La. 1. bot] für gaj)].
5660 1. Übe. Nach 5977 La. ist einzuschieben: 5978 dax fehlt. S. 225 z. 1 v. o. ist
441 zu streichen. (Vielleicht ist 1469 gemeint.) S. 280 z. 6 v. o. 1. kursit, die von
goldc strehctcn — der statt des.
Ich scheide von der neuen aufläge des Engelhard mit dem gefühle, dass die
herausgäbe der kleineren gedichte Konrads, die hoffentlich nicht zu lange auf sich
warten lässt, in die richtige band gegeben ist.
KIEL. KARL KOCHENDÜRFFER.
Meier Ilelm brecht von Wem her dem gärtncr. Eine deutsche novelle aus dem
XIIL Jahrhundert. Übersezt von Liidwig' Fulda. Halle, Otto Hendel. 0,25 m.
Über die berechtigung von Übersetzungen aus dem mittelhochdeutschen ist viel
gestritten worden. Allerdings wäre es wünschenswert, dass die gebildeten unseres
Volkes unsere ältere litteratur in m'sprünglicher gestalt kennen lernten. Leider stehen
wir aber der Verwirklichung dieses Wunsches jezt um so ferner, nachdem der Unter-
richt im mittelhochdeutschen, wenigstens auf den preussischen gymnasien und i'eal-
schuleu, aufgehoben ist; im späteren leben werden die wenigsten zeit und lust haben
poetischen genuss durch Sprachstudien zu erkaufen.
Der Übersetzer, welcher sich über seine fassung der aufgäbe in der vorrede
ausspiicht, hat mit recht den weg freier Übertragung gewählt, indem er auch hi der
erneuerung der alten vierhebigen reimpaare eine Variation angewant hat, durch welche
sie unserem obre weniger einförmig erscheinen. In der einleitimg, welche die frage
über die heimat des gedichtes und die person des dichters behandelt, schliesst sich
der Verfasser den forschungen von Keinz an. Er hat die umgegend des jezt ober-
österreichischen dorfes "Wanghaiisen selbst durchstreift und noch einige notizen gesam-
melt, welche die annähme von Keinz bestätigen. Bekantlich war Pfeiffer der ansieht,
das gedieht sei österreicliisch, hatte also die Ortsangaben der handsclirift a, da das
altbairische Innviertel erst iti unserem Jahrhundert an Österreich übergegangen ist, ver-
worfen. Er hatte diese ansieht besonders auf die verse 445 f. gestüzt, wu der vater
dem söhne die annehmlichkeiten der heimatlichen lebensweise aufzählt:
dat%' Osterrtclie clamirre,
ist ex jener ist ex cHrre.,
der tumbe und der wtse
hänt tx. da für Herren sptse.
Fidda gibt diesen versen zuerst die einzig richtige erklärung, dass der vater
dai-auf hinweise, dass clamirre, das heimatliche bauerngericht, im benachbarten Öster-
reich algemein für ein herrenessen angesehen werde. Nicht besser konte in der tat
der vater die Vorzüge der heimatlichen kost hervorhoben! — Die person des dichters
betreffend tritt F. ebenfalls einer vermutimg von Keinz bei, dass derselbe ein pater
gärtncr des Idosters Ranshofen gewesen sei. Dem hatte bekantlich C. Schröder wider-
sproclien, der in bczug auf die verse 849 f. sagte, dass ein mönch, der bauern in der
kücheugärtiierei untenichtete, wohl nicht über schlechte aufnähme habe klagen dürfen.
Hierzu bemerkt F., dass die verse nur dazu dienen soUcn, um die glänzende aufualime
E. ICETTNKU, IJBEH R.i.DKE, KriSCllE FOKMEL Dl NIBL. 133
Helinlirechth itu vatorbausc recht licrvorzuhcbcn. Ich vergleiche dazu noch die ähn-
liche stelle bei Kourad von Fiissesbrunnen 2232 ff., einem dichter, der jedenfalls nicht
zu den fahrenden geiiört.
Nun noch einige bemerkungen zu einzelnen stellen. V. 1388 hat F. die sichere
konjektur von Jaenicke (banne statt arme) nicht angenommen. Die stelle ist dadurch
unklar geworden und dürfte in einer neuen aufläge zu bessern sein. Falsch erklärt
F. V. 591 in enhalf et nicht sin lere. Pannier übersezte richtig: „Dem Vater half
die Lehre nicht". Das soll doch wol heissen: „Er hatte mit seiner ermahnung keinen
erfolg". Nun bezieht aber F. in auf Helmbrecht, srn auf den vater, was dem mhd.
spraehgcbraiu'h entgegen ist. Gegen den heutigen S[)rachgcbrauch Verstössen die
vcrse 1331 ff. :
Gefüllt hab' ich den einen (Sack)
Mit unverschnittncn Leinen,
Von denen, wer sie auch begehrt,
Die Elle fünfzehn Kreuzer wert.
Das leinen = leinenzeug kann nui' im Singular gebraucht werden. Auch diese
stelle ist leicht zu iüidern. Ein blosser druckfehler ist wol 148 aw seinem (st. an
seinen) leib. Nicht richtig ist es ferner, wenn in der anm. zu 1191 zu dem namen
Miischcn/iclch behauptet wird, niüschen, welches sonst zermahnen bedeute, heisse
hier offenbar' „bei seite bringen''. Es ist vielmelir an das zerdi-ücken, zerschlagen der
(silbernen) kelche zu denken, was geschieht um sie unkentlich zu machen und ein-
zuschmelzen. Die verse 1651 — 1668 hält Fulda mit Pfeiffer für eingeschol)en. Ich
kann dem nicht beipflichten. Denn erstens kann ein reim wie ringest: minnest bei
einem bairischen dichter dieser zeit nicht auffallen. Zweitens wird 1632 gesagt, dass
Gotelind bei einem zäune gefunden wird. Sie ist also wol genötigt die räuber zur
richtstätte zu begleiten, und dem widerspricht es nicht, wenn Helmbrecht an der
wegscheide von ihr abschied nimt. AVas die belastung der diebe mit rindshäuten be-
trifft, so haben wir uns wol diu diuhe, das gestohlene gut darin verj)ackt zu denken.
Ich schliesse mit dem wünsche, dass das bei ausserordentlich geringem preise
schön ausgestattete liändchen dem wimsche des herausgebers gemäss dazu dienen
möge, recht viele „von der ewigen Jugend der dichtung "Wernhers zu überzeugen".^
NOETIIELM. ROBERT SPRENOER.
G. Radke, Die epische formel im Nibelungenliede. Kieler dissertation , zu-
gleich Programm des gymuasiums zu Fraustadt. 1890. 62 s. 4".
Die abhandlung zerfällt in zwei teile : der erste s. 3 — 20 enthält erörtorungen
ülier das vveseu und den zweck der epischen form ein, über die eigentümlichkeiten im
gebrauch der einzelnen gattungen innerhalb des Nibelungenliedes und der ihm näher
stehenden vorangehenden und folgenden epen, sowie über che hierbei hervortretenden
Verschiedenheiten zwischen den einzelnen teilen des Nibelungenliedes; der zweite teil
s. 21 — 62 besteht aus umfangreichen beispielsamlungen, die auch auf andere epen,
besonders auf die Gudnm, die im DHE. enthaltenen und die Spielmannsepen sich
ersti'ecken.
Der Verfasser unterlässt es das wesen der epischen formel genauer zu bestim-
men. Daher komt es, dass er einerseits zufällige oder auch algemein gebräuchliche
1) Über die mittlerweile erschieneue neue übersetzuiiir des Meier Helmbrecht durch G. Bot ticher
berichten wir kurz unter den „neaen erscheinungen " . Red.
134 E. KETTNER, ÜBER RADICE, EPISCHE FORMEL IM N'IBL.
Wortverbindungen und phrasen der gewöhnlichen spräche, auch ausdrücke mit rein
sachlich bedingter gleichartigkeit in seiner samlung anführt, anderseits umfangreichere,
nur den Nibelungen eigentümliche übereinstimmimgen zu den algemein epischen for-
mein rechnet. In ihrem gebrauche sucht er beabsichtigte, berechnete poetische Wir-
kungen, wodm'ch er sich öfter zu ziemlich gegenstandslosen ästhetischen raisonucments
verleiten lässt; vorzugsweise aber erklärt er sie aus der „ehi-fiu'cht vor dem alther-
gebrachten", so dass nach seiner meinuug ihr häufiges vorkommen ein vorzug einer
dichtung wai' und den beifall des pubükums finden muste. Er vergisst hierbei, dass
gerade in den rohesten volksepen die formelhaftigkeit am weitesten geht, und dass
die gestaltung unseres Nibelungenliedes in eine zeit fällt, wo die aufkommende
höfische epik, die nach möglichst individuellem ausdrack strelit, ungeteilten bei-
fall fand. In dem bemühen, unterschiede zwischen den echten und unechten Stro-
phen Lachmanns zu konstruieren, hat er den eigentümlichen inhalt der einzelnen
teile und die ausdehuung der verschiedenen lieder zu wenig berücksichtigt, wodurch
seine Statistik für die kritischen fragen ziemlich wertlos wird. So führt er öfter ohne
weitere bemerkung das XX. lied mit seinen beinah 300 Strophen als durch ein häu-
figeres vorkommen gewisser bildungen ausgezeichnet an , das nm* Schilderungen üusser-
licher Vorgänge enthaltende XII. lied dagegen als eigentümlich wegen des mangels ge-
wisser typen für die einfühnmg der rede. -
Wenn R. auch die stärkeren spraclüichen überemstimmungen , wie sie sich
namentlich in den darstellungen höfischen lebens finden, als algemeine e])ische formein
ansieht (vgl. dagegen in dieser ztschr. bd. XVII s. 410 fg.), so bedenkt or dabei nicht,
dass es völlig gleichgiltig ist, ob sich die parallelen in einzelne gleichartige, auch in
anderen open vorkommende formelu zerlegen lassen, wie 222, 3. 4 und 1590, 3. 4;
dass ferner z. b. für die Verbindung hiehten, | man schuof in guot gemach 127, 3,
knehtc, \ si heteu guot gemach 1600, 3 nichts erklärt ist dui'ch den nachweis von
einem anderweitigen vorkommen der phrasen hete guoten gemach, hicx in schaffen
guot gemach, oder für die merkwürdige ähulichkeit der ganzen Strophen 1600 und
1742 diu'ch die anführung von ein paar Wendungen mit nam er W der hant, und
gienc. Im gegensatz zu dieser seiner anschauung bemerkt er ganz richtig: „ohne
zweifei haben die Schilderungen höfischen lebens im Nibelungenliede etwas eigen-
artiges; sie unterscheiden sich sogar von den ihnen am nächsten kommenden dar-
stellmigen der Kudrun nicht unwesentlich." Diese beobachtung hätte ihn davor be-
wahren sollen, diese so gleichartigen, aber nie völlig gleichen Schilderungen aus einem
überlieferten Schematismus zu erklären. Der wäre dann eben nur den dichtem des
Nib. bekant gewesen, nicht aber denen der anderen volksepen. Es zeigen ja nur die
Schilderungen der Gudrun mit denen des Nib. eine nähere verwantschaft, und gerade
der dichter oder bearbeiter der Gudrun hat ganz besonders für diesen gegenständ das
Nib. als sein muster benuzt (vgl. in dieser ztschr. bd. XXIII s. 145 fg.). Übrigens
wird auch dui-ch dieses abhängigkeitsverhältniss, wozu noch das des Biterolf komt,
der wert der aus diesen epcn herangezogenen parallelen zweifelhaft.
Der erste teil der beispielsamlungen enthält eine Zusammenstellung der
formein nach grammatisch - stilistischen gesichtspunkten (zu § 2 — 8), der zweite teil
nach dem inhalt (zu § 9 — 14). Im ersten teil ist manches unwichtige matorial zusam-
mengetragen, im zweiten hätte durch weglassuug von ganz natürlichen oder zu
schwachen analogien räum gewonnen werden können für wichtigeres, welches über-
gangen ist. Für manche abschnitte, besonders für §§ 13. 14 (kam[)fesschildcruugen
und darstellung höfischen lebens) wäre eine genauere einteilung und übersichtlichere
BOLTK, ÜBER UERLINKR NEUDRUCKE I, 3 135
auoriluuug zu wuubrheij. Immerhin uiitliält die samlmif^ ein reiches niaterial vuu
formelu uud parallelen, so dass dieser hauiitteil der abhandlung, wenn er aueli noch
der Sichtung bedarf, füi' die boiuieilung des epischen stilcs seinen wert hat.
MÜULUAUSEN IN THÜRINGEN. EMIL KETTN'ER.
Nicolaus Fcuckers AVolkliugeudo pauckc (iü50 — 75) uud drei Singspiele Chri-
stian Reuters (1703 und 1710). Herausgegebon vou Georg Eiliiigcr. Berlin,
gebrüder Paetel 1888. XXH^, 71 s. 8°. 3 m. [= Berliner neudruckc, 1. serie,
band 3].
Schnell ist dem bd. 22 s. 381 besprochenen volksliederalmauach Nicolais eine
auswahl von Berliner gelegenheitsgedichten aus der zeit des grossen kurfürsten uud
köuig Friedrich I. von der hand desselben kundigen herausgebers gefolgt. Die beiden
dichter, auf die seine wähl gefallen ist, sind keine Berliner von gehurt, sondern aus
Schlesien und Sachsen zugewandert und schon ihrer lebensstellung nach verschieden:
Peucker ein wohlbestalter stadtrichter, der sein publikum meist in den bürgerlichen
faniilien findet, Reuter ein gewesener studiosus der theologie und rechtsgelehi-samkeit,
der an dem jungen königshofe sein glück zu machen hofft. Peuckers andenken hat
die 1702, 28 jähre nach seinem tode, veranstaltete samluug seiner gelegenheitspoesien
lebendig erhalten; Reuter ist erst neuerdings durch Zarnckcs mühevolle forschuugen
als Verfasser des in Leipzig entstandenen satiiischen romans Schelmufsky uud einiger
ebeufals satirischer lustspiele bekant geworden.
Dies jüngst erwachte litterarhistorische Interesse für den taleutvollen Leipziger
Studenten ist aber auch der einzige grund, durch den man den abdruck seiner drei
für Berliner hoffestlichkeiteu abgefassten Singspiele: 1) Die frolockende Spree, zum
18. Januar 1703, 2) Mars und Irene, zum 12. Juli 1703, 3) Das frolockende Charlot-
teuburg, zum 12. juli 1710, rechtfertigen kann. Denn Reuter hält hier keineswegs,
was seine früheren dichtungen versprachen; seine Singspiele sind ganz flache und farb-
lose gelegenheitsreimereien in leidlich flüssigen versen ohne irgendwie neue gedauken.
Viel anziehender wirken die aus den jähren 1646 — 1673^ stammenden 100 ge-
Icgenheitsgedichte Peuckers, aus denen Elhnger zwölf ausgewählt hat, auf den leser.
Niclit als ob der Zeitgenosse des grossen kurfürsten mehr dichtertalent besessen hätte.
Aber er hat die gahe, einen fliessenden vers zu bauen, und ist um einen treifeudeu
ausdruck selten verlegen; er besizt volkstümlichen humor und verwertet imd vermehrt
die mittel, die eine langgeübte techuik der gelegeuheitsdichtung an die hand gegeben
hatte. In der samlung von 1702 sind die leichencarmina und gebui'tstagsgratulationen
nur diu'ch wenige exemplare vertreten, den hauptinhalt bilden hochzeitsgedichte. Doch
der naheliegenden gefalir der widerholung und einförmigkeit weiss Peucker meist glück-
lich zu entgehen. Meist knüpft er an den namen der braut und des bräutigam zarte
oder derbe Wortspiele an, er verherrlicht ihre heimat, die Jahreszeit, er wirft einen
blick auf den eben beendeten dreissigjährigeu laieg oder das bauernleben, deutet die
blumen des brautkranzes oder den gesang der vögel, gibt den gasten ein rätsei auf
(ein im 17. und 18. Jahrhundert weitverbreiteter brauch), verspottet die modische
Schüferpoesie in einem nd. Hede oder geht auf den an die Andreasnacht geknüpften
Volksglauben ein.
1) Der titel sagt ungenau; 1650 — 1675.
136 BOLTE
Der herausgeber würdigt in seiner vortreflichen einleitung ausfüluiich Peuckers
Stellung in der litteraturgescliichte und sein Verhältnis zu Joli. Frauck, H. Held,
"W. Scherffer und zum Volkslied. Auch ein vergleich mit Greflinger, dessen gelegeu-
heitsgedichte "Walther im Anzeiger f. d. altert. 10, 73 (vgl. 13, 103) eingehend be-
sprochen hat, wäre nutzbringend gewesen; über die gattung der hochzeitsgedichto er-
warten wii' von M. v. Waldberg eine arbeit. Auf die von Peucker verwanten sang-
weisen, die für ihn und die Berliner geselschaft seiner zeit charakteristisch sind, hat
EUinger schon s. XVII hingewiesen; es wird sich jedoch verlohnen, ein volständiges
Verzeichnis davon zu geben.
Die geistlichen melodieen finden wir sämtlich in der 1648 zuerst erschienenen
und seitdem häufig gedruckten Praxis pietatis melica des Berliner Organisten Johannes
Crüger. Ich benutze die 12. ausgäbe, Berlin 1666. -4°.
Ach icie elend ist unser xeit s. 176 und 426 der Originalausgabe (1702).
Text von Joh. Gigas ("Wackernagel 4, nr. 260). — Crüger nr. 577 nach der melodie:
Es ist das heil uns kommen her. — Eine parodie in einem fl. blatte v. j. 1677
(Berlin Ye 1881): Ach wie elend ist unser zeit allhier in diesem dorffe.
Allein gott in der höh sey ehr s. 335.
Text von Nie. Decius. — Crüger nr. 282.
Als Jesus Christus gottes söhn S. 319.
Text von M. "Weiss. — Crüger nr. 274.
Nun last uns Oott dem herren s. 277.
Text von L. Helmbold. — Crüger nr. 486.
Nun lob, mein seel, den herren s. 453.
Text von Joh. Poliander. — Crüger nr. 302.
Schwerer auszumitteln sind die weltlichen weisen, welche Peucker anführt.
Ach, du hertAchen schöne, in wie langer xeit s. 74.
Chyni de begunt to grinen s. 444.
Coridon der ging betrübet s. 428.
Text von Opitz, Deutsche poemata 1625 s. 176 (über die nachahmungen vgl. M. v.
"Waldberg, Die deutsche renaissancelyrik 1888 s. 115 f. 219). — Komponiert von
C. Kittel, Arien und cantaten 1638 nr. 3.
Daphnis ging vor wenig tagen s. 49. 324.
J. Eist, (xalathee 1642 Bl. Bjb mit melodie. Abdruck bei C. F. Becker, Lieder und
weisen vergangener Jahrhunderte 1, 26 (1849). Serapeum 1870, 149 nr. 35. Veuus-
gärtlein 1659 s. 299. Gantz neuer Hans guck in die weit, Nürnberg, Felsecker (um
1690) nr. 4. — Die melodie ward auch für kirchenlicder benutzt: Brandt og Heiweg,
Den danske psalmedigtning 1, 327 nr. 408 (1846). J. Neucrantz, Davids psalterspiel
1650 s. 11.
Der edle schäfer Coridon s. 3.
J. H. Schein, Musica boscareccia 1, 11 (1621). Serapeum 1870, 149 nr. 8.
Doris ging in ihren garten 9. 406.
Venusgärtlein 1659 s. 3. Serapeum 1870, 150 nr. 134.
Du bist meines herxens tconne s. 456.
Es fing ein schäfer an xu Magen s. 136. 346. 528.
H. Albert, Arien 5, 17 (1642). Vgl. G. Neumark, Poetisch musikalisches lustwiiUlclien
(1652) s. 74.
Falscher schäfer, ist das recht s. 42. 70. 238. 341. 362.
flSEi; ÜKKLINKIi NKUIiKrrKK I , :'.. 137
Cr. Voigtläudor, Allfiluind odon und liodor (Ißl'i) iir. (ia. Auch im Berliiior mscr.
germ. quart 720, nr. 38. Soraponm 1870, 152 ur. 10.
Hertxlich thut »lich erfreuen s. 275.
r.olimc. Altdeutsches liedcrbuch (1877) ur. 142.
///;• sehivnrtxeii aufjcii, Ihr s. 122.
Opitz 1G25 s. 200. — Oft nachgealnnt; vgl. .M. v. WaldlM-rg s. 218 ( Fiiick.dthaus,
Sciioch, Schirmer). Sorapeum 1870, 151. Ifaiis gmk in die weit nr. 08. Adam
Krieger, Arien (1657) 5, 3. — Konipuniert von Greg. Iviliel, .\ricn (lOK!) nr. I und
.1. M. K'ubert, Arieu I, 10 (1647).
Lxn'dnr liiil einst die seliaf s. 45.
Vcnusgäi'tli'in 1651) s. 166. Fl. lilatt der Ijerliner hihliothek (Ye 1779). Serapeum
1870, 162 nr. 102. Hans guck in die weit nr. 29.
Litstiy, ich liabe die licönle beko/iniien s. 400.
Reraiieum 1^70, 162 nr. 43. Hans guck in dir weit nr. 25.
X/oi schleif, niei)i liebes kindclcin s. 17. 23.
Böhme, Altdeutsches liederbuch ur. 403. Dänisch bei Brandt ng ILdwi'g, Den danske
Psalmedigtning 1, 200 ur. 363 (1846).
0 Lesbiu, du hirtciilust s. 108. 130.
A.Hammerschmied, "Weltliche öden 1, 10 (1612). Text von Homburg, Sclümplf-
uud crustliaö'te Clio 2. auü. 1642 bl. Q 2 b.
0 tcaincnhawu , o tanucnbeium , du bist s. 415.
Böhme, Ad. liederbuch nr. 491.
Wann wird denn unser aufltruch seijn s. 484.
Birlingers Alemannia 12. 77 nach einem 11. blatt von 1635. Eine geistliclie unidich-
tung (um 1G50) auf einem tl. blatt iu Berlin Yd 7854, 8 und einem andern Yd 7011, 53, 1.
Wehe, wiiulchoi, u:ehe s. 420.
Böhme, Ad. liederbuch nr. 507.
Wil sie nicht, so nicuj sics lassen s. 524.
r. Flemings Gedichte s. 435 imd 763 ed. Lapiienliorg (1863). — Komponiert vim
A. Hammerschmied, AVeltl. öden 1, 16 (1612). — Nachgeahmt von Fiukelthaus,
Lustige lieder 1645 nr. 28, komponiert von Dedekind, Aelbianische Museulust (1657)
bl. G2b.
Zeuch, fahle, \euch s. 418.
Böhme, Ad. liederbuch ur. 510. Alonatshefte für musikgeschichte 17, 92. Bolte,
Korr. blatt d. Vereins f. niederdeutsche sprachf. 10 (3) 30.
Die von Ellinger getroffene aus wähl von 12 gcdichten vergegenwärtigt vortref-
lich den charakter der reui;kerschen dichtung. Hier und da wären freilich erklärende
anmerkuugeu erwünscht, namentlich bei dem s. 0 abgedruckten wiegenliode für den
kiu'prinzen Karl Emil v. j. 1655, wo übiigens Nicolai (Berlinische l)lätter 1707, 3,
65 — 96) und Louis Schneider (Schriften d. Vereins f. d. gcsch. der stadt Berlin 11,
126. 1874) gute bemerkungen zu dem hier entworfenen bilde der residenzstadt geboten
hätten. Da Peuckers gcdichte überhaupt für die lokalgeschichte besondern wert be-
sitzen, so hätte der herausgeber denjenigen seiner leser, die sich für die geschichte
r)erlins unter dem grossen kurfürsten interessieren, die biographischen nachrichten
über Berliner familien in einem aliihabetischen verzeichins aller gedichto leichter zu-
gänglich machen können.
Zum Schlüsse mögen noch einige biogra])hisuhe und bibliographische nachtrüge
folgen. Das goburtsjahr Peuckers 1619, das s.V nicht angegeben wird, teilt G. G. Kü-
138 BOLTE, tSKR RKRLIN'ER NEUDKüCliJi; I, 3
ster, Altes uucl neues Berlin 4, 470 mit: „rcuckcr f a. 1674, aetatis 55".^ Die von
E. Friedländer herausgegebene matrikel der Universität Frankfurt a. 0. 1, 752a verrät
uns, dass „Nicolaus Peucerus Jaurauus Süesius" im herLst 1642 immatrikuliert wurde.^
Dass er 1644 noch in Frankfurt weilte, ergibt sieb, aus einem an den abreisenden
studiengenossen Martin Friedrich Seidel aus Berlin gerichteten gedichte: „Drewcstu
schon wegzuziehen"-'. Wann er nach Berlin kam, scheint ungewiss; woher Ellingers
angäbe s. VI: 1641 oder 1642 stanit, vermag ich nicht zu sagen; nacli dem eben
bemerkten ist sie mindestens fraglich. Im jähre 1654 wurde er zum stadtrichter in
Colin ernant; vgl. das im Bär 1, 78 (1875) abgedruckte gedieht.
Von einzeldrucken Peuckorscher gedichte bosizt die Königliche bibliothek zu
Berlin vier nummern:
1) Paucke. Berlin, Christoff Runge 1650. 4 bl. 4° (= Samlung von 1702 nr. 1).
2) Lämmerknecht. Ebd. 1652. 4 bl. 4° (zur hochzeit von Joh. lleinzelman und
Sophie Zieritz. = 1702 s. 339).
3) Arm und Eeich. Guben, G. Schnitze. 1664. 2 bl. 4° (auf den tod von Hed-
wig Marie von Haake, geb. Schlabberndorff): „Stirbet heut ein Lazarus."
4) Der Fuchs kreucht zu Loche. Kölln, G. Schnitze 1674. 2 bl. 4" (zur hoch-
zeit von Paul Fuchs und Luise Friedeborn): „Dem churfürst Friedrich Wilhelm trawt."
Ausserdem verdanke ich der gute des-herrn schulvorstehers F. Budczies noch die
mitteilung mehrerer gedichte P.'s, die sich in den leichenpredigten der bibliothek des
gyranasiums zum Grauen kloster finden: 1) auf den tod der Jungfrau Eva Cath. Brun-
nemaun (1651), — 2) auf den des amtskammerrats Reichard Dieter (1655), — 3) auf
den des oberzeugmeisters Elias Francke (1660); vgl. die grabschrift bei Küster 4, 483,
— 4) die lateinisch - deutsche grabschrift des advokaten Krause (1656).
BERLIN. JOHANNES BOLTE.
MISCELLEN.
Ein l>rief Schillers.
Weimar 17. Jenn. 1802.
Ich habe an Opitz geschrieben, dass er Dir auf Dein Ansuchen Abschriften
von der M[aria] St[uart] und der J[uugfrau] v[ou] 0[rk'ans] verabfolgen laßen könne.
Du hast Dich also delihalb unmittelbar an ihn zu wenden. Ich will Dir, außer die-
sem, eine Abschrift von meiner neuesten Arbeit, der Turaudot, die ich nach Gozzi
neu bearbeitet habe, zusenden, sobald ich eine Abschrift davon habe. Dafür aber
erbitte ich mir, als einen gegendienst, daß Du für den jungen ELölzlin, der sich
beim Theater zu Mannheim aufhält, etwas thun mögest. Seine armen Aeltern haben
mir bei meinem Aufenthalt in Mannheim Freundschaft [b] erwiesen, sie sind jezt in
Übeln Umständen, die arme Mutter hat sich an mich gewendet, und ich wünschte
herzlich gern etwas zu ihrer Erleichterung beizutragen. Laß uusre Freundschaft, die
jezt wieder neu auflebte und wie ich sicherlich hoffe ununterbrochen fortdauern wird,
1) Audi 3, 398 nomit Küster 1674 als todes.jahr; somit ist wol die 3, 463 gonauto zalü 1675 ein
druckfeliler.
2) Ebenda 1, 749b (sommer 1642) findet sich „Heinricus Ileldt üuranus Silesius."
3) Propomptica , quibus M. F. Soidolio Berolinonsi ex inclyta patriae acaderaia in exteras aca-
doiuias atquo rogionos studia sua transl'orenti bono ominabantur fautoros , convictores atque amici 1644.
4^ (im Berliner Mscr. boruss. fol. 200). Atich Heinrich Hold imd Joh. Francus , mit denen Seidel eine
poetische geuossenscliaft gestiftet hatte, sind hier durch ein deutsche.s und lateiuisclies gedieht vertreten.
SUSCKLLE.V 139
duicli die guteu Wünsche einer Familie, die uns beiden ilu'e Vcrljcswerung dankt,
eingeweiht und versiegelt werden.
Die Turandot, die Du wahrscheinlich aus Gozzi schon kennst, ist ein Stück,
welches auf jeder Bühne und hesouders bei einem frühlichen sinnlichen Publikum,
Glück machen wird. Auch ist in dem Stück, da es in China spielt und bloß fabel-
hafte Verhältnisse behandelt, nichts woran auch das reizbarste Publikum Anstoß neh-
men könnte, [c] Sie wii'd bald in Dresden gespielt worden, dieß ist in Absicht auf
Oeusur etc. alles gesagt.
Es thut mir sehr leid, daß Du Dich über I[fflaud] zu beklagen hast. Freilich
mögen die Verhältnisse, die ihn treiben und drängen, seine Stimmung verändert
haben. Er hat als Director d[es] Th[eators] ein böses Schiff zu regieren, er ist als
Schauspieler und als Dichter im Kampf mit dem Partlieigeist und dem Zeitgeschmack,
er will erworben und reich werden, und es federt schon den ganzen Mann, sich
im Besitze zu erhalten. Das kann ihn däucht mir bei einem nachsichtigen Freund
entschuldigen, wenn er sich nicht immer gleich bleibt; aber eine Jugendfreundschaft
wie die eurige ist unzerstörbar und ich zweifle nicht, ihr werdet einander wieder
finden.
[d] Charlotte Kalb hat Lust wieder von Erlangen weg und nach "Weimar zu
ziehen. Ich weiß nun zwar nicht, ob sie sich hier wieder gefallen wird; aber ich
freue mich doch sie wieder zu sehen und wünsche zu Ihrem Wohlbefinden etwas
beitragen zu können.
Deinen Vorschlag wegen einer Reise nach Mannheim wünschte ich ausführen
zu können, aber in dem nächsten Frühjahr kann es noch nicht geschehen, eher im
künftigen Jahr wo ich eine Reise nach Schwaben und der Schweitz damit verbinden
möchte.
Lebe recht wohl, empfiehl mich Deiner Frau und erhalte mir Deine Liebe.
SCHILLER.
Den oben abgedruckten brief verdanke ich herru Rudolf Valdek, schriftsteiler
in Wien. Er ist an Heinrich Beck in Mannheim gerichtet und wurde von diesem
am 8. felniiar 1802 beantwortet; s. Speidel und Wittmann, Schillcrbilder (Berlin und
Stuttgart, Spemann o. J.) s. 171 fgg. minor.
NEUE ERSCHEINUNGEN
Bötticher, G. mid Kiuzcl, K., Denkmäler der älteren deutschen litteratur
für den litteraturgeschichtlichen Unterricht au höheren leh ranstalten. IL: Die
höfische dichtung des mittelalters. 2: der arme Heinrich und Meier
Helm brecht. HaUe a/S., buchhandlung des Waisenhauses, 1891. 124 s. 0,90 m.
Dieses bändchen ist ebenso wie die anderen bereits erschienenen der samlung
vortrcflich geeignet, dem auf dem titel angegebenen zwecke zu dienen. Eine
knappe , aber scharf charakterisierende einleitung orientiert über Hartmann von Aue ;
besonders dankenswci-t ist, dass charakteristische proben aus mehreren seiner werke,
sowie die bekante äusserung Gottfrieds von Strassburg über ihn im mhd. original
beigegeben sind; ebenso eine (vielleicht zu sehr zusammengedrängte) Inhaltsangabe
des „Iwein" und „Erec". Den „armen Heinrich" hat der herausgeber mit dem
sichtlichen bestreben übersezt, bei einer im wesentlichen treuen widergabe des
140 NEUE ERSCHEINUNGEN"
Sinnes doch zwanglos Üicsseude nhd. verse zu gehen; manche feinheit des Originals
muste freilich dabei geojifert werden. Sehr gut gehuigen ist die Übertragung des
„Meier Heinibrecht". Die den beiden werken beigegebenen anmerkungen geben
klare sachliche erläuterungen und regen zum nachdenken an. o. e.
Brate, E. och S. Bug'ge, Ruuverser. Undersökniug af Svoriges mctriska runiuskrif-
ter. Stockholm 1891. 442 s. 8.
Burkhardt , C. A. H., Das repertoire des Weimarischen theaters unter
Goethes leitung 1791 — 1817. (Theatergeschichtliche forschungen, herausgeg.
von B. Litzmann. I.) Hamburg, Leop. Voss, 1891. XL u. 152 s. 3,50 m.
Die einlcitung schildert die inneren ixnd äusseren Verhältnisse des Weiniarischen
theaters und gibt die quellen au, die dem herausgebor vorlagen. Es folgt: A. Chro-
nologisches Verzeichnis sämtlicher nachweisbaren aufführungon (mit einschluss
der vom Weimarer theater in Erfurt, Halle, Lauchstädt, Leipzig, Rudolstadt ge-
gebenen gastvorstellungen). B. Alphabetisches Verzeichnis der di'amen (mit
einschluss der opern), ballette, musikaufführungen , prologe und epiloge. Die auf
den theaterzotteln oft fehlenden verfassernamen sind vielfach ergänzt.
Drescher, Karl, Studien zu Hans Sachs I. Hans Sachs und die heldensage. Berl.
1891. (Acta Germanica H, 3.) VEI, 105 s. 8.
Goldbeck -Löwe, A. , Zur geschichte der freien verse in der deutschen cüchtung von
Klopstock bis auf Goethe. (Kieler diss.) München, A. Buchholz, 1891. 82 s. 2 m.
Hartmauu von Aue, Iwein herausgegeben von Emil Henrici. Erster teil: text.
(Germanistische handbibliothek Vni.) Halle a/S., buchhandlung des Waisenhauses,
1891. 388 s. 8 m.
Der text ist nach vergloichung aller handschriften in neuer recension gegeben.
Am raude ist in genauen zahlencitaten auf die entsprechenden verse aus Christian
von Troyes verwiesen; unter dem texte steht der volständige kritische apparat, so-
wie m besonderer abteilung die abweichungen des Lachmannschen textes. Wir be-
halten uns vor, nach erscheinen des zweiten bandes (einleitung und erläuterungen)
die kritischen und exegetischen fortschritte dieser ausgäbe eingehend zu besprechen.
Auf der Müncheuer philologenversamlung hat Henrici über seine kritischen grund-
sätze vertrag gehalten.
Ilerrinanowski, dr. Paul, Die deutsche götterlehre und ihre Verwertung in kunst
und dichtung. Berl. 1891. 2 bände. IV, 284 und VI, 278 s. 8.
Heusler, Andreas, Zur geschichte der altdeutschen verskunst. [Germanistische ab-
handlungen herausgeg. von K. Weinliold. VIII.] Breslau, ^Y. Koebner, 1891.
VIII u. IUI s. 5,40 m.
Hirzel, L., AVieland und Martin und Regula Künzli. üngedruckte briefc und widcr-
aufgefundone aktenstücke. Leipzig, G. Hirzel, 1891. VI u. 240 s. 5 m.
Die Veröffentlichung von 16 briefen, welche Wioland zwischen 1750 und 1759
von Zürich aus an Martin Künzli (Ichrer an der Stadtschule in A\'interthur) und
dessen Schwester Regina (geboren 1718) richtete, wird eingeleitet durch eingehende
mitteilungen über den lebensgang und die schriftstcllerisclie Wirksamkeit Küuzli's,
sowie über das geistige leben des damals um Bodmer sich scharenden kreises.
Auf die Stellung dieser männer zu den litterarischen bewegungen in Leipzig und
Berlin, sowie auf Wielands leben unter ihnen fält manches neue licht. Im an-
hange veröffentlicht Hirzel unter anderem einen nicht uninteressanten brief Gleims
an Wieland vom 10. märz 1755, sowie einen von Klopstock noch am 12. decbr. 1752
NEUE ERSnrEINUNOEN 141
aus Kopeiiliagcii an Bodmcr genchtetoii brief (weshalb diesen mit auslassungenV),
über den Künzli höchst philisterhaft aburteilte (s. 145).
Iljclmqvist, Thcortor, Natui-skildringarna i dou uorröna diktningen. Stockh. 1891.
IV, -218 s. gl-. 8.
Jahresbericht über die ersclicinuugcn auf dem gebiete der germanischen philologie
hrg. von der geselscliaft für deutsche philologio in Berlin. 12. Jahrgang. 1890.
1. abt. Lpz. 1891. 128 s. 8. — Dies trefliche bibliographische lülfsmittel, das
den facligelehrtcn längst unentbehrlich geworden ist, sei auch weitereu kreisen,
namentlich den licrren direkteren höherer schulen, warm empfohlen.
Jelliii;?haus, H. , Armiuius und Siegfried. Kiel und Leipzig. 1891. 38s. 8. Im. —
Der herr Verfasser, der sich durch seine arbeiten auf dem gebiete der nieder-
deutschen Sprache und litteratur wolverdient gemacht hat, betritt hier mit weniger
glück den boden der deutschen heldensage, indem er den hofnungslosen versuch
unternimt, die hypotbesen von GuSbr. Vigfüsson und Scbierenberg (!) zu stützen.
Die Nibelungensage in eine politische allegorie aufzulösen, ist nicht minder ver-
fehlt, als in ihr eine darstellung chemischer processe zu erblicken.
Kettiier, E. , Untersuchungen über Alphaiis tod. Gymn.-progr. Mühlhausen i. Thüring.
1891. 52 s.
1. Algemeine Vorstellungen und anschauungen des dichters. 2. Epische tocluiik.
3. Stil. 4. Stellung des Alphart iunerlialb der volksepik.
Leitzmauii, Albert, Uutersucliuugen über Berthold von Holle. Habilitationsschrift.
Jena 1891. 48 s.
Seegers, H. , Neue beitrüge zur textkritüv von Ilartmanns Gregorius. Kieler diss. 1891.
Leipzig, G. Fock. 47 s. I,ö0 m.
1. Die lateinische dichtung Arnolds von Lübeck und ihr Verhältnis zum deut-
schen original. 2. Die von Schmeller edierte lateinische Gregordichtung zfda. 2, 486 fgg.
3. Über die einleitung zu Hartmanns Gregorius. — Die lesarten der Konstauzer
handschrift sind durchweg berücksichtigt.
Vglsuiiga saga. Nach Bugges text mit einleitung und glossar herausg. von Wilh.
Ramsch. Berlin 1891. XVni, 21G s. 8. 3,G0 m.
Weiuhold, K., Mittelhochdeutsches lesebuch. Mit einem metrischen aiihang
und einem glossar. 4. aiiflage. Wien, W. Braumüller, 1891. IV u. 28G s. 4 m.
Der abriss der grammatik ist fortgeblieben, weil durch Weinholds kleine mhd.
grammatik (2. aufl. 1889) ersezt; das bixch ist dennoch gegen die 3. aufläge um
10 Seiten stärker geworden durch einige neu aufgenommene lesestücke (Parz.
224,1 — 248,8; Neithart ed. Haupt .57, 24 — 58, 24; stücke aus der Limburger
Chronik als proben eines md. dialektes), sowie durch erweiternde Umarbeitung der
eiuleitungeu , der anmerkungen und des glossars. Das buch ist zur einfülirung in
mhd. lektüre auch für Studenten sehr geeignet, namentlich wegen der manuigfaltig-
keit seines Inhaltes.
Zeliine, A. , Über bedeutung und gebrauch der hülfsverba. I: soln und müe^en bei
Wolfram von Eschenbach. Halle, diss. 1890. 55 s. Leipzig, G. Fock. 1,50 m.
Zinzow, Adolf, Die erst sächsisch - fränkische , dann normannische Mimiannsage nach
Inhalt, deutung und ui'sprung. Progr. des Bismarck - gymn. zu Pyritz. 1891.
20 s. 4..
142 NACHRICHTEN
NACHRICHTEN.
ARTHUR REEVES f.
In der nacht vom 27. auf den 28. februar 1. j. gieng mir aus Richmond, Indiana,
Vereinigte.staaten von N.-A., ein telegranim zu mit der kurzen meidung: „ Aithur Keeves
kQled railroad accident", und heute erhalte ich durch die gute des lierrn professors
Ed. P. Evans, viceconsuls der vereinigten Staaten dahier, eine nunimer des Boston
Weekly Transcript's vom 27. februar, welche berichtet, dass am 25. abends auf der
fahrt von Chicago nach Cincinnati ein eisenbahnunfall eingetreten sei, bei welchem
der genante mit mehreren anderen pei'souen verunglückte. Im vorigen jähre hat
A. Reeves unter dem titel „The Unding of Wineland the good" (London, Heniy Frowde)
eine vortrefliche ausgäbe der auf die entdeckung Vinlands bezüglichen (juellen mit
facsimile's der haudschriften , Übersetzung, sowie sehr beachtenswerten vorberichten
und anmerkungen herausgegeben, ein werk, welches im anschlusse an G. Storm's
grundlegende Untersuchungen (Aarboger for nordisk oldkyudighed og historie, 1887)
der zumal in Amerika noch hei'schenden Verwirrung der ansichten über die Vinlands-
fahrten der alten Nordleute ein ende zu machen geeignet ist. Zulezt war er mit einer
englischen Übersetzung der Laxdsela beschäftigt gewesen, von der ich dahingestelt
lassen muss, ob sie bereits zum abschlusse gediehen ist. In der schule des um die
altnordischen Studien hochverdienten professors W. Fiske herangebildet, schien der
ebenso liebenswürdige als arbeitsame junge mann noch eine lange reihe tüchtiger lei-
stungen auf diesem gebiete zu versprechen; das unerbitlichc Schicksal hat diese hof-
nungen abgeschnitten und nur dem wünsche rauni gelassen, dass dem zu früh ge-
schiedenen die erde leicht und bei seineu fachgenossen ein ehrendes andenken gosicliert
sein möge!
MÜNCHEN, DEN 18. RlCrZ 1891. K. MAURER.
Am 2. feliruar d. j. verschied zu Boppard a/Rh. an den folgen einer gehirnge-
schwulst der langjährige bibliothekar an der Breslaucr universitäts - bibhothek prof. dr.
Hermann Oosterley. Geboren zu Göttingen am 14. juui 1833 als söhn des spätem
bürgermeisters und neffe des im frühjahr 1891 ebeufals verstorbenen hannoverschen
hofmalers, zog ihn seit friihester Jugend die musik so mächtig au, dass er in kind-
licher einbildungskraft ein „zweiter Beethoven" zu werden ersehnte und sich nach-
mals an der Universität Kiel für musik und deren geschichte habilitierte. Nach einer
mehrjährigen Wirksamkeit (1858 — 62), der es an anerkennung nicht fehlte — eine
glänzende empfehlung für die stelle eines kgl. hofkapolmeisters war die folge — trat
er indessen zum bibliotheksberuf über. Im Oktober 1862 hilfsarbeiter an der damals
bedeutendsten bibliothek Norddeutschlands, der Göttinger, rückte er 1866 zum seci-etär
daselbst vor, kam als custos 1872 nach Breslau und hat hier (seit 1876 mit dem
titel bibliothekar, seit 1882 auch mit dem professortitel) bis wenige monate vor seinem
abscheiden gewirkt.
Oestorley's litterarische tätigkeit war umfassend und vielseitig. Seine doctor-
dissertation (1855) war ein „Ahriss der geschichte der philosophischen beweise für
das sein gottes". Dann veröffentlichte er schritten über theorie der musik und über
liturgik, sowie eine reihe philologischer und historischer werke. Hier interessieren:
Die dichtkunst und ihre gattungen. Mit einer vorrede ron Karl Goedeke (1870);
Niederdtsch. dichhmg im m.-a. Als XII. buch der dtsch. diehtung im m.-a. ron
K.Qoedeke bearbeitet (1871). Zahlreiche ausgaben älterer texte und scliriftsteller ver-
anstaltete er und stattete sie mit zum teil sehr umfangreichen einleitungen und
XACHRirilTEN 143
anhängen aus. In der bibliothek des iStiittgaiter litt, veroins gab er heraus: Panli's
Schimpf H. Ernst (1800); H.W. Kirehhof's Wemlemmd I—V {ISmilO); Steinhöwel's
Aesop (1873); Sinioii Dach (1870). Eine kloinoro ausgäbe des leztgenanten erschien
fast gleichzeitig als lul. IX der Goodeke-Tittniann'schcn Dichter des IT.jhdfs.
A^^n andein ausgaben seien genant: Shakespeare' s Jest Book (London 1800);
Ro)hhIu.'<. Die paiaphrasoi des Phaednis it. die aesopische fahel im vi.-a. (1870);
Qesta Romanorum (1872); Bibliothek orientalischer märchen utul erxählimgcn I.
Baital Pachisi (1873); Johannes de Atta Silva Dolopathos sire de rege et VIT sa-
picntilnis (1873). Leztgcnanter text, die vorläge zu dem altfranz. Dolopathos des
Herbert V. Metz, war von den romanistcn, namentlich Adolf Mussafia, jalire lang ver-
geblich gesucht worden. Oostorley hatte ihn in der Athonacums - bibliothek zu Luxem-
burg wieder aufgespüi-t. Freilich liat die flüclitigkeit der ausgäbe gerade dieses textes
das verdienst des horausgebors stark verdunkelt.
Auch neueren autoren hat er seine aufmcrksanikeit zugewaut: er ist niitarl>eiter
au der Goodeke'schen grossen kritisclieu »Sc/^ ///er -ausgäbe gewesen und hat Seume's
Spa-.icryang nach Sgrakns neu veröffentlicht. Eine grosse zahl Zeitungsartikel, auf-
sätze u. dgl. mag hier nur vorübergehend erwähnt werden.
"Was Oesterley auszeichnete, war eine bewundernswerte spankraft und Intelli-
genz, die ihn befähigte die verschiedenartigsten materieu zu umfassen und schnell zu
durchdringen, sowie eine frische und klare ai;ffassung, wie sie polyhistorisch oder
bibliothekarisch veranlagten naturen nicht eben eigen zu sein pflegt. Was ihm abgieng
oder doch in folge äusserer lebcusumstände niclit zu.r geltung kam, war sinvolles
verweilen auch bei dem kleinen und einzelnen. Damit hängt es zusammen, dass
einem teile seiner arbeiten der Vorwurf ungenügender ausreifung niclit ganz erspart
werden kann, wäbrend sonst der umfang und die Vielfältigkeit seines wirkens in hohem
grade acbtung verdient.
(Nach freundlichen mitteilungen von dr. Emil Seclmann in Breslau.)
Am 3. februar starb zu Kopenhagen der ehemalige rector der kathedralschule
zu Aarhus, di". G. E. Y. Lund, Verfasser einer altnordischen syntax (oldnordisk ord-
föjningslfere) und eines Wörterbuches zu den altdänischen gesetzen, 70 jähre alt.
Am 20. april verschied im 04. lebensjahi'e zu Kiel prof. dr. Gottfried Hein-
rich Handelmann, direkter des Schleswig -Holsteinischen museums vaterländischer
altertümer, Verfasser einer reihe von schritten über altertumskunde und Sittengeschichte.
Am 25. mai verschied zu Bonn der ausserordentliche professor dr. Karl
Gustaf Andresen (geb. 1. juin 1813 zu Ütersen). Die Zeitschrift für deutsche phi-
lologie, die in dem dahingeschiedenen einen langjährigen, treuen mitarbeiter betrauert,
wird ihm ein dankbares augedenken bewahren.
Der ord. professor dr. M. v. Lexer in Würzburg folgt einem rafe nach Mün-
chen. An der Universität Jena hat sich dr. Albert Leitzmann für germainsche
Philologie habilitiert; ebenso in Bern dr. S. Singer, in Halle dr. John Meier, in
Berlin dr. Max Herrmann.
Die „Beiträge zur geschichte der deutschen spräche und litteratur" werden
unter fernerer mitwirkung ihrer begründer vom 16. bände ab von prof. dr. E. Sie-
vers in Halle a/S. herausgegeben werden.
144 XACHRICHTEX
Im Verlage von M. Nicmeyev in Hallo a/S. wird unter dem titel Saga-
bibliothek eine samlung der wichtigsten altnordischen prosadcnkmäler mit deut-
schen, erklärenden anmerkmigeu erscheinen. Die redaction haben dr. Gustaf Ceder-
schiöld in Lund, prof. dr. Hugo Gering in Kiel und dr. Eugen Mogk in Leipzig
überiionmien. Zunächst wei'deu herausgegeben werden: Droplaugarsona saga (G. Mor-
genstern); Egils saga (Finnur Jünssou); Eyrbyggja (H. Gering); Flores saga ok Blan-
Mflür (E. Kölbing); Gunnlaugs saga (E. Mogk); Hallfredar saga (Th. Wisen); Halfs
saga (Er. Kautfmann); Häkonar saga (G. Storni); Isleudiuga bok (W. Golther); Joms-
vikinga saga (C. af Petersens); Mägus saga (G. Cederschiöld) ; Ragnars saga lodbrokar
(R. C. Beer); Sverris saga (G. Storni); Vglsunga saga (B. Sijmons); Qrvar-Odds saga
(R. C. Beer). Als notwendige hilfsmittel werden der saga-bibliothek hinzugefügt
werden: ein kurzgefasstes altnordisches Wörterbuch und ein handbuch der
nordischen alter tum er. Die bearbeitung des ersteren Werkes hat Palmi Päls-
son in Reykjavik übernommen.
Beneke'sche preisaufgabe für das jähr 1894. Gewünscht wird eine
geschichte der deutschen kaiserlichen kanzleisprache von ihren anfan-
gen bis auf Maximilian, die in angemessenen, zeitlich begi'enzteu abschnitten das
constante und das schwankende in den laut- und flexionsverhältnissen , sowie mög-
lichst auch in wortI)ildung und Wortwahl zur anschauung bringt und mundartlich er-
läutert. Eine beschränkung auf das lautliche MÜrde nicht genügen; benutzuug unge-
druckten materials wird nicht verlangt. Äussere Verhältnisse, wie der wechselnde sitz
der kanzlei, heiniat und litterarische beziohuugen der kaiser und kanzleivorstäude, die
herkunft der Schreiber, der einfluss wichtiger reichstage, etwaige rücksicht auf die
mundart der adressaten sind eingehend zu beriicksichtigen und darzulegen. Auch das
Verhältnis der kaiserlichen kanzleisprache zu den anfangen einer oberdeutschen xoivrj
im 14. und 1.5. Jahrhundert darf nicht ausser acht bleiben: namentlich wird zu unter-
suchen sein , ob die spräche der Nürnberger kanzlei auf die der kaiserlichen eingewirkt
habe, oder umgekehrt. Erwünscht ist es endlich, dass an der spräche der Urkunden
und der ältesten drucke einiger ausserbairischen litterariscben centren Süddeutschlands
die bedeutung der kaiserlichen kanzlei für die milderung der mundaiilichen gcgensätze
im 1.5. Jahrhundert geprüft werde: neben Nürnberg käme etwa Augsburg, für das vor-
arbeiten vorliegen, und Strassburg in betracht.
Bewerbungsschriften in deutscher spräche sind bis zum 31. augnst 189H mit
einem spruche auf dem titelblatte an die philosophische facultät zu Göttingen einzu-
senden mit einem versiegelten briefe, welcher auf der aussenseite den Spruch der ab-
handlung, innen namen, stand und Wohnort des Verfassers anzeigt. In anderer weise
darf der name des Verfassers nicht angegeben sein. Auf dem titelblatte der arbeit
muss forner die adresse bezeichnet sein, an welche die arbeit zurückzusenden ist,
falls sie nicht preiswürdig befunden wird.
Der erste ju-eis beträgt 1700 m., der zweite GBO m. Die zuerkennung erfolgt am
1 1 niärz 1894. Die gekrönten arbeiten bleiben unbeschränktes eigoutum der Verfasser.
Halle a. S. , Buciuh uckerei des Waisenhauses.
BEITiiÄGE ZUR DEUTSCHEN MYTliULOGTE.
1. Der todesiiott alul. liciiiio Wotaii = 3loreurius.
Die niytli()!()i;-ischo foischung- hat bis auf unsere tage der gescliichto
des kaltes geriug-e beachtung geselieukt. S(Mtdem aber die hohc^ Wich-
tigkeit dieser geselHeiitHcheu grundhige gewürdigt wird, ist i'eiclier
erfolg der lohn. In Weinholds abhandlung „über den niytlius
vom Wanenkrieg" ^ erscheineu unklare Verhältnisse durch die övt-
liclie und zeitliehe scheiduug der kulte geläutert. Auf solchem wege
nur kiinnen wir dahin gelangen, die niannigfaclKni Widersprüche zu
lösen, die in den deutscheu göttergestalten unseres mittelalters her-
schen. Weiuhuld hat die ausbreitung des Wödanglaubeus verfolgt
uud den zusammeustoss des Anseukultes mit dem Wanenkidte als
kämpf der chthonischen mächte gegen die götter des lichtes erwiesen.
Dieser kiieg hat zu einem religionsfriedeu, uämüch zur aufnähme der
Waneu unter die Anseu geführt. Einerseits wird die erscheiuung der
götter im lichte dieser auffassung einheitlicher und klarer, denn sie
erlaubt uns, viele verAvirrende züge auszuscheiden 2; anderseits aber
werden wir dem seeleuglauben luid totenkult der Germanen, dessen
reste sich in- sage, sitte und brauch bis heute bewahrt haben, in höhe-
rem masse als bisher gerecht, wenn wir in dem ursprünglichen, dem
himmelsgotte *Tiirax gegenüberstehenden "^'Woilrmax eine macht der
erde, den gott des todes und der finsternis, erkennen. ZAveifel an die-
ser auffassung könte erregen, dass bisher in keiner bezeichnung des
höchsten gottes, weder in dem hauptnamen ^Woäcütcc (vgl. lat. rotes,
altir. f/ifJi) noch in seinen vielen beinamen eine tatsächliche anknüpfung
an den todesgott erwiesen ist, denn in Requalivalian , Y(jf/r, Ygg-
jüngr und IMhlindi ist doch höchstens eine indirekte beziehung zu
sehen. Diesen zweifei zu beseitigen, ist die aufgäbe meiner abhandlung.
1) Sitz.uugsberiehto der köuigl. prcuss. fikadeniie. PhildS. -histor. klassu XXIX
(1890), Gll fgg.
2) "Weiuhold scheint mir durebaus nicht zu veruciiien, dass gottev oder dämo-
nen der finsternis den göttei'n des lii'lites im Waneukult gegenülier gestanden liahcn;
es soll wol nur gesagt sein, dass hier die lezteren die hcrschende stelle hattoii.
ZF,TTSrni!TFT F. PKITTSIIIK PIULOI.O'ilK. r.H. XXI\'. 10
146 SIEBS
1) Wenn Tacitus in der Germania (c. 9) berichtet, dass die Ger-
manen als ihren höchsten gott den Mercurius verehren, so meint er
damit den kult des Istwaz = Wöäanaz bei den westlichen Deutschen.
Die gieichsetziing Hermes = Mercurius = Wodan ist nie bestritten
worden, und sie ist nicht nur stichhaltig für die zeit, da Wodan als
der gott alles geistigen leben s gilt, sondern auch in dem Verhältnisse
beider götter zu den toten liegt eine ähnlichkeit: Wodan nimt die —
freilich nach jüngerer auffassung von den Walküren zu ihm gelei-
teten — toten auf, und auch dem Hermes ilwyo/tof.i7r6g w^erden die
Seelen der verstorbenen übergeben. Durchaus sichergestelt wird —
schon für sehr frühe zelten — die Identität Merkurs mit dem deut-
schen todesgotte durch eine Inschrift, die im frühjahr 1872 zu Rohr
bei Blankenheim im oberen Ahrtale gefunden ward. Ein altar, von
dem nur der obere teil erhalten ist, trägt die werte:
MERCVRI
CHANNINI
Freudenberg (Bonner Jahrbb. des Vereins von altertfrd. im Rheinide
53, 172 fgg.), der die inschrift zuerst erklärt liat, sah in Mermiri einen
votivgenitiv ; in dem Schlussbuchstaben der zweiten zeile weite er den
rest eines E und in dem somit sich ergebenden Channine den ersten
teil des namens der Canninefates erkennen. Mit gutem rechte — klar
erweist das der name di^^ Kemiem,erlandes — hat Much (Ztschr. f. d. a.
XXXV, 208) erklärt, dass jener name nie und nimmer mit C/i hätte anlau-
ten können, da wir mit germanischem /lzu rechnen haben: es sei des-
halb Mercurio Channini zu lesen und in dem zweiten werte der germ.
dativ eines beinamens Hmi7io (er vergleicht griech. yMvveiv) zu erkennen.
Freudenberg (a. a. o.) berichtet, dass für ein dativ -o in der ersten zeile
kein räum sei ; in solchem falle müssen wir — die möglichkeit gibt Freu-
denberg zu — in dem C der zweiten zeile ein 0 erkennen und Mercurio
Hannini lesen. Es fragt sich nun, wie dieser name zu erklären ist.
JSTach dem gesetze der westgermanischen konsonantendehnung erweist das
nn, dass (C) hannini aus *(C)hanjini entstanden ist. Zu diesem dativ
haben wir einen nom. sing. germ. Vianje *ha7iJ6'^ (ich lasse das strit-
tige, für unsere zwecke gleichgiltige C des anlautes weg) anzusetzen,
und diese formen sind lautgesetzliche Vorläufer eines altsächs. althochd.
*hcnno (got. *Imnja}^ angelsächs. altfries. *henna. Ich behaupte nun,
dass mit diesem w^orte der todesgott bezeichnet ist. Wie zahlreich
überhaupt die votivsteino sind, die — erklärlicherweise — gerade den
todesgottheiten errichtet wurden, das werde ich demnächst in anderen
BEITRÄGK ZUR DEUTSCHEN MYTHOLOGIE. I 147
arbeiten dartun. An dieser stelle soll zuerst die etymologische deu-
tung, sodann die geschiebte des Hoino gegeben werden.
Wir kennen eine indogerni. wurzel kcn, welche in der hochstufe
1x011, in der tiefstufe hi lautet und „stechen, schlagen, vernichten,
töten" bedeutet: altpers. vi-Qan heisst töten, avest. <}dna Vernichtung;
griech. y.alvio aorist tvMvov /Mvelv töten, xorrj (Hesychius) mord. Die
entsprechende germ. wurzel muss in der mittelstufe hen, hochstufe Juin,
tiefstnfe hnn lauten; je nachdem wir nun ein nomen agentis mit Suf-
fix -an- oder -jan- von der mittel- oder hochstufe bilden, erhalten
wir alid. "^'lieno *hinno oder '^hano *hc7i/io in der bedeutiing „vernich-
ter, tod", personificiert „gott der Vernichtung, todesgott". Im mittel-
und neuhochdeutschen haben wir Henne bzw. Hinne Han(n)e zu
erwarten; auch finden wir die tiefstufe mit hime, hunne vertreten.
2) Nunmehr muss es unsere aufgäbe sein, die geschichte des deut-
schen todesgottes Henne zu verfolgen. Die Germanen verehrten ihre
götter in heiligen hainen. Ein solches heiligtum hatten die Friesen dem
Henna und zwar dem kämpf- und todesgotte, dem Baduhenna
(gen. Baduhennae)^ geweiht. Tacitus (Amial. lY, 73) erzählt: „w?ox
compertum a transfugis, nongentos Romanorum'^ apud lucum, quem
Baduhennae vocant, pugna in posterum extracta confectos''^ . Die frü-
heren erklärungen dieses wortes als Badiüine usw. glaube ich hiermit
widerlegt zu haben. Zu den ausführungen Jaekels (Ztschr. f. d. phil.
XXII, 257) bemerke ich, dass sie mir ebensowenig wie die erörterun-
gen über die Alaesiageti und Hlüdana stichhaltig erscheinen, weil sie
auf einer sprachlich unzureichenden grundlage erbaut sind; damit fal-
len auch die weiteren kombinationen zusammen. Z. b. sagt Jaekel von
Baduhenna: „der name gehört, wie sein zweiter bestandteil -henna zeigt,
der form nach zu den namen der auf römisch -germanischen inschriften
aus dem Rheinlande so häufig genanten matronen wie Albiahenae usw.
und zu namen wie Nehal- ennia und zu dem auf unserem votivaltar ^q-
WMiiQw Fbnmil- ene'''' . Niemals aber erscheinen meines wissens matro-
nennamen mit 7in des suffixes, niemals solche auf -eniae neben -enac;
dennoch werden die -henna, -ennia .^ -ene und -Äew«c - formen kur-
zerhand ohne jeden grund identificiert, damit sich — „beweisen"
lässt, „dass das h und die Verdoppelung des n im namen Baduhenna
unorganisch, nur vom römischen munde eingeschoben ist" usw. Will
man sich die werte behufs einer erklärung in solcher w^eise mund-
1) Solten diese — ich äussere das nur als eine gewagte Vermutung — dem Badu-
henna geopfert sein? Weder conßcerc noch die grosse zahl der getöteten erregt bedenken,
vgl. Weiuhold, Sitzgsber. d. kgl. preuss. akad. phil.-hist. cl. XXIX (1891), s. 564fgg.
10*
148 SIEBS
gerecht machen, so gibt man den ansprach auf, über die reichlich
vorhandene seit Jahrzehnten aufgespeicherte hypothesenlitteratur hinaus-
zul\ommen.
3) Darauf, dass bisweilen He7ine (ahd. Henno vgl. Graff, ahd.
Sprachschatz IV, 960) als mannesname erscheint, will ich kein gewicht
legen, weil hier auch andere etymologische zusammenhänge denkbar
sind. Ebenso sind die mannigfach auftretenden oi^tsnamen viie Henn-
hofcn, Hennau, Henndorf, Henneherg (vgl. Förstemann, Ortsn.^ 730
fgg.) nicht als sicheres material zu gebrauchen. Freilich fordern ja
namen wie Wodensherg, Gudensberg, Wodetisholte u. a. (Grimm, Myth.*
127 fgg.) zum vergleiche heraus, vor allem wenn sagenumwobene stat-
ten wie der Henneberg und der Heigraben in volkstümlicher Überlie-
ferung neben einander genant werden (vgl. Panzer, Beitr. z. d. myth. 1, 114).
4) Begreiflichei-weise braucht Henno nicht immer in der ursprüng-
lich ihm eigenen Wirksamkeit des todesgottes aufzutreten, sondern in
späterer zeit ist er völlig gleichbedeutend mit Wodan. Er ist, nach-
dem der uralte *Ti?vaz aus seiner stelle verdrängt ist, der himmels-
gott, der gott des neuerwachenden lichtes, des tages, des frühlings;
sein äuge ist die sonne. Dem neu erwachenden lichte ruft man ent-
gegen: ^^Heimil wache! '■'' He7inil aber ist diminutive koseform zu
Henno und dem sinne nach zu beurteilen wie die nordfries. anrede
des Wodan mit Wedke, Wedki {Yg\. Müllenhoff, Schleswig-holsteinisch -
lauenburgische sagen 167). In den märkischen sagen wird berichtet,
(Kuhn s. 330): „Ein alter förster aus Seeben bei Salzwedel erzählte
auch, dass man an diesen orten früher die gewohnheit gehabt habe,
an einem bestimten tage des Jahres einen bäum aus dem gemeinde-
walde zu holen, den im dorfe aufzurichten, darum zu tanzen und zu
rufen: Hcnnil, Hennil, wache!" Ich vermute, dass das am läng-
sten tage geschah in dem sinne, Hennil solle stets so früh und so
lange wachen, wie an jenem. Oder war es etwa ein ruf zur winter-
sonnwendzeit? Dafür möchte die vergleichung der gebrauche zur
zeit der zwölften {tvo'pelröd, im Saterlande, wovon ich demnächst be-
richten werde) mit einer erzählung des Ditmar von Merseburg
sprechen (zum jähre 1017). Sie lautet: ^/mdivi de quodam baeulo, in
cuius smnmitaie nianus erat, ununi in se fei'renm teneyis circulum,
quod cum pastore illius villae Silivellun (Selben), in quo is fuerat,
'per omnes domos has singulariter ductus, in primo infroiiu a porti-
tore suo sie salutaretur, ^^vigila Hennil, vigila!^'- sie enim rustica
vocabatur lingua, et epulantcs ibi delicate de eiusdem se tueri custodia
stnlti autumubani^'- . Die Zusammenstellung dieser rusticä linguä
BKITHÄGK ZT'R DF.UTRCHKX MYTHOLOGIE. T 149
gosproclieiu'ü wurte mit doin ungarischen hiijiKil und (Miicni slowakisch-
bölimiscluMi liirtongotto, wie Jakol) (iriiniu (Mytli. s. O^H) sie gegeben
hat, erscheint niif nnnitiglich; ich glaube, dass durch in(!ine deiitung
alle Zweifel gidtist sind. (I)ei' i'ut eiinneit an <his i'ilinische Mars rlfjiht I)
5) In niittelhechdiMitsehen (hnikniährn finden wir eine höchst
auttallige in tcn'jektien: ,J <'i licinic '. "^ die -lakub (iriniin (Deutsche
grainm. III, .'507) als ganz unerkliirbar be/eichnet. Altd. wiihler IJT,
208 heisst es: diu rlin'i sprach ,Ja J/cin/r.'^^ Das ist abei- niclits
anderes als „türwahr, l)ei Wödan!" So mag auch vielleicht iu der
Weiterbildung ,,yV/ l/c/n/n/hirc/ '•'■ eine altheidnisclie erinnerung an
einen totenberg (VaüioJI) liegen. Die werte er.scheinen in der Franen-
zueht, „Yen Sibot'' (von der Hagen, Gesamtabentener I, 52. 30). „,yV'",
i^pnicli si , .Jluniciihcrl:!^' und späterhin (50, 74) als antwort darauf:
„/rc/ isl m) inirir llemicubfrk?'''' Als eine blosse entstellung infolge
mangelnden Ycrständnisses ist das hanauische .^sjnih lioninici!'''' anzu-
sehen. Man kühlte geneigt sein, diese fUiclu^ direkt an ein Avort
hcniio = tod anzuknüpfen: flucht man doch auch ])oi uns „tod und
teufel!'' Dass Avir sie aber bis auf den deutschen gott zurückzuführen
haben, lehrt uns die in Niederhessen gebräuchliche interjektiou ^^gott
IIou/.c' '■^ Ptister im Nachtrag zu Vilmars Idiotikon (Marburg 1886)
s. 100) äussert sich darüber folgendermasson. ,,Gott Ilcinx', wofür in
Oberhessen allerdings auch cl du Ilcnnc! gehört Avird; nicht jedoch,
dieser mundart angemessen, ei du hl wird heute in mannigfachster
abstufung der gemütsbewegungen gebraucht: von ängstlichem klagen,
scheuem Ycrwundern bis zu trotzigem bedauern. Die Spaltung von
lunnic und In ist wichtig. Das mi'k'hte nun immerhin seine bewandnis
haben und Hesse etwa in allen graden doch an gekürztes: fulir hin,
fulirc CS (hil/iii! noch denken. Nun stellet sich aber jenem gott Ilennc
ebeuAVül ein gotl Henucberg zur seile, von dem man zunächst nicht
Aveiss, ol) es drei oder ZAvei Avörter seien. Was Aväre gott llcunchrrg?''^
Ob in dem l/l die oben besprochene mittelstufe '^hoi -\- -jau- sufhx
zu erkennen ist, bezAveifle ich.
6) „Am weg von A¥esterhausen nach Thale", so erzählen
Kuhn und ScliAvartz (Nordd. sagen s. 167. 481)), „hegt gleich hintei'm
dorf an einem mit saudsteinklippen überdeckten berg die Hinnemut-
terstubo, eine höhle in stein. Darin sizt die Hinnemutter, ein Avil-
des Aveib; aber Avie sie hineingekommen, Aveiss kein inensch. Einige
sagen zwar, sie sei nicht mehi- daiün; aher die kindei' Avissen das bes-
ser, denn wenn sie nicht artig sind, so sagt man: ,Avai't, dii' Hinne-
mutter Avird gleich kommen und dich holen!' und sie mögen noch
150 SIEBS
so unartig sein, das hilft gewiss". Die Hinnemutter ist natürlich
Fru Hinne, und diese verhält sich zu Henne gerade so wie Fru
Gode oder Frau Gaude, Fru Wode zu Wode (Grrimm, Myth. 209.
771 fgg.). Die Hinnenniutterhöhle ist also nichts anderes als der Wo-
densbery, d. h. der borg, in dem Wodan hauset. Wie bei dem erwähn-
ten Hermil und Wcdke, so finden wir auch hier die koseform belegt,
nämlich Hinniche. „In Tilleda am Kyffhäuser (vgl. Kuhn und Schwartz
a. a. 0. s. 395) sowie in der ganzen umgegend lässt man, nachdem
aller roggen abgemäht ist, eine garbe unabgemäht stehen. Die ähren
derselben werden darauf ungeknickt mit bunten bändern unterwärts
gebunden, so dass das ganze die gestalt einer puppe mit einem köpfe
bekomt, und nachdem diese fertig ist, springen alle der reihe nach
darüber fort; das nent man ^^üher schäinichen springe n,'"'- In
Hohlstedt sagt man ^^iiber schinnichen springen'-^ [übersch hinnichen
sp ringen '■'■ \ vgl. das altenburgische „e^V?e scheune bauen'-'-). In Butt-
städt hatte man bei der flachsernte" ähnliche gebrauche — also in allem
und jedem die Identität des Henno und Wodan. — Die vokalverschie-
denheit zwischen hainichen und hinnichen hat, Avie Avir unten sehen
werden, manche analogicn.
7) Auf Wodan weisen vermutlich züge einer mocklenbui--
gischen sage hin (vgl. Bartsch, Mecklenb. sagen I, 305). Sie handelt
von Otto von Plön, der bei Sülstorf hauste und als raubritter gehasst
und gefürchtet war. „Aber der bösewicht entgeht seiner strafe nicht.
Der hirte von Eieps, Häne, verriet es den von Schwerin kommen-
den feinden, dass der ritter auf seiner bürg sei und versprach ihnen,
sie in die bürg einzuführen; als lohn bedingt er sich aus „brot bis in
den tüd!" Und glücklich war der zug; die bürg wird erobert, Otto
erschlagen, die beiden söhne werden mit fortgeführt. Auch dem Ver-
räter wird wort gehalten: noch auf dem zuge wird er erhängt und
höhnend ihm zugernfen, nun habe er ja brot gehabt bis in den tod.
Auf dem Riepser felde stand eine alte eiche, daran ward er gehangen,
und das land heisst noch der Hänenbrook". Der hirte als Wegwei-
ser (Härbardsljöd str. 50. Skirnisf^r str. 11), das betteln um brod, das
erhängen (Odhin an der weltesche) — das alles sind Wodans in so vie-
len sagen widerkehrende züge; und da zu ihm gar noch der name
Häne stimt, ist mir die Identität wahrscheinlich.
8) An die wilde jagd klingt eine sage an, die Panzer (Beitr.
z. d. myth. I, 178, vgl. Mone's Anzeiger VII, 52) überliefert. „In dem
Schönstelwald zwischen Aufstetten und Strüth geht ein gespenst in
kalbsgestalt um, welches man das Hennekalb nennt. Einem Jäger,
BEITUÄGE ZUR DEUTSCHEN MYTHOLOGIE. I 151
der nachts (Uircli diesen wald gieiig-, sprang- es auf den rücken und
zwang ihn, es bis gegen morgen herumzutragen. Au dem ort, wo es
alsdann von ihm gewichen, Hess der Jäger einen stein setzen, worauf
er mit dem kalb auf dem rücken abgebildet, und der heute noch dort
zu sehen ist". Solche sagen sind mir sonst nicht von Wodan bckant,
wol aber ähnliches vom teufol. Der ritt weist im vorliegenden falle
auf den aus Ilcniio-Woda)! hervorgegangenen teufol hin; die kalbs-
gestalt, die beim teufel nichts auffälliges hat (vgl Kuhn und Schwartz
s. 204), scheint aus nichtgöttlichen elemeuten des lezteren hinzugekom-
men zu sein. Der name Hennekalb ist für die beziehung der sage
auf Wodan beweisend. — Zweifelhaft aber ist mir eine aus der Obor-
pfalz von Schönwerth (Sitten u. sagen a. d. Oberpf. Augsb. 1857. I, 272)
berichtete sage: Erdhennl sei ein todesbote, der unter dem stuben-
boden wohne. Wir haben hier eine der zahllosen sagen, in denen bahn
und henno eine bisiier unerklärte, wichtige rolle spielen. Ich bin über-
zeugt, dass viele auf eine alte kontamination des gottes- und tiernamens
zurückführen, die natürlich im einzelnen falle stets hypothese bleiben wird.
9) Dass die altheidnischen götter unter dem einflusse des christ-
lichen kultes zu unholden werden, ist eine bekante tatsache. Man
denke nur an das fränkische taufgelöbnis. Dass Wodan, der höchste
der heidnischen götter, mit der gestalt des teuf eis verschmilzt, lehren
uns manche züge und auch beinamen des teufeis (z. b. hellejager, Od-
diiicr vgl. Grimm, Myth. 851). So darf es uns nicht wundern, wenn
auch Henne als name des teufel s erscheint. In Agricola's Sprich-
wörtern (1560) 322'' heisst es: „er sihet eben, als hob er hohäpfel ges-
sen — -wie Henn der teufeV'-. Der teufel auch scheint gemeint zu
sein, Avenn ein vers lautet: ^^Hansl, Hans, Hennamist, Dcar de
alten Wciba frisxP'- (vgl. Frommann, Mundarten III, 316). In diesem
falle hat möglicherweise eine kontamination des na)is Mist, der bei
Brant und Muruer genant wird, mit dem Henne statgefunden. In Bruder
Hansens Marienliedern 3708 (Lexer, Mhd. hdwörterb. 1222) lesen wir:
„50 nioes der langeswanste heyn sin saget slaen ztvischen sin beijn''''.
10) Wir sind heute gewohnt, unter Hein den tod zu verstehen.
Niemals aber hätte, wie im oben erwähnten verse, der tod „laugge-
schwänzt" genant werden können: hier kann iieyn natürlich nur den
teufel bedeuten. Da nun in der älteren spräche heyn und henn,
wie wir gesehen haben, für den aus dem uralten todesgotte unter
durchgang durch Wodan entwickelten teufel gebraucht werden; und da
ferner, Avie Avir erweisen werden, henn und henne (vielfach auch als
kein hci)ie auftretend) bis auf unsere tage den tod bedeuten: so wer-
152 SIEBS
den wir nunmehr auch „freund Hein" gewiss nicht mehr als eine
im jähre 1774 gemachte erfindung des Matthias Claudius oder gar
als einen auf einen Hamburger arzt gemachten namenswitz ansehen
wollen. — Die form hein neben kenn und hann findet sich in dem
mecklenburgischen werte für „storch". Bartsch (Mecklenb. sagen H, 168)
bemerkt, der heisse in derPriegnitz und einem Ideinen teile von Mecklen-
burg Hainotte oder Hannotter, und in Stuck und Strass bei Eldena
heissen die aprilschauer Hannottcrsclnire. Danneil ("Wörterb. der altmär-
kisch-platd. mdart. Salzwedel 1859 s. 74) nent Hannotter und Hcinoiter
für storch. Der name ist sehr unsicher. Steht -otte, -otter für adcbar,
oder ist es, wie Ottey-ivehr (Grimm, Myth. nachti*. 193) vermuten Jässt,
nur das erste kompositionsglied des wertes äclehar? Und könte, wenn
ersteres der fall ist, in dem Hein-, Hann- eine erinnerung an die
sage liegen, dass die storche verAviesene menschen seien, dass tote in
Storchgestalt umgehen? (vgl. Kuhn und Schwartz 400; Kuhn, Westfäl.
sagen II, 69); oder ist er gar der' dem Henno heilige vogel?
11) Die bezeichnung des todes durch Henne hat sich in man-
chen gebieten unseres Vaterlandes bis auf den heutigen tag erhalten.
„In Augsburg spielt der Hennadon e eine grosse rolle (Birlinger,
seh wäb. - augsburg. wörterb,, München 1864, s. 227). Zum Heniia-
done heisst auf den gottesacker: ^^dean trägt ma7i xiim Hennadone^'- .
^^Znm Hcnnadone kommen'-^: sterben, wie in München zum St. Steffej
kommen, d. h. zum St. Stefan oder zu St. Christof, zu dessen bilde,
das an gottesackern , leichenhäusern angebracht war als mittel gegen
den gäben tod. Der Hennadone mag eine persönlichkeit gewesen sein,
die sich dort aufhielt. In A. gab es eine Stadtpersönlichkeit dieses
namens. Scheiffele (Gedd. in schwäb. mdart, Heilbronn 1863) „TFa«
alle Welt 's Laxiera haut und bald xnni Hennadone gauP''. 'm He?i-
nadone 's fueter liefrat'-'-. Birlinger hat das misverstanden. In He?in(a)
ist der begriff des todes enthalten; vielleicht haben wir Henn-adone
zu trennen und im zweiten teile St. Antonius zu erkennen; oder ist
Hennadone für Hennadode = gevatter Tod {dote pate) gesagt? Mög-
lich ist auch, dass Henna nicht mehr verstanden und durch ein wei-
teres wort {dode tod) erklärt ward.
12) Im Codex Heidelbergensis 341 bl. 370" wird folgendes
er/ählt. Einem ritter wird durch urteil des kaisers statt seiner längst
gestorbenen mutter ein altes Aveib, das ihn für ihren söhn ansieht,
als mutter zugesprochen. Als ihm alle entgegnungen nichts nützen,
sagt er: „woZ her, lieldu muoter min!
ir sult mir wiUekomen stn.
BEITI^'VGE ZUK DEUTSCIIEX MYTHOLOGIE. I 153
doch cnrriesch ich solher »ucre nie,
(ki% also lange ein vroiiicc ic
hincnpr/ten si gcfrescn
und aLsn,s niance jnr genesen.
si sol uns dcnnocJi sagen me
wie ex, in jener werlde sie'-'-.
Wackcrnagcl (Ztsclir. f. d. a. VI, 192) deutete das l/incnprihii als /////
en Priten „fern von hi(H' in Britannien" und be/üi^- sieh auf Prokop
(de b(>ll() (iotli. n'. 20). naeli dessen ani^-abo die seelen (]er vei"storl)pncn
von dt'r ncrdküste Galliens narli einer insel bei lirillia überi^-cfahren
^vürdeu. Aber es ist dueh undenkbar, dass diese vorstelluni;- plüt/lieli
im 18. jaiirhundert in solchem zusammenhange und in solcher form
auftauchen solte. Ein ritter des 13. Jahrhunderts solte in solchem
ernste der Situation dem glauben worto leihen, dass die toten in Eng-
land weilten! Und formell: wie kann das goiesoi jenem wirklichen
todo ontgegengestelt werden? Der ritter will auch gar nicht sagen, dass
die mutter ti»t gewesen sei, sondern „ /c/^ hörte noch nienidls, dn.ss
einer fron lörper so lange ro)t der seele liätte verlassen sei)i köniien'-^.
Es ist auch uohl nicht ohne bedeutung, dass es heisst ,^ei)/ vrouu-e'-'- \
denn dandt wird auf den algemein verbreiteten aberglauben von den
Maren oder Wiilridershot bezug genommen , bei denen die seele eine
Zeitlang den körper wie tiit zurücklässt und die gestalt eines anderen
Wesens annimt. A^on diesem aberglauben an die Hinnenb ritten han-
delt Schmeller (Bair. wortei'b. I, 372. llLs. II, 103S), ohne den namen
jichtig zu verstehen. In bruder Berchtolts predigten (Codex germ.
Monac. 1119 bl. 30"'') heisst es: ,,.... die da glanbcnt an periehien
mit der eisinin ra/scn, (rn. l/erodiadis und an dgatui die haid/u'sehen.
göttin (an pilhis, an. die peg nacht rarent. an die he a pretigen . an.
ehroten, an alpen . an elben und an u:a\ srjgleielu'r cltranchait und
ungelmdjcns ist)'-'-:. Cod. germ. -ITö bl. 2*' „cy;? die ruiciit raren., an die
pilu-eiscn , an die hg imepritten, an dg traten, an dg scliretlen, an
dg unhulden, an u-cru-olf, an den alp oder u-a-. solichs ujtgelauhens
/6-^"; Cod. germ. 269 bl. ^ hat statt dessen ^^hennpredigoi^'-; Cod.
germ. 4594 bl. 15 .^Ju'nuirtigcii'-^; Cod. germ. 4591 bl. 121'' „an
die J/an tiper (dieses Avort ausgestrichen) jyrcdigen. Das prittoi,
britten. predigoi erklärt Grimm als „entrückt, verzückt", vgl. ahd.
irprottan zu brettan. „Es ist der zustand jener ekstase, wenn der leib
in starrem schlafe liegt", der zustand, wie er auf das genaueste beim
gestaltAvechsel Odins in der Ynglingasaga cap. 7 beschrieben wird. In
dem ^Jiinnc'-'- wolte Schmeller „von hinnen" erkennen, doch wider-
154 SIEBS
sprechen dem die genanten e-, n- und ?/- formen (vgl. auch „/y< liün-
nebrüdefi gelegen'"'' in Lachmanns Niederrhein, gedd. s. 9). Wir haben
in hinne, hen, hynne den begriff des todes zu sehen: hinnepritten
sind die durch den tod entrückten seelen, welche andere gestalt
angenommen haben und Avie Maren, Alben oder Wälridersken einher-
fahren — gegenstände des zu bekämpfenden Unglaubens. Der aus-
druck ^JiinnehrittencV'- (vgl. Grimm, Wörterb. IV, 2. 1457) Avard spä-
terhin nicht mehr verstanden und durch y^kinbrüten^'- ersezt.
13) Das wort kenne, hene in der bedeutung „tod" linden wir
im deutschen mehrfach, auch ohne dass eine Personifikation ersiclitlich
ist. Der Avechsel ZAvischen heniie und hinne fährt zum teil auf alte
nebeuformen zurück, zum teil erklärt er sich durch mundartliche laut-
verhältnisse, wie auch kenne und hinne = gallina vorkomt. Die
öfters belegte form heln- mag, wenn sie im neuhochd. erscheint, auf
älteres z, das in offener silbe dehnung erfahren hatte, zurückAveisen
(vgl. auch Hinenberg bei Frischbier I, 290); in den meisten fällen aber
ist das ei als mundartliche Weiterbildung eines älteren e oder durch
volksctymologische anlehnung des nicht mehr verstandenen kenne an
vorhandene begriffe zu deuten. Ein in sächsischen und friesischen
landen verbreitetes Avort ist Jienneklcd totenkleid. Es lautet im mit-
telniederd. kenen- oder kenneldet (Schiller- Lübben, Mnd. Avörterb. II,
239), und sein erster bestandteil kehrt im platdeutschen text der Em-
sigoer rechtsquellen Avider (Richthofen, Fries, rechtsquellen 206, 12):
„ Van testametiten. Waer eyn man oftc wyf calt up oer kenbedde
in koer kranclikeyt, ende man den preester kaelt'" usw. Es bedeutet
hier ,, totenbett". Ich Aveise das gleiche Avort auch dem fries. texte
zu, dessen Schreiber es nicht vorstanden und klcnbcd daraus gemacht
hatte: ^^Hiversd en mon iefta en wlf uppa tket Jienbed fall and ikene
papa kalatk'-'- usav. (ebenda). Strodtmann (Idioticon Osnabrugense) bie-
tet für totenkleid keinenldeed und kemdelieed. Auch erscheint kennekosf
„todeskost, abendmahl". — Das Avort kenne in der bedeutung „mör-
der" scheint ferner in dem namen desHeJinarsknugJt auf Amrum enthalten
zu sein. Bei Johansen (die nordfries. spräche, IueI1862, s. 231 fgg.) Avird
die sage von der ermordung des königs Abel erzälüt, und da heisst es:
„Wessel Hummer, auch Henner der Friese genant, als landsmann ein
PelAvornier, seines handAverks ein rademacher, hatte sich hinter der
brücke verborgen , vertrat dem könige den Aveg und spaltete ihm den köpf
mit der axt Als fischer und küstenfahrer fing er nun an, sein brod
zu crAverboii; bald s.ah man sein fahrzeug im Avatt, bald ihn selbst auf
Hennerslioog, er war unstät und friedlos, ob ihn gleich niemand jagte"
BKITRÄGE ZUR DKtJTSCHEN MYTHOLOGIE. I 155
USW. Hemier (aus Jictine unter anfüguug des -er der nomina agentis
gebildet) ist nur der beiname jenes niannes und bedeutet ,, niörder".
14) Neben diesen formen nun finden wir auch die form der
tiefstufe germ. liiui mehrfach belegt, z. b. liimneiikkl (Drenthe), hu7i-
ncclcdc (Nordfriesland, s. Outzen's w()rterb.). Wie Avir es von der tief-
stiife zu erwarten haben, bedeutete alid. *hHHO nicht sowol tod im
aktiven sinne wie das nomen agentis '^Jieinto, sondern „der tote".
Daher bezeiclniet Jmniicl)cdde nichts anderes als „totenbett, grab-
stätte". Dass späterhin die tiefstufe der germ. ^|hen mit der gleich-
lautenden tiefstufo der germ. fheun gleichgestelt und unser Itun- als
zu linn klun gehörig empfunden ward, ist begreiflich: daher die aus-
drücke hünenbett, heuneubett, heunenkleid (Stürenburg, Ostfrs.
wörterb.), die zu so vielen misverständnissen anlass gegeben haben.
15) HiDie bedeutet in älterer spräche „der tote". In einem
Braunschweiger testamente von 1398 heisst es: „OA: ghcve ek to
S. Martoie Y2 i^ici^'k to den huiieii''". Ich glaube, das meint: „den
armen seelen". Übrigens wird auch die tiefstufenform Hüne als name
des personificierten todes gebraucht. Kuhn (Mark, sagen XII) sagt:
„Erwähnenswert ist noch, dass in einer altmärkischen schulweihepre-
digt (s. Pohlmanu und Stöpel, Geschichte von Tangermünde s. 293)
den hartherzigen gedroht wird, sie würden doch zulezt alles Hans
Hünen überlassen müssen. Offenbar ist das ein name des todes, der
als hüne, riese wie der lange mann in der mordgasse zu Hof (Grimm,
D. sagen nr. 167) erscheint; ist daraus vielleicht der bei Claudius zu-
erst auftretende fremid Hein (zunächst also hochdeutsch Hanne, Heim)
entstanden?" Lezteres habe ich bereits unter 10) klargestelt.
16) Aus der soeben genanten bezeichnung Hans Hüne sowie aus
dem Hans, Hansl, Hennamist {vgl. unter 9) ist ersichtlich, dass ge-
bräuchliche namen wie Hans, Heinrich u. a. auch abstrakten begriffen
beigelegt werden. Ebenso ist ja bekant, dass sie leicht in appellativa
übergehen, z. b. Jan und alle nmnn, Hinz und Kunz. Unter die-
sem gesichtspunkte ist es gewagt, in werten, die allerdings auf den
namen Henna, Hano zurückzuführen scheinen, bei denen jedoch die
beziehung zu Johann, Hans, Hei^irich nicht ausgeschlossen ist, eine
erinnerung an Wodan zu sehen. Der volständigkeit halber führe ich
eine grössere zahl solcher benennungen an, überlasse aber den lesern
<lie beurteilung völlig. In Bremen redet man von Hannke in der
nood; das Bremer wörterb. I, 591 sagt: .^.^Hannke ist ein Avort, das
viel im gebrauch, dessen bedeutung aber unbekant ist. Hannke in
der nood ein nothelfer, einer dessen hülfe man sich nur aus not bedie-
156 SIEBS
not, weil man keinen besseren hat". Ähnlich ist das hambiirg-ische
(Richey, Idiot. Hamburg, s. 93) ^^He7ineke vor allen holen'"'' zu beur-
teilen d. h. ein mensch, der aus vorwitz hinter allem her ist, vgl-
holsteinisch ^^Hintz vor alle hÖgc^\ unser ^,Hans in allen gassen^''.
Es wird vom ^^starken Heji^ieV" erzählt sowol als vom starken Hans
(Grimm, Myth. nachtr. 223); im niederländ. findet sich ,, Henneken
Alleman'-'' neben „Jr«? Allemann^'-. Das leztere würde ich hier gar nicht
erwähnt haben, wenn nicht auch ndl. Jan hen vorläge, eine komposi-
tion, die doch hen als nicht mit Hans zusammenhängend erweist. Mir
ist nicht unwahrscheinlich, dass Henno in christlicher zeit zu einem
schimpf- und spotnamen herabgesunken ist. In mittelniederd.
spräche bedeutet kenne einen narren. Kaysersberg sagt in der pre-
digt über das narrenschüf: ^^Der, ivelcher gott straft, der heisst Henn
von Narre)ihcrg'-^ . Ebenso ist nach Oudemans, Bijdrage tot een middel-
en oudnederlandsch Woordenboek (Arnhem 1872. III, 29) im ndl.
Hanne = \di^Q vent, hoorndrager,'Jan hen; ebenda s. 92: heiine he7i-
nen scholdnaam, Jan hen, onnoezele bloed. Und die gleiche erschei-
nung bieten lebende mundarten. In den tirolischen nachtragen zu
Schmellers Bayr. wörterb. wird henn als Schimpfname augeführt (From-
mann, Mdarten VI, 149), furchthcnyi, clerfrorne henn; herineler ist
foigling. Höfer (Österr. wörterb. II, 27) bemerkt: he)ipärl (söhn der
Henne; ^jf//'Z = barn ist aber wol kaum glaublich), hjenperl ein Schimpf-
wort, wodurch ein feiger und verzagter mensch verstanden wird. Vil-
niar kent (Idiot. 164) in Hessen: henn ein alberner mensch, schmä-
hende, sehr übliche oberhessische bezeichnung; dazu Pfister (Nachtrag
s. 100): „heute gilt kenne in Oberhessen als bezeichnung eines tropfes".
Er zweifelt, ob das wort = gallina, oder ob es aus Hans oder Hein-
rich abzuleiten sei. Ich habe diese dinge — das betone ich noch-
mals — nur der volständigkeit halber angeführt: ich halte hier
zum teil eine beziehung zu dem namen des deutschen gottes für
möglich, aber für unerweisbar.
Auffällig mag erscheinen, dass ich das englische und nordische
nicht erwähnt habe. In dem wertschätze dieser sprachen und in der
höheren mythologie habe ich keine anknüpfnng an Henno gefunden;
ältere orts- und personennamen habe ich grundsätzlich aus dem spiel
gelassen, um der hypothese nicht zu viel räum zu geben; die eng-
lischen und neunordischen ortssagen mögen manches bieten, doch sind
sie mir leider nicht zugänglich.
Ich glaube aber durch das gebotene hinlänglich erwiesen zu haben,
dass die Deutschen zu Tacitus' zeit den todesgott germ.
T'APrKNirKIM, OANGA UNDIR .lAKDARMRN 157
(C) TTanj('("^ =- Mci-cui'l iis vorohrtoii; dnss dieser nnmo aus
iiussoroii und auch ;ius inneren i^ründen grösseren nnsprucli
darauf hat, \'ür den /u jener zeit gebräuchlichen nanieii des
giittes zu gelten, ;i 1 s der erst sj)ät erscheinende naiiK; ]Vn(l(/-
i///\; dass sich die erinnerung an d(Mi luuiioii des gott(!s im
Volke I)is auf unsere tag-e bewahrt hat.
GinorFSWALD, MAI 1S!»1. TIIKODOK' S[EI!S.
ZUM CtANGA ttndtr jarbarmen.
In seiner g<*haltv(>llen uiul anregenden abhcandluug' über den lap-
|)eid);iinn (kludetra'ct) in 1x1. I der Üania, tidskrift for fulkemal og fol-
keminder ( K'ejx'idiagen 1S90) gelangt Kristoffer Nyrop auch zur
besprechung des altiioi'dischen ganges unter den rasen streiten. Er
schliesst sich der von inir (Die altdiinischen sehutzgilden s. 21 fg-g.)
gegebenen deutung desselben insofern an, als auch er darin die sym-
bolische darstellung eines geburtsaktes erblickt, l)ei welchem die erde
als mutter, der unter (]Qn rasenbogen gegaugene als im nuitterleibe
befindlich erscheint. Im übrigen aber weicht Nyrops ansieht erheblich
von der meinigen ab.
Walirend ich den gang under den raseustreifen in engste bczie-
hung zu der eingehung der blutsbrüderschaft (dem sverjask i fosfhnf-
(?/■(/!(/(/) setzen und ihn im einklang mit der blutsvermischung und dem
verbrüderungseide als symbolischen ausdruclc der unter den künftigen
f6stbr(f(lr zu schaffenden verwantschaft verstehen zu müssen glaubte
und glaube, erblickt Nyrop in der symbolischen widergeburt „wesent-
lich" „eine geistige (oder leibliche) reinigungsceremonie". „Dies ver-
trägt sich ja", meint er (a. a. o. s. 25), „vortroflich mit der anwendung
des brauchs bei eingehung einer blutsbrüderschaft; erst reinigten sich
die betreffenden von allen Sünden des früheren lebens, darnach misch-
ten sie ihr blut, wurden blutsbrüder, und endlich legten sie den feier-
lichen eid ab". Also nicht um auch äusserlich als im leibe einer
mutter befindliche brüder zu erscheinen, sondern um durch eine wider-
geburt gereinigt ein neues leben zu beginnen, unterziehen sich die
künftigen l)lutsbrüder der symbolischen darstellung des geburtsaktes. Es
erhelt, dass bei dieser auffassung der gang unter den rasenstreifen
nicht in einer inneren bezieh ung zur eingehung der blutsbrüdei-schaft
steht. Denn wenn auch der lezteren die reinigung der beteiligten
durch widergeburt vorangehen könte, so würde doch eine solche rei-
nigung auch in vielen anderen fällen als geboten oder erwünscht
158 PAPPENHEIM
erschienen sein. In der tat begegnet ja auch bekantlich das ganga
undir jaräarme7i noch in zwiefacher anwendung im altnordischen leben,
einmal in der Verwendung behufs gewinnung eines gottesurteils (Laxdeela
c. 18; s. meine Schutzgilden s. 23 fgg.), sodann als eine demütigende
art der busseleistung (Vatnsdtxila c. 33; s. Schutzgilden s. 25 fg.)i. In
beiden fällen erblickt Nyrop in dem ganga u. j. eine reinigung durch
widergeburt, deren eigentliche bedeutung jedoch bereits zu der zeit,
wo die betreffenden Vorgänge spielten, in Vergessenheit geraten war.
Nyrop versucht also widerum wie Jakob Grimm und Konrad Maurer
eine einheitliche erklär ung des ganges unter den rasenstreifen in sei-
nen verschiedenen anwendungsfällen , während wir unsererseits eine
nachträgliche Übertragung des brauches von dem sverjask i fösthroeära-
lag auf die anderen fälle annehmen musten, eine Übertragung, bei
welcher der eigentliche gedanke jenes symbolischen aktes nicht zur
Verwendung gelangen konte.
Die ursprüngliche bedeutung des brauches glaubt Nyrop (s. 26)
aus der Yatusda^la entnehmen zu können. „Hier wird ja hervorgeho-
ben, dass der brauch geübt wurde, wenn man eine missetat begangen
hatte, und hierunter kann wol nur verstanden werden, dass man ein
neuer mensch werden soll, dadurch dass man sich von seiner Übeltat
reinigen und dieselbe sühnen soll". Allein Nyrop selbst muss anerken-
nen, dass aus dem berichte der Yatnsdsela derartiges nicht mehr her-
auszulesen ist. Er betont, die ursprüngliche bedeutung des brauches
sei hier ganz vergessen, indem derselbe als eine demütigende handlung
aufgefasst werde, „da man sich ja bücken muss, um unter die erd-
streifen zu gehen"'-. Unter diesen umständen kann unseres erachtens
nur versucht werden, die erzählung der Vatnsdeela mit den berichten
über die sonstige anwendung des ganga u. j. zu vereinigen, aber nicht,
aus ihr die eigentliche erklärung des lezteren zu gewinnen.
Ganz ebenso verhält es sich mit der Verwendung des ganga n. j.
im dienste des gottesurteils, von welcher die Laxdfela berichtet. Auch
hier orkent Nyrop an, dass zur zeit der niederschreibung der sage
der brauch „ganz veraltet und ziemlich verwischt" war. „Ursprüng-
lich ist das Verhältnis wol das gewesen, dass, wenn einem manne
1) Über das (/mn/a undir jaränrmen iu der Njala s. Schutzgilden s. .35 note 1.
Die behauptung von G. Daist (Der gerichtliche Zweikampf nach seinem Ursprung
und im Rolandslied s. 7 note 2 des sep.-abdr.), der dem Skapti füroddsson von Skarp-
iijedin geniaclite Vorwurf sei von mir mis verstanden, ist zu wenig substanziiert, um
eine Widerlegung möglich oder nötig zu machen.
2) S. dazu Schutzgilden s. 34 fg.
OAXGA UNDIR .TARDARMEN 159
niclit auf sein wort gog-laubt wurde, er seine aussage mittelst einer
feierlichen Versicherung bekräftigen solte, aber bevor diese abgegeben
wurde, muste er „unter den rasenbogen gehen"! d. h. von seinen Sün-
den gereinigt werden; denn natürlich muss die Versicherung eines sün-
denfreien menschen zuverlässiger als diejenige sein, welche von einem
sündigen menschen abgegeben wird". Für die zeit der Laxda^la
bemerkt Kyrop, dass nicht dieser gedanke massgebend war, sondern
der, dass man „in dem Zusammenbruch des erdstreifens eine äusse-
rung der misbilligung seitens der götter erblickte"^. Demnach kann
jene ausser ung über die vermutlich ursprüngliche auffassung ebenfals
nicht aus der LaxdcTla selbst begründet werden. Sie stelt vielmehr
nur einen versuch dar, den bericht der lezteren mit einer anderweitig
gewonnenen ansieht über die bedeutung des (janga undir jaräarmen
zu vereinigen.
Obwol demnach Nyrop den gang unter den rasenstreifen in sei-
nen verschiedenen anwendungsfällen auf einen und denselben grund-
gedanken zurückführen v^dll, bleibt doch auch für ihn die eingehung
der blutsbrüderschaft der einzige fall, in welchem jener gedanke noch
direkt quellenmässig erkenbar sein soll. Aber vergeblich sehen wir
uns in dem hier keineswegs spärlichen material nach irgend welchen
spuren um, w^elche auf die auffassung des gcmga iL. j. als einer rei-
nigungsceremonie hindeuteten. Nyrop hat, Avie schon angeführt, eine
solche als vortreüich verträglich mit der eingehung einer blutsbrüder-
schaft bezeichnet. Allein mit welcher wichtigen, zumal mit welcher
für die persönliche Stellung der beteiligten personen wichtigen, feier-
lichen rechtshandlung wäre der gedanke einer vorgäugigen reinigungs-
ceremonie nicht veiiräglich? Warum hätte er sich gleichwol nur eben
l)ei der eingehung der blutsbrüderschaft, nicht auch z. b. bei adoption
und legitimation , bei eheschliessung und freilassung^ in jener eigen-
artigen gestalt anerkennung zu verschaffen gewusst? Dies scheint doch
mit entschiedenheit darauf hinzudeuten, dass wir es hier nicht mit
einem der blutsbrüderscliaft entnommenen und deshalb ursprünglich
auf sie beschränkten gedanken und seiner symbolischen darstellung zu
tun haben ^.
1) S. Schutzgilden ,33 fg.
2) Diese käme hier um so mein- in betracht, als sich bekautlich im altgerma-
nischen rechte die auffassung der volfreiLassung als einer widorgoburt tatsächlich
nachweisen lässt. Vgl. Pappenheini, Lauuegild und Oarethinx s. 44 fg.
8) Das einzige den quellen entnommene positive avgument Nyrops für seine
ansieht wird alsbald zu würdigen sein.
160 PAPPENHEIM, GANCtA Vi^mn JARDARMEN
Wie Nyrop selbst hervorhebt \ muss die von ihm angenommene
reinigungsceremonie als der abschliessung der blutsbrüderschaft voran-
gehend gedacht werden. Denn mit dieser lezteren soll ja für die von
ihren sünden gereinigten ein neues leben beginnen. Dazu stimt aber
der formalismus des sverjask i föstbrmäralag durchaus nicht. Aus den
quellen ergibt sich, dass die blutsvermischung und die eidesleistung
unter dem rasenbogen von den in die grübe getretenen vorgenommen
wird. In dem augenblick, wo beide statfinden, ist demnach der akt
der widergeburt noch nicht vollendet. Denn hierzu gehört — und
dies kann naturgemäss auch in der symbolischen darstellung nicht
entbehrt werden — , dass ein austreten des betreffenden aus dem mut-
terleibe statgefunden habe 2. Dieses erfolgt in unserm falle durch das
heraustreten der zu brüdern gewordenen aus der grübe; so lange sie
in derselben sind, erscheinen sie als im mutterleibe befindlich. Dem-
nach ergibt sich, wenn Nyrops auffassung der widergeburt als einer
reinigungsceremonie angenommen' wird , dass die leztere , die doch an-
geblich der eingehung der blutsbrüderschaft vorangehen soll, in Wahr-
heit erst auf dieselbe folgt. Durch die beruf ung auf die Schilderung
des sverjask i fostbroeäralag , wie sie die I'orsteins saga Vikingssonar
enthält, scheint uns Nyrop seine Stellung nicht gefestigt zu haben. Er
meint (s. 25)'', dort werde erst die blutceremonie und darnach der gang
unter den erdstreifen erwähnt und erblickt in dieser anordnung eine
hindeutung darauf, „dass der brauch als eine reinigungsceremonie auf-
gefasst werden muss, der man sich unterwirft, bevor der eid geleistet
wird". Aber einmal ist der bericht jener sage, wie schon anderweitig^
hervorgehoben, nicht zuverlässig, dann aber sagt er ausdrücklich, dass
auch hier der eid von den noch in der grübe stehenden, d. h. also
noch nicht widergeborenen geleistet wurde ^. Endlich ist nicht zu
erkennen, wie es für und nicht vielmehr gegen Nyrops auffassung
sprechen solte, wenn die durch blutsvermischung und eidesleistung
erfolgende scliaffung der bruderschaft zu einem teile nicht nur vor dem
abschluss, sondern sogar vor dem beginn der ihre Vorbereitung bilden-
den „reinigungsceremonie" statfände.
Lässt sich demnach der uns überlieferte ritus des sverjask i föst-
1) S. oben s. 157.
2) Das bestätigen die sämtlichen von Nyrop selbst beigebrachten beispicle wirk-
lich(}r Verwendung der syinbolisehen widergeburt im dienste ceremonieller reinigung.
?>) Dies das oben s. 159 note 3 erwähnte argument.
4) Schutzgilden s. 81.
5) Verba: qciniii iiudir jaräfirmm nk snrv pnr ciäa (rorst. s. Vikgssnr.
c. 21).
.lElTTKI.KS, ZUM srin.'CII VON DKN ZKIl^f AI.TKliSSTTJFKN 161
hnnh-dldji mit der erklänini;' dos (jniiga /nulir jaräanncn als einer zu
V(ti;i;iiiii;iycr cei-eniunicllor reiniguui;- bestiinten wi(lorii,-eburt nicht in ein-
klang- s(>tzen, so g'estaltot sicli alles auf das eintaehste, wenn man in
dem i;ani;- unter den rasenstreif'en leilii^licli di(! darstelhnii; dos
zur künstlichen Schaffung- von hrüdcrn dienenden gehurts-
aktes erblickt. Der gesamte formalismus des srcrjdsk l fo^tbnvdnihHj
erscheint dann in seinen drei bestandtoih'n als von demselben gcdan-
kcn boherscht. Di«^ blutsvermischung dient der künstlichen hcrstollung
der l)lutsgemeinscliaft, die eideslcistung bietet die feierliche und ver-
bindende form für die erklärung <W'^ auf Schaffung eines brüderlichen
Verhältnisses gerichteten willens. iJeide finden statt, während die kiiid-
tigen Schwurbrüder als gemeinsam im mutterleibe weilend dargestclt
werden. Als fremde schreiten sie unter den rasenstreifen; aber nicht
früher verlassen sie die grübe, als bis jene übrigen handlungen vor-
genonunen worden sind und sie nun als brüder wider geboren werden
können. So erklärt es sich nicht nur, sondern erscheint es als not-
wendig, dass das (j(nt(ja uiuUr jdrildiiiioi die übrigen teile des ganzen
formalismus in sich einschliesst, wiihrend es nach Nyrops auffassung
denselben voranzugehen hätte.
KIEL. MAX PAl'PENHEIM.
ZUM SPEUCH VON DEN ZEHN ALTEESSTÜFEN DES
MENSCHEN.
I.
In der in bd. XXHI, 385 fgg. dieser Zeitschrift enthaltenen nach-
gelassenen al)handlung Z achers über die sprichwörtliche und bildliche
bezeichnung der zehn altersstufen des menschen hat der lierausgeber,
herr E. Matthias, eine fassung des bezüglichen Spruches unerwähnt
gelassen, die von mir in der „Grermania" XX, 30 veröffentlicht wurde
und wegen ihrer eigenartigen form meines erachtens besondere berück-
sichtigung verdient. Ich glaul)e daher im Interesse der loser der Zeit-
schrift zu handeln, wenn ich sie hier widerhole vuid ihr Verhältnis zu
den von Zacher gesanmielten kurz bespreche. Sie steht auf dem vor-
setzldatte des der Grazer Universitätsbibliothek gehörigen exemplars von
Paniphilus Gengenbachs ,,Die zehen alter der weit". S. 1. 1534. 8 und
lautet:
Die x,elicn alter.
Zehen jdr ein kiitt,
xwainxig jar iviz und si/f.,
ZKITSCHRIFT F. DEUTSCHE PHILOLOGIE. BD. XXIV. H
162 JEITTELES
dreissig jar ein erwagsener man,
vierzig jar luol gethan,
funffxig ja?^ stille stan,
sechzig jar ein iveiser man,
sihentxig jar widter ahe lan,
achtzig jar an khruckhen gan,
ncimtxig jar der khinter spott,
Clin hundtert jar genadt dier gott.
Wie man sieht, ist die form eine von sämtlichen bei Zacher -Matthias
angeführten Versionen mehrfach verschiedene. Für die 2. und 6. — 8.
altersstufe werden originelle, aber höchst bezeichnende schlagworte ge-
wählt: statt „Jüngling" ist iviz iiiid sin, wovor vielleicht ^^volV- zu
ergänzen, gebraucht; statt „abgan" oder „geht das alter an": ein wei-
ser man; statt „ein greis" — „aus der weis" oder „nimmer weis"
mit den bezüglichen Varianten: -tvider abe lan ■ — an hrucken gan.
Die für das zweite jahrzehent bestirnte formel klingt an die unter den
allegorischen darstellungen des spruchs in der Münchener handschrift
(Zacher a. a. o. 404) begegnende verderbte und unverständliche textie-
rung „er von kainer tvicz halt'''' an, obwol sie das gegenteil davon
auszusprechen scheint. Ebenso befindet sich der der 8. altersstufe ent-
sprechende ausdruck „an krucken gan" mit den bildlichen darstellun-
gen der lebensalter in Übereinstimmung.
Allerdings fragt es sich, ob durch die für die 6. und 7. alters-
stufe gewählten ausdrücke die anschauung von dem auf- und absteigen
der lebensbahn, die, wie Zacher gewiss mit recht annimt, dem Spruche
zu gründe liegt, nicht verrückt und die betreffenden verse etwa unter
einander vertauscht sind. Doch ist das wol nur scheinbar, denn auch
die vorliegende form gibt einen guten, mit jener ursprünglichen auf-
fassung übereinstimmenden sinn: wenn man nämlich annimt, dass mit
dem beginn des 60. Jahres der mensch gewissermassen auf dem liöhe-
punkte der gewonnenen lebens Weisheit angelangt ist, während auf der
nächsten altersstufe durch das auftreten von gebrechen und Schwach-
heiten widerum ein sinken von der erstiegenen höhe bomerkliar wird.
Eine Steigerung der im 7. vers angedeuteten abnähme der kräfte wird
dann durch das für die 8. stufe gebrauchte bild „an krucken gan" in
sinfälliger weise ausgedrückt.
Diese auffassung gewint an Wahrscheinlichkeit, wenn man die in
vielen Versionen für die jähre 70 — 80 gebrauchte textgestaltung mit
den ausdrücken „ein greis — nimmer weis" in betraclit zieht, wovon
ZUM SPRUCH VON DEN ZEHN ANTERSSTUFEN 163
(lor erste den eintritt des verfals der körperlichen kräfte bezeichnet,
der andere nur so verstanden werden kann, dass die im 60. jähre
erreichte und bis zum 70. jalire behauptete lebensweislieit wider abnimt.
Nach der vorliegenden fassung- des Spruches wäre mithin für den stil-
stand der erreichten volkraft ein Zeitraum von zwei Jahrzehnten, das
50. — 70. lebensjahr, bemessen.
Ob der spruch in der so beschaffenen form algemeinere geltung
hatte, steht freilich dahin. Auch mir scheint die ursprüngliche gestalt
des Spruches ungefähr die zu sein, die Zacher XXIII, 401 nach mut-
masslicher annähme ansezt; nur will mir nicht einleuchten, dass die
bloss einmal belegte unlebendige und mehrdeutige formel aus der
weise das richtige treffen soll. Die anschauung, dass auf der einen
Seite Jugend und torlieit, auf der andern alter und Weisheit synony-
misierend zusammengefasst wird, wohnt meiner ansieht nach unserem
Spruche keineswegs inne^; denn in den allegorisclien darstellungen und
bildern sind zwar für das knaben- und Jünglingsalter kitz, kalb und
bock, hingegen für die eigentlichen mannesjahre stier, löwe, fuchs,
tiere, die doch nichts weniger denn als sinbilder der torheit gelten
können, und für die beiden lezten altersstufen esel und gans, die doch
gewiss nicht im geruche der Weisheit stehen, typisch angewendet.
Wahrscheinlicher erscheint mir die annähme, dass für das 80. jähr die
formel nimmer weis als die am häufigsten vorkommende ursprüng-
lich gegolten hat oder dass sie wenigstens neben der formel aus der
weise gleichberechtigt einhergieng. In der im heutigen volksmund
gangbaren gestaltung des noch allenthalben, insbesondere auch in Öster-
reich, ungemein verbreiteten Spruches hat sie dann dem ausdruck
seh nee weiss grossenteils platz gemacht. Für diesen scheint ein älte-
rer, aus früheren Jahrhunderten stammender beleg in der tat nicht
zu bestehen. Aus diesem gründe (kaum aber wegen der reimbedenken,
die Zacher s. 399 geltend macht) verbietet sich die annähme der
ursprünglichkeit dieser formel; denn dass der spruch wirklich bis ins
13. Jahrhundert hinaufgerückt werden müsse, dafür dürften sichere
anhaltspunkte vorerst wol schwerlich gefunden werden.
WIEN. ADALB. JEITTELES.
1) Wfickeriiagel, dessen Schrift „Die lebensalter " für diese auffassung von
Zacher angezogen wird, spricht an der betreffenden stelle (s. 1.3) nur im algemeinen
von der in der spräche und littoratur geltenden identität von alter und Weisheit,
Jugend und unerfahrenheit.
11^
164
LKWY
II.
In band XXIII s. 385 fgg. dieser Zeitschrift steht eine lehrreiche
abhandlung- „Die zehn altersstufen des menschen" aus dem nachhisse
von Julius Zacher, für deren veröjffentlichung dem herausgeber E. Mat-
thias dank gebührt.
Zu dem Spruche finde ich dem Inhalt wie der form nach ein
merkwürdiges seitenstück aus viel früherer zeit in der Mischna, dem
älteren, um 200 n. Chr. niedergeschriebenen teile des Talmud, und zwar
in einem satze des Jchuda ben Tema, welcher in dem ethischen trak-
tat Ablioth (V, 21) enthalten ist. Ich stelle denselben zur vergleichung
neben die von J. Zacher zeitschr. XXIII, 401 erschlossene ursprüng-
liche fassung des deutschen Spruches,
fünfjährig: zur Bibel.
zehnjährig: zur Mischna.
dreizehnjährig: zu den geboten. -
fünfzehnjährig: zum Talmud,
achtzehnjährig: zur hochzeit.
zwanzigjährig: zum streben,
dreissigj ährig: zur kraft,
vierzigjährig: zum verstände,
fünfzigjährig: zum rate,
sechzigjährig: zum alter,
siebzigjährig: zum greisenalter.
achtzigjährig: zum mächtigen alter,
neunzigjährig: zum bücken,
hundertjährig: wie tot und hinüber
und aus der weit entschwunden.
tehen jär: ein ki/nt.
'xweinxec jär: ein jungelmc.
dris,ec jär: ein man.
vierxec jär: wol getan.
vü?ifzec jär: stille stän.
sehxec jär: abe (jän.
sibenzee jär: ein grise.
ahtxec jär: üs, der ivise.
niunxec jär: der kinder spot.
hundert jär: genädc got!
Der hebräische spruch bietet einige Zwischenstufen, welche in dem
deutschen sich nicht finden und auch nicht finden können, weil sie auf
eigentümlichen altjüdischen anschauungen beruhen. Die Verschiedenheit
beim 10. jähre kann danach nicht auffallen. Beim 20. und 80. jähre
zeigt sich Übereinstimmung; ebenso beim 40., da ivol getan bereits
richtig erklärt ist = „steht jezt in der ganzen fülle seiner körperlichen
und geistigen kraft". Beim 50. bietet der hebräische spruch etwas
neues, nämlich die erfahrung, welche zum raten befähigt. Beim 60.
und 70. herscht wider Übereinstimmung; ebenso in beachtenswerterweise
beim 80. jähre, wo die deutung von üs, der ivise auf ein seltenes und
ungewöhnliclies alter durch den hebräischen spruch bestätigt wird, der
geflissentlich das in Psalm 90 v. 10 gebrauchte wort anwendet. Beim
Zl'M sri;K('lI VON' 1>KN ZKIIN ALTEHSSTUFKN' 165
90. jähre ist nur der ausdruck vorschiedoii : der g-ebückt gehende
alte erregt den spott der kinder. Der jüdische gesetzeslehrer konte
die spottenden kindor niclit erwähnen, (Ui in solchem verhalten eine
Verletzung- des gesetzes Levit. XIX, 32 gefunden worden wäre. Er konte
auch aus religiösen gründen beim 100. jähre gott nicht anrufen, ohne
dass indessen sein urteil über diese alters'stufe für abweichend von dem
in dem deutschen spruche zu halten wäre.
Der hebräische spruch geht über die im psalm gegebene höchste
lebensdauer von 80 jähren hinaus, ohne doch die in der Bibel erwähn-
ten noch höheren lebensalter der patriarchen zu berücksichtigen. Es ist
mir daher wahrscheinlich, dass Jehuda benTenia einen klassischen spruch
benuzt und durch einschiebungen in jüdischem sinne vervolständigt hat.
Es ist weiterhin möglich , dass der deutsche spruch selbständig auf die-
selbe quelle — welche aber nicht mit Poet. lat. minor, ed. Baehrens IV, 257
(vgl. diese ztschr. XXIII, 386) gleichzusetzen sein würde — zurückgeht.
Andererseits möchte ich es nicht für ausgeschlossen halten, dass
der bis ins 15. Jahrhundert zurückzuverfolgende deutsche spruch auf
irgendeine weise — bekant sind ßeuchlins Talmudstudien, allerdings
etwas später — aus dem hebräischen entstanden ist, unter weglassung
der ausschliesslich jüdischen beziehungen. Diese Vermutung scheint
mir durch eine andere unterstüzt zu werden.
K. Meyer, Der aberglaube des mittelalters s. 143 und 230, erwähnt
nach älteren q^iellen eines noch heute wenigstens im scherze häufig aus-
gesprochenen Satzes, dass reisende personen vom geistlichen stände ein
zeichen baldigen regens seien; den Ursprung dieses satzes vermag er
nicht zu erklären. Nun ist in gewissen jüdischen kreisen, und zwar
ebenfals scherzhaft, das wort gang und gäbe: „Wenn die chäsldwi (d. h.
die frommen) wandern, wird es bald regnen"; und dies soll auf einer
Verwechselung mit der femininform chäsldöth „storche" beruhen: wenn
die Störche sich auf die Wanderschaft machen, so ist die herbstliche
regenzeit nahe. Man Avird diesen satz unbedenklich als den ursprüng-
lichen annehmen dürfen; aus den „wandernden frommen männern "
sind die „reisenden personen vom geistlichen stände" geworden.
Solte der deutsche spruch von den zehn lebensaltern wirklich auf
den hebräischen zurückgehen, so könte vielleicht in diesem beim 90. jähre
neben der richtigen lesart mu;> „zum bücken" die paläographisch sehr
ähnliche Variante pin\Db „zum spotte" vorhanden gewesen sein, zu wel-
cher „der kinder spott" auch wörtlich stimmen würde.
MtJLHAUSEN IM ELSASS. HEIKEICH LEAVY.
166 STKEICHER
ZUE ENTWICKELUNG DER MHD. LYEIK
Richard M. Meyer hat Ztschr. f. d. a. XXIX, s. 121 fgg.i ähnlich,
wie vor ihm Wibnanns zur inhaltlichen vergleichung mit "Walther, so
vom formalen g-esichtspuiikte und in ungefähr historischer reihenfolge
die ausserordentlich zahlreichen parallelstellen unserer minnesänger bis
auf Walther sehr sorgfältig zusammengestelt und die ansieht ausgespro-
chen, dass sie auf anlehnung nicht innerhalb dieser poesie selbst, son-
dern an alte, algemein verbreitete und zwar volkstümliche lieder
zurückzuführen und somit als ein urkundliches zeugnis für das Vor-
handensein einer volkstümlichen liebesdichtung vor dem minnesange
anzusehen seien.
Sind sie das wirklich? Und lässt sich über Vorhandensein einer
volkstümlichen liebesdichtung vor dem minnesange und über ihre
eigenart nach Inhalt und darsteilung vielleicht aus den vorhandenen
denkmälern der mhd. lyrik ein urteil gewinnen? Endlich: welche
stelle gebührt Walther in der entwicklung der dichtung? Mit diesen
fragen beschäftigen sich der reihe nach die abschnitte dieser arbeit.
I. Bedeutung der formeln in der si)r{iclie des niinnesangs.
Auch in der modernen deutschen lyrik lassen sich hunderte über-
einstimmender stellen auffinden, von denen nach abziig aller aus zufall
oder infolge der algemeinheit der betreffenden sache und der geläufig-
keit des verwendeten ausdrucks gleichlautenden, sowie der offenbar
beabsichtigten entlehnungen eine sehr grosse menge in der tat der art
ist, dass man sie für bewusste oder unbewusste nachklänge vorhan-
dener formeln zu halten berechtigt ist. Indes ist — unternimt man
einen versuch — das immerhin eine mühsame arbeit, und mehr als
immer etwa fünf mehr oder minder gleicher verse lassen sich in ziem-
lich weitem umkreise überhaupt nicht leicht finden, während bei den
1) E. Tb. Walters ausführlicher versuch, die ansieht Meyers zu widerlegen
(Genn. XXXIV, s. 1 fgg. : Über den urspriuig des höfischen niinnesangs und sein Ver-
hältnis zur volksdicJituug) bat ihm eine scharfe und, wie mir scheint, in bezug auf
die hauptsacho ungerecbtfertig-te zurückweisiuig eingetragen (Ztschr. f, d. a. XXXIV,
s. 146 fgg.: Volksgesang und ritterdichtung). Das ist die veranlassung gewesen, die
folgenden bereits 1885 entstandenen bemerkungeu über dieselbe frage auch nach "Wal-
ters aufsatz noch zu veröffeutliclien. Bezüglich der wenigen einzelheiton, in denen
wir ausser dem gemeinsamen Widerspruche zusammentreffen, erkläre ich, weder von
ihm noch aus Meyers entgeguung eine nachträgUche entlehuung gemacht zu haben.
Zri; K.NTWirKKLUNCi DKK MUH. I.YKTK 107
miniiosäu^-oni l)is je z\viin/i,i; in die auL;en fallen. Meyer schliesst alle
Sprichwörter und kleineren lormeln, die nie einen ganzen vers ausfül-
len, ans: und doch weist seine tabelle Hausens, lvui;;i;'es, Morungens
uanien ja mehr als HOnial auf, Keinniar und Neithard sind anderthalb-
huiuiertnial, von Walthei' soi;ar übei' 100 verse (wenn auch nicht alle,
wie Meyei' selber weiss, mit uleiehem rechte) genant, die er selbst
widerholt oder mit andern gemein hat. l)al>ei begegnen aber unter
den 00 bez. öO aus .Meinloli und Dietmar angeführten stellen je 22
hier /um (n'sten male, Aviihrend auf Hausens, ilugges und Morungens
omal ca. 00 in sunnna nur lo, auf die oben genante an/ahl lieinmars
8, auf die AValthers 5 und Xeithards auch nicht mehr neulinge kom-
men: ein Verhältnis, das durch erweitcrung der sanduiig zwar Verän-
derungen erfahlen würde, im rahmen der gebutencn Übersicht aber
schon für die dauernde bewahrung und algemeine benutzung des ein-
mal eingebürgerten bezeichnend ist. Und wenn nun, wie nicht zu
vergessen, die doch gewiss noch grössere masse der uns verlorenen
dichtungen jener zeit, da niinnesiugen einen akt im geselschaftliclien
verkehr, einen bestandteil ritterlicher woln'ezoa-enheit ausmachte, sicher-
lieh keine andere spräche führte, als die aufbewahrten, so Avird man
Meyer unbedingt zugeben, dass Zufälligkeit in einzelnen fällen wol mög-
lich sei, jedoch für die ausserordentliche fülle der erscheinung, Avie
sie dem leser von Mt^ sich von selbst aufdrängt und von neuem ein-
driniilicher durch diese sandun»- zu gemüte geführt worden ist, keine
ausreichende erklärung bietet.
Wird man aber die annähme unabsichtlicher oder unbcAvuster
anlehnung und unvermerkter oder unabgewehrter anziehung, Avie sie
Meyer vorgeschwebt hat, aus den gleichen erwägungen nicht ebenfals
zurückweisen müssen? Ich meine, ja! Denn es erscheint undenkbar,
dass sich jene verse und formeln in solcher masse „eingeschlichen",
dass ihr tonfall und wortgefüge unvermerkt gewirkt und andere nach
sich gezogen habe, so dass diese sänger etwa erst durch einen kri-
tischen leser auf die erscheinung zu ihrer Überraschung hätten auf-
merksam gemacht Averden können. Es geht auch nicht an, bloss einen
von dem unsrigen abweichenden geschmack anzunehmen und jenen
dichtem eine heutzutage in diesem masse nicht erlaubte harndosigkeit
gegenüber fremdem gute zuzutrauen oder es als betjuemlichkeit gelten
zu lassen, die jener kunstübung bei ihrer Verbreitung fast notAvendig,
anfangs Avenigstens ganz natürlich gCAvesen wäre. Vielmehr Avird man
sich angesiclits der ungemeinen häutigkeit und der dauerhaftigkeit die-
ser formeln nicht der einsieht verschliessen, dass hier keine unbewuste.
108 bTREICHER
sondern eine beabsichtigte, erstrebte gleichförmigkeit der sprach-
lichen form vorliegt.
Wie steht es dann aber mit der ansieht, die erscheinuug finde
ihre erklärung aus dem Zusammenhang mit älteren Volksliedern? Der
ritterliche spielmann — und war's selbst ein mann von dem freien
blicke Walthers, der dazu selber zwei Jahrzehnte lang fast ein spiel-
mannsleben führte — wendete sich doch stolz von den genossen ab,
die getragene ivät nahmen, und die vornehme geringschätz iing volks-
tümlichen treibens hat in sein schönes maienlied (51, 13) ein störendes
odi profanum gebracht (51, 25). Die gleiche gesinnung spricht aus
Neidharts spöttischer muse, lehrte aber auch bereits Veldegges dame
ihre abwendung von dem ehemals geliebten mit den charakteristischen
Worten (57, 30 — 32) rechtfertigen, die seinem benehmen als herbsten
Vorwurf den des bäurischen machen. Und dem geselschaftlichen kreise,
in welchem solche anschauungen herschten, solte man von anfang bis
zur zeit der höchsten blute seiner ihm allein eigentümlichen kunst,
während doch vermutlich die abschliessung zunahm, die gleiche Ver-
trautheit mit den weisen des volkes, die ini volke selbst doch auch
noch hätten leben müssen, und die unausgesezte, bereitwillige hingäbe
an ihre eindrücke zutrauen dürfen? Eher würde dann mit der vol-
leren entfaltung der neuen, höfischen kunst eine immer zunehmende
abkehr von nachklängen der älteren dörperllchen zu erwarten sein.
Auch erscheint eine in dem masse algemeine, gleichmässige Verbrei-
tung derselben vermeintlichen Volkslieder in fast ganz Deutschland, wie
sie Meyers annähme zur Voraussetzung hat, für jene zeit unwahr-
scheinlich, weil es ein so wie das rittertum in spräche, anschauung,
lebensform gleichgeartetes Volkstum nicht gab. Entscheidend aber ist
der umstand, dass ihrem Inhalte nach eine ganze reihe jener angeb-
lichen reste alter, volkstümlicher gesänge sicherlich weder alt, noch
volkstümlich sind. Denn dass z. b. das aus CB. 116" (Meyer s. 137) ange-
führte Vroive ich hin dir undertdn mit seiner sippe, ebensowenig wie
die Wendungen tvan oh ich hän gedienet (MF. 13, 31) oder swaz sie
gehiutet, daz da% allex, si getan (15, 16) mit den von Meyer dazu
(s. 149 und 151) gebotenen verwanten auf dem alt bebauten boden
einer Volksdichtung, sondern dem neu bestelten felde des höfischen
frauendienstes gewachsen sind, kann wol keinem zweifei unterliegen.
Und wem gehören sonst die im bewusstsein redlichen Verdienstes um
lohn stammelnden bitten frowe lät mich des geniexen usw., die zu
CB 116a (s. 137) aufgezählt sind, als dem minnenden ritter? Dem
höfischen minnesang allein die reflexionen über die erziehliche wii'kung
ZUK KNTWICKELUNG DEK MUD. LVKIK 169
ungelohnter minne, von der sie sagen, dass sie kan (jcbot huken
muot, du hast getiuret mir den vmiot und was dergl. zu MF 3, 13
und 33, 26 auf s. 134/5 genant wird. Und sollen die seit Hausen
(42, 9) unaufhörlichen liebesbeteurungen an die eine für cllkc wip
volkstümlichen Ursprungs sein? Alle diese und andere formein tragen
vielmehr so ganz deutlich den Stempel der erst mit dem jninnesange
entstandenen Verhältnisse der ritterlichen geselschaft, wie andere den
jener merkwürdigen unten noch näher zu beobachtenden anschauungs-
Aveise dieser poesie. Denn mir rdtent vitne sinne oder 7nir gap ein
sinnic herxe rät u. dgl. (Meyer s. 149 zu MF 13, 25) wusste vor der
zeit der minnesänger kein ritterlied und kein Volkslied zu sagen. Lied-
chen, die verse dieser oder jener art enthalten hätten, wären keine
vollis-, sondern ritterliche minnelieder gewesen; und eine diclitung, die,
wie Meyer will, fast nur aus seinen formein gebildet gewesen wäre,
würde sich vom minnesange vielleicht durch den strophenbau, in wesent-
lichen dingen aber durchaus nicht unterschieden haben. Hat es aber
vor dem minnesange lyrische dichtung gegeben, so ist sie auch von ihm
verschieden, ja, wie sich zeigen wird, grundverschieden gewesen.
Wenn nun nicht aus Volksliedern, woher sonst jene formein?
Meyer selbst lässt sich darüber (s. 166) so vernehmen: „Der Ursprung
aus der Umgangssprache ist klar. Aber diese formein, behaupten wir,
müssen in feste, dichterisch brauchbare gestalt schon vor der zeit der
ältesten uns erhaltenen lieder" — soll sagen, in der zeit des Volks-
liedes ■ — „gebracht worden sein". Dass sie das aber ganz und gar
nicht müssen und die ansieht, gestaltung und festigung von formein
im Zeitalter des minnesanges selbst sei undenkbar, eine blosse behaup-
tung bleibt, ist durch die oben erwähnten ihres Inhaltes wegen sicher-
lich erst mit und im minnesange entstandenen und doch auch darin
fest gewordenen Wendungen bereits erwiesen. Und wenn gefragt wird,
Avie ohne die bereits überlieferten formein zwei in „art und form" so
verschiedene dichter wie Gutenburg und Walther auf so ähnliche verse
wie der yedhige tnot rnir wol und doch tnot mir der gedinge icol
(MF. 76, 35. W. 92, 7) allein durch die Umgangssprache hätten kommen
können, der dabei doch die phrase: „diese hofnung tut mir wol" nicht
abgesprochen wird , so möchte maii in dem falle fast mit der umge-
kehrten frage entgegnen, wie sie unter dieser Voraussetzung für den
gleichen gedanken im gleichbewegten versmasse einen v^erschie denen
ausdruck hätten finden sollen!
Somit bleibt die Umgangssprache ohne eine so Aveitgehende
Vorarbeit früherer dichtung im algemeinen allein die quelle jener for-
170 STREICHER
mein, und was Meyer s. 165 fg^. Aveiter dagegen geltend macht, kann
ich nicht als stichhaltig anerkeimen. Die form und fassung derselben
soll mit ihrer entstehung aus einer blossen Umgangssprache unverein-
bar sein. Worte wie in minem herzen ich si trage oder sune ivirde
ich niemer frö passten wol zu Moliereschen precieusen, seien aber im
munde der damen des 12. Jahrhunderts, in der Unterhaltung der „eiser-
nen" ritter einfach undenkbar. Nun, ein unangemesseneres epitheton
als eisern, selbst in gänsefüsschen , hätte man für den ritter jener zeit
im verkehr mit der frauenweit, aus dem und für den allein seine lie-
der entstanden, wirklich nicht herbeiziehen können! Die Unterhaltung
der ritter und frauen war eben keine „prosa des tages", und es herschte
da kein „altäglicher gesprächston " ; denn mit der redeweise der höfi-
schen geselschaft in festlicher Stimmung haben wir's zu tun; einer
geselschaft, in welcher der stolz des mann es sich freiwillig auch der
laune des weibes zum spiele bot, sein lied Unterhaltung schafte durch
Verkündigung von gefühlen und empiindnngen, die eigentlich nur einer
galten und nur ihr gesagt sein selten, seine gedanken sich oft in den
unbescheidensten wünschen ergiengen, deren Verwirklichung die doch
so demütig und fast scheu verehrte frauenwürde in den staub gezogen
haben Avürde. Es ist die spräche einer geselschaft, aus der man ohne
Verwunderung schon nach einem halben Jahrhundert die misgestalt eines
Ulrich von Liechtenstein hervorgehen sieht. Wie hätte sie sich natür-
lich und al täglich ausdrücken sollen? Taten es auch die allongeperücken
im 17. Jahrhundert?
Die innerlich widerspruchsvollen Verhältnisse hatten nur bestand
durch äusserliche, bis ins einzelnste ausgeprägte, fest verpflichtende
formen, nach deren strenger beobachtung in allen lagen man gesel-
schaftlichen takt und gute sitte bemass. So gieng ein gewisses mass
vu]i formelwesen vor allen in die spräche als ausdruck und mittel die-
ser gcselschaftlichen beziehungen ganz naturgemäss über und stelt sich
daher auch in den dichterischen erzeugnissen als wesentliches kenzei-
chen jenes Verkehrs und lebens dar. Mochten jene sänger ihren stolz
darein setzen, für ihre weisen neue töne zu erfinden — dem guten
tone unterwarfen sich im gcselschaftlichen leben, wie auch im poeti-
schen ausdruck, soweit minnedienst und minnesang verbreitet wurde,
alle so bereitwillig, dass selbst persönliche besonderheit in jener kunst
nur sehr selten und schwach zur geltung kam. Und die so entstan-
dene gleichmässigkeit des ausdrucks bis ins kleinste konte keinem sän-
ger oder Zuhörer anstössig sein, weil jenem, wie später den meister-
singern ihrer tabulatur gegenüber, das gefühl der Unfreiheit seiner
ZUK ENTWKKELUNÜ .UEK MllD. LYKIK 171
bewef^ung al)g'ieug- und beide den g-ebraucli regelrechter umgangstbr-
meln, je häutiger er sieh l)ut, um so mehr als Vorzug an/Aiseheu sieh
gewöhnten. Für die keiitnis der hr)hs('lifn Umgangs- und dichtersprache
wäre also zu wünsehen, dass ]\Ieyer seiner sandung die erwähnte ein-
seliräukung nicht auferlegt hätte.
II. Verhältnis zwisclien mann und IVau und diclitt'risclic
anscliauunu in <1<m' mlid. lyrik.
Meyer bezog sieh auf einen aufsatz Burdaehs (Ztsehr. f. d. a. XXVU,
s. o-to fg.), der, gegen Wilmanns' entgegengesezte meinung gmiehtet,
naeiizuweisen suehte, dass es vor der zeit des höfischen niinnesanges
in Doutseiüand eine weitverbreitete, volkstündichc lioboslyrik gegeben
hal)e. Ich unterlasse es, sowol im einzelnen bedenken gegen seine
l)ewt'isführung zu äussern, wie auch im ganzen den gleichen gang zu
nehmen, um die })unkte der üboreinstimmung und des widers[)ruehs zu
bezeichnen. Ich wiinsche vielmehr durch die betraclitung der erhal-
tenen denkmälcr ndid. lyrik einen gesichtspunkt in helleres licht zu
setzen, von dem aus sich dann ein urteil über die Meyer und Bur-
dach gemeinsame ansieht und vielleicht nebenher für das vei'ständnis
dieser poesie ein auch den darum verdienten gelehrten nicht unwil-
kommener beitrag ergeben dürfte. Icii meine die bekante, aber, Avie
mir scheint, nicht hinreichend gewürdigte, durchschlagende Verschie-
denheit der in MF vereinigten dichtungen in bezug auf das gegensei-
tige Verhältnis von mann und frau und die dichterische anschauung.
Und ZAvar sondern sich in dieser hinsieht von der grossen fast schablo-
nenhaft gleichartigen masse ab die lieder Küreubergs und mehrere
Meinlohs und Dietmars, endlich einzelne unter den namenlos überlie-
ferten und denen der Ijciden burggrafen von Eegensburg und liieten-
burg; die meisten durchaus, einzelne nur mit einzelnen zügen.
Da erklärt die dame noch ohne Zimperlichkeit und Ziererei, mit
natüi'licher oflenheit und überzeugender Innigkeit (4, 36), dass er ihr
der aUeiiiebesic »/an sei; dass keiner in aller weit ir besser gefalle
(4, 3-f); dass sie es nicht im zorne übers herz bringe zu sagen: es sei
ihr iciucn alsc licp (18, 5); sie ruft sogar gott zum zeugen an, dass sie
ihm wahrhaftig diu holdeste sei (4, 7). Mht fruide de\ nnKiiist ist uinh
(die ander man, er und kein anderer ist ihres herzens freude (7, ]7);
und dass ers mit ihr ebenso halte, bittet eine betrübten sinnes gar
zärtlich den geliebten, der ein leichter vogel zu sein scheint (37, 23):
min trat, da soll yclonben dieh anderrc n:(be: wan , liclt, die soll da
172
STREICHER
miden. Doch dass keine andere zuvor in seinem herzen gewolnit habe,
und dass sie, die seiner liebe jezt sich freut, gerade von anbeginn die
erste und einzige gewesen — das zu verlangen sind sie nicht engher-
zig, es sich einzubilden nicht schwärmerisch genug. Nein, mit liebens-
würdiger naivetät macht sich da eine über ihre arme Vorgängerin
gedanken (13, 35): sivelhiu sme?i willen hie bevor hat getan, verlos
si in von schulden, der wil ich nü niht ivi%e7i, sihe ichs unfroelichen
stän. Und ebensowenig glaubt eine andere selbst ein hehl daraus
machen zu müssen, wenn auch ihr herzenskämmerlein der jezt geliebte
nicht zuerst erschlossen hat; vielmehr spricht sie es unbesorgt aus
(4, 37): du bist in rninen sinnen für alle, die ich ie gewan. Vor-
wurfsvoll aber beschwert man sich über andere frauen, die nicht übel
lust haben, sich der beneideten zum trotz ihren ritter einmal näher
anzusehen (4, 33); oder wir hören gar bitre klagen, wie unstaetiu ivip
manch kindeschen man nur betrügen, ihm den sinn verwirren (4, 1),
was oft reiner liebe bund zerstöre.' Was hilft ihr es dann, dass sie
selbst ir dcheiner tj'ütes doch auch nicht zu begehren mit schmerz-
lichem scherze beteuert (37, 17)? So eine vergessene konte nie fro
irerden sit (7, 26); den lügenaere aber, den störern ihres glucks, wird
nichts gutes gewünscht (9, 17). Auch die unbequeme hiiote macht gar
mancher schmerz, wunderliche, eigensinnige leute, die einer solchen
liebenden seele zumuten, von dem freund zu lassen, desgleichen sie
doch keinen findet auf erden (36, 5), und die auch gehässige reden nicht
verschmähen (13, 19). Nur selten freilich ruft dies sanftschmerzliche
klagen hervor (32, 3), meist schlagen die vermahnten trotziglich ent-
schlossen die Warnung in den wind. Ich laxe in durch ir niden niet.
si fliesent alle ir arebeit: er Irin mir niemer icerden leit, heisst's da
(18, 6); oder (16, 12): nnd laegen si vor leide tot, ich wil im iemer
ivescn holt, si sint betwungen äne not; und noch stärker: staechens
ü% ir ougen, mir rätent mtne sinne an deheinen andern man (13, 24).
Ja eine herzhafte, die erfahren hat, dass kein weib es jemals der
weit recht machen kann, verdamt es frischweg als verwerflichen klein-
mut, solcher Weisung gehorsam zu sein (33, 11): siver sin Uep darambe
IM, daz kumet von sivaches herxen rat. Kleinmut aber und scliwäche
ist den frauen dieser lieder allerdings fremd. Eher gewaltsam könten
sie erscheinen, wenn z. b. eine von leidenschaftlicher liebe zu einem
ritterlichen sänger erfasst ihm kurz die wähl stelt: entweder wird er
mein, oder er hebt sich aus dem lande (8, 7). Sogar einer derbheit
sind sie im augenblicke der erregung nicht unfähig, und wir brauchen
nicht zu erstaunen, wenn wir einen wenig beherzten liebhaber, der
ziTR ?;ntwickklunct der Mirn. lvrik 173
wiü Wilhelm ^rüllor's wandercr sich f^'cschout (h'ii schlaf der hohlen
zu stören, oh dieser nach ihrer nieiiuiii^i^- gar nicht angebrachten
zarten riicksicht nnhütlicli genng aus tVauonniunde mit diesen kräftigen
Worten danken hören: des (jeltax/xe (jot drii dhirn lip! jd cit/rcts ich
niht ein her /rildc, der dich autgefressen, wenn du mich g(nveckt:
liätte sie fortfahren müssen, wenn uns des säng-ei's hötliciikeit nicht
den rest iln-es wilkommens verschweigen gewolt (8, 15).
Ollen und unvei'stelt, natürlich und iniumwunden, wie Jieb(! und
Jeid. so äussert sich eben auch ihr unmut ungehindeit, unverhült,
keck und derb; ob die erzählte scene sich zwischen eheleuten oder
iniverheirateten abspielt, ist dafür gleichgiUtig. Daher bildet mit die-
sem handfesten ausbruch des Unwillens wol einen grellen koutrast,
aber keinen unvereinbaren Widerspruch das liebliche bekentnis schä-
migen errötens in einem gedichte des Kürenbergers, einer wahren perle
unter diesen schätzen (8, 17): Sivenne icli sbhi alciiic in mlnon licmcde
mid ich (jedoike ane dich, rittcr cdele, so crhlücjct sich nilti vance
nis ruse an dorne tuot. Und widerum tritt die ganze Zartheit, Innig-
keit, Sanftmut und herzlichkeit weiblicher art zu tage, Avenii eine die-
ser fraiien um den fernen geliebten sorgt, da\ er sieh n-ol bchücte
(82, 22); wenn eine andere sich mit zweifeln quält ob seines langen
ausbleibens: sn/ider ane ))itnc scJinlt fremedet er mich nuinegen tetc
(34, 13) und darüber schon den ganzen wiuter lang, seit die blunien
welkten und die vögel verstumten, in grossem Jammer zu leben bekent;
wenn wider eine den oöenbar grollenden an liebe werte erinnert, die
er einst zu ihr gesprochen, und seinem boten aufträgt: hite in, dcix, er
mir holt si, cils er hie vor nrts (7, 6) oder ihm ins gedächtnis ruft,
wie sie sonst ihm lieb war, do dd mich erst saehe (37, 26). Ebenso
w-enn eine den segnet, der ihr den erzürnten geliebten wider versöh-
nen werde (9, 19); wenn sie ihre ungeduldige sehnsuclit, als ob sie
sich ihrer ein wenig schäme, gar artig so versteckt: ane selunides lei-
des lidn ich vil, da\, ich im selbe (jerne Ikujcn- wil (33, 5); wenn
rosenblühen und vögleinsingen, das doch allen herzen freude bringt,
und alle sanicnrunne für sie nicht da ist, so lauge ihr holder geselle
fern bleibt; wenn sie uns ihr geheimnis erzählt von vergeblichem bemü-
hen um das, was sie nicht gewinnen kann und, was das sei, uns dann
mit wehmütigem scherze deutet: jem mein ich yolt noch silbcr: e\ ist
den liutcn gclich (8, 31); wenn sie den talken beneidet, wie er frank
und frei auf den ast im walde tliege, der ihm wolgefalle: .so nrjl dir,
valke, dax du bist! du fliugest sicar dir liep ist, während ihr den erko-
renen mann andere frauen nicht so unbestritten lassen (37, 8); wenn
174 STREICHER
ähnlich eine verlassene, der ihr liebster wie ein falke auf und davon
geflogen, fromm und zart ihre saclie dem anheimgibt, der trennen und
vereinen kann: got sende si zesamene, die gerne geliehe wellen stfif
(9, 11). Wie einfach und innig sind auch die bekanten werte, die das
mägdlein von Tegernsee ihrer schwungvollen lateinischen liebesepistel
anhängt! Dann wider leuchtet der helle stolz aus den werten glück-
licher, die sich der liebe ihres beiden sicher fühlen: Du zierest mine
sinne unde bist mir darzuo holt, spricht die eine (5, 12); die andere
empfindet es mit erhebender befriedigung : Ich tnuoz, von rehten schul-
den ho trage?i daz herze und al die sinne, sit miclt der allerbeste
man verholn in stme herzen minne (38, 5); die dritte sont sich im
glänze des geliebten: der sich mit manegen tugenden guot gem,achet
al der werlte liep, der mac ivol hohe tragen den muot (16, 5). So
das weib in diesen liedern.
Der mann erscheint seiner natur nach abgemessener, besonnener,
ruhiger. Wol kent auch er die zarte" regung der Sehnsucht : mir tuot dne
mdze we, daz ich si so tätige tnide (32, 15), klagt er, und dass aller vög-
lein singen nichts ihm gelte um ihre liebe; aber während sie beim aus-
einandergehen nach seligen stunden die trälmen nicht zurückhalten kann,
tröstet er sich, wenn es nun einmal nicht anders sein kann, kurz mit
dem alten spruche: lie]) dne leit mac niht gesin (39, 24). Er ist sich
seiner Überlegenheit bewusst: ivlp unde vederspil, meint einer sogar etwas
verwogen, die werdent lihte zam: siver si zs rehte kicket, so suochent
si den man (10, 17). Und wir finden ihn freilich nicht so oft, wie
die frau, in sehnsüchtigem trauern und schmerzlichem vermissen, aber
bei gelegenheit doch nicht weniger innig, warm und zärtlich, als jene.
Vor dem walde eine linde und ein singender vogel darauf lassen ihn
an einen andern wald und eine linde gedenken, wo auch ein kleiner
vogel sang. Da sieht er die rosebluomen blühen, und die, vertraut er
uns, manent mich der geda?ike vil, die ich ?d?i zeiner frouwen hdn
(34, 3). Seine liebe ist ihm heiliges geheimnis, niemand soll drum
wissen ausser ihm und ihr, wiez u?idr ihnen z.wein ist getan (10, 8).
Ja wo er erst jubelt: Aller wtbe wünne diu get noch megetin, zweifelt
er hinterher schüchtern an seinem erfolge: in iveiz, wiech ir gevalh:
mir wart nie tvlp also liep (10, 15); ein schluss, der die den anfangs-
worten widerfahrene abweichende auslegung zu verbieten scheint. Ge-
radezu zaghaft aber fehlt ihm einmal, wie wir oben hörten, das
lierz, seine schlummernde schöne zu wecken. Komt es aber darauf
an, so fehlt ihm mut und Selbstvertrauen so wenig wie aufopferungs-
fähigkeit, und mit dem wip vile schoene, das er (9, 21) aufruft mit
ZUR KNTWICKKLUNG DKU MIID. T.YKIIC 175
ihm zu ziolieii. ist er auch ciitschlosscii, fiTiidc und leid zu trih'U,
"was komiucu mai;-.
So z(Mi;('n dies(^ li(_'(h'r ein Verhältnis zwischen mann und weil),
wie es dem natürlichen wesen Ix'idei' u'cst-hl echter anü,('inessen ist. Nach
den äussei'un^'en von juhel odei' schniei'z erscheint die fran als der teil,
il(>r mehr zu i^cwinnen nder zu vei-lieren hat; sie wii'd durch si'ine
liebe lieglückt und mit stelz eifült, sie uaclit mit äiii^stliclier sorge
dai"über. Kr hat die stiirkere, iilx'rlegeiie i'olle, lässt sich dnrcii die
leidenschaftliche lieheserklärung i\i'<. energischen weihes nicht im gei-ing-
sten entilanmien. zeigt gelegentlich selbst iil)erinütig das bewnstsein
seiner macht — al)ei' \nn der h;ii't(> und rehheit, (he man an ihm
bemerkt hal)en \vill, tinde ich nichts, und von l)egehi'liehkeit nicht so
viel wie bei der scheltenden li'aii (S, 14). Wol scheinen manche fraiien-
lieder auf untreue oder vorübergelKjnde al)wendung des maiuies zu deu-
ten. Sie l)eklagen ihn durch dei' h'i(/rNacrc riH verleren zu haben
(7. 24. !). lo); sie l)itten ihn bei ihren ti'ähnenden äugen, sich andei'ei-
trauen zu begeben (87, 18), erflehen verlorene liebe zurück (7, 1),
trauern um vergebliche liebesmüh (8, 25), sehen den falken, (\<;\\ sie
ti'eulich gehegt, in ein anderes land entfliehen und noch unnvunden
mit ihren seidenen bändern an ihnen Avider vorülierziehn. Sind sie
nicht wirklich hart, die mannei', die arme lieberfültc frauenseelen so
lietrüben können? Aber es darf nicht vergessen Averden, dass Avii-
Avirklicli aus mannesmunde selbst nur ein einziges mal ein woi't der
abweisung vernehnu'U, el)en jenem stürmischen weilie (S, 7) gegenüber:
.S7 )nno\ der )))ii)rr iiiiinie icnnT darhciidr sii/ (9, 35). Sonst steht in
miuinerstrophen nirgends auch nur eine silbe davon, dass einer ein zu
ihm drängendes herz hart und kalt von sich gestessen habe. Dass ein
mann seine färbe wechselt, komt wol vor, da wir sicherlich keinen grund
haben, den Avorten jener triumphierenden giMiebten zu mistrauen, die
(li), H7) ihrer verdrängten Vorgängerin schmerz mitleidig am eignen
glücke mass. Aber dürfen wir allem jenen klagen und flehen l)lind
glauben und darauf hin die männer, denen es galt, als hart und kalt
verdannnen? Oder werden die mädchenherzen damals in der herzlichen
behütung ihres köstlichsten Schatzes weniger emsig als heutzutage dabei
gewesen sein, mit ängstlicher hast den blick eii:er andern, mit grü-
belnder aufmerksam keif misverstiüidliche werte des geliebten aufzufan-
gen, bei langem ausbleilien nur selten ihn zu entschuldigen, um so
eifriger aber mit allerlei grümlen und gi-ündchen sich schliesslich ein-
zureden, dass er nicht konnnen wolle, um sich dann mit törichten
schmerzen und ihn mit unnötigen vorwürfen zu quälen? Einmal Avenig-
170 STREICHER
stens (34, 11) tritt uns, glaube ich, eine solche selbstquälerin iinver-
kenbar vor äugen. Es ist tief im winter, denn blumen sah sie längst
nicht mehr, noch hörte sie der vögel sang; der geliebte ist fern, so
fest wahrscheinlich durch stürm und schnee in seine bürg gebaut, wie
sie in die ihrige; man kann ihr also die Sehnsucht nicht verdenken,
auch nicht, dass sie die zeit, seit sie in seinen armen lag, wol tausend
jähre dünkt. Warum sie ihm aber mit den vorwurfsvollen werten
runder ane tnine schult fremedet er mich absichtliches ausbleiben
schuld gibt, ist nicht zu verstehen, wenn uns nicht das reizende ge-
dichtchen eben eine solche zärtliche seele in ihren törichten sorgen
zeigen wolte. Und gewiss ist ebenso ein guter teil jener klagen aus
frauenmunde zu erklären.
In schroffem gegensatze zu dem dargestelten Verhältnisse der bei-
den geschlechter steht nun dasjenige, aus dem mit ausnähme der weni-
gen bisher besprochenen gedichte die uns erhaltene mittelalterliche lie-
beslyrik ganz hervorgegangen ist. Freilich versichert es Eeinmar zu
widerholten malen hoch und teuer, der einzige zu sein, dem der ver-
diente lohn der liebe von seiner dame verweigert werde (z. b. 189, 35.
171, 22), und meint (176, 16, vgl. 155, 34), von seiner herrin so gelitten
zu haben, da% nie man durch sin liejJ so vil erleit. Aber hören wir
nur die andern! Da möchte Horheim (115, 13) es auf seinen eid neh-
men, da% nieman (jroexern lamiber hat noh niene wart so trüric man;
Gutenburg, der einst andrer meinung war, erkent nun (78, 3) seinen
irtum: ich ivände ienian so hete missetän, suocht er genäde, er solte
si vinden: daz muox, leider an mir eiyieii xergän; und Hausen brauchte
es nicht ein grözez wimder zu nennen, dass er (52, 17) zu klageu
hatte: cliech aller serest minne, diu was mir ie geve. Wer unter sei-
nen genossen hätte sich eines besseren Schicksals zu erfreuen? Auch
graf Rudolf minte, die ihn hazxet sere (81, 9 wie Reinmar 166, 31)
und muss sich der torheit (83, 11) anklagen: ich htm mir selberi ge-
machet die sivaere, daz ich der ger, diu sich mir wil entsagen. Rugge
schilt sich gar (104, 1): ich mac tvol sin vo7i gouches art und jage ein
ü'ppecliche vart: tören sinne hän ich vil, daz ich des ivtbes minne
ger, diu mich ze friunde niene wil. Heinrich von Morungen will's auf
seinen leichenstein schreiben lassen (130, 1): ivie liep si mir waere
und ich ir unmaere. Alle wie Reinmar, der mit schmerzen erkent
(159, 10): si ist mir liep, und dunkel mich, daz ich ir vollecMche gar
unmaere st Und so ist das gleiche Schicksal aller minnesänger von
Hausen und Yeldegge an und das immer widerkehrende, fast einzige
thema ihrer lieder: liebe ohne lohn. Wenn wir also in diesen liedern
ZUR ENTWICKKLUNG DER MIID. LYRIK 177
selten etwas anderes von den niiiunorji hören als klagen und von den
frauon versagen, so sieht es wirklich fast aus, als hätten beide ihre
rollen gewechselt; nur dass wir bei jenen rittern oben trotz gelegent-
lichen Übermutes die herzenshärtigkeit nicht finden könten, unter der
alle diese sich jammernd zu winden scheinen. Doch gleichen auch
wider diese weibischen männer den trauen dort nicht, denen nichts
weniger angestanden haben würde als die widorholten beteurungen,
z. b. Hausens (50, 11), Johannsdorfs (1)0, 16), Morungens (134, 31. 13(5, 11),
rou liuule, oder wie Hartmann noch lächerlicher übertreibt (206, 18)
Sit der stwnt, da er üfem stabe reit, nur einer minne gedient zu haben.
Man veruimt sogar das feierlich tonende gelübde (86, 1): Min m'ste
liehe, der ich ie hcgan, diu selbe muox, an mir diu teste sin; und
ähnlich rühmen alle ihre staete, triuwe, slaetekeit unaufhörlich, lioffen
von ihr, versichern und beweisen sie oft bis zu einer Zudringlichkeit,
die sich mit der leidenschaft jener frau auf der burgzinne nicht ver-
gleichen lässt. Die treue des mannes, in jenen liedern der gegenständ
ängstlicher sorge, der grund höchsten stolzes für die liebende fi'au,
scheint in diesen fast zur strafe für ihre hartherzigkeit geworden zu
sein ^
Es ist bekant, dass diese verwandeluug in erster linie die folge
einer Veränderung in den formen des geselschaftlichen lebens war,
die es durch fremdländische beeinflussung erfuhr. Natürliche anläge
und geselschaftliche zustände hatten bei den unsern vorfahren in der
ausbildung äusserer lebensformen vorausgegangenen westlichen nach-
barn ein dem natürlichen in gewissem sinne entgegengeseztes Verhält-
nis im verkehr zwischen beiden geschlechtern, ein unterwürfiges werben
des mannes um die gunst wol meist verheirateter und an rang höher
stehender trauen ausgebildet, in dem sich wirkliche liebesregung, hier
natürlich voll feuriger, verzehrender leidenschaft, mit blosser galanterie
und förmlicher höllichkeit eigentümlich mischte. Als nun die kreuzzüge
1) Es erfrischt unter den weichniütigen klängen den kräftigen ausbrach empör-
ten stolzes zu vernehmen, mit dem Friedrich v. Hausen (48, 1) seinem flehen ein
ende macht: ich waer ein gouch, ob ich ir tumplieit haete für gicot: ex enyescliiht
mir niemer me, oder der gelehrige schüler der troubadours (142, 15): des — dank-
losen dienstes nämlich — bin ich worden lax, also da% ich. vil schiere gestinde in
der helle gründe verbrünne , e ich ir ieiner diende, ine wisse itmbe waz; und die
unorbitliche sogar bedroht (145, 33): Ich tvil eine reise . . da ivirt manic iveise.
diu lant diu tvil icli brennen gar. Ja auch Hartwig von Rute,s rninnender tcnsifi
(117, 33) wirkt woltätig zwischen dem minnenden sinnen jener klagelieder. Viel-
leicht, dass hier fälle wirkliclier leidenschaft vorliegen. Aber es sind nur die aus-
nahmen, imerheblich für eine betrachtiuig über das wesen der dichtung.
ZEITSCHRIFT F. DEUTSCHE PHU.OLOGIE. BD. XXIY. 12
178 STREICH l?R
und besonders der von Konrad III. und Ludwig VII gemeinsam unter-
nommene die engste und nachdrücklichste berührung der beiden nach-
barvölker hervorrief, trat diesseits des Kheins eine, "svie wir annehmen
müssen, sehr rasche Umgestaltung des ritterlichen lebens nach dem
Vorbild des französisch -romanischen rittertums ein, eine Umgestaltung,
die in der eigenart unseres volkes keine wurzel hatte. Denn wenn auch
schon Tacitus von den alten Germanen berichtet, wie ihnen die frau
geradezu als ein verehrungswürdiges, heiliges wesen erschienen sei, und
später der Marien cultus auf diesem gründe erwuchs, so bemerkt der
Römer doch ausdrücklich, dass jene Verehrung von kriechender Schmei-
chelei fern war; und der dienst der mutter gottes kante wol glaubens-
volle anbeter und eine milde, gütige, trost und frieden spendende
Jungfrau, und hätte, seine gewalt dahin zurückgebend, woher er sie
empfangen, eine Verehrung der frauen überhaupt, des weiblichen ge-
schlechtes herbeiführen können, aber die unaufhörlichen lobpreisungen
der einen und einzigen vor alFen andern, die demütig -knechtische
erniedrigung, die immer hofnungslose und doch nie ungeduldige anbet-
telung unserer minnesänger so wenig wie die unerbitliche hartherzig-
keit ihrer damen. Allein es fand in dem vielgegiiederten reichskörper,
wo immer grosse vasallen über kleinere, kleine über kleinste lehns-
leute und ministerialen geboten, die neue, fremde mode den geeignet-
sten boden. Nach dem fremden muster ward nun die frau in die
geselschaft eingeführt, der sie bisher fern gewesen, und wie durch
eine stumme Verabredung der gegenständ achtungsvolster aufmerksam-
keit, das ziel anbetenden dieustes und lobpreisenden gesanges. Ganz
natürlich war es, dass sie dabei neben eigner Schönheit und liebens-
würdigkeit häufig den vorteil höherer Stellung, macht, des reichtums
ihres gemahls genoss. Denn so viel ritterpferde auf seinen ruf zum
Sammelplatze ritten, so viel häupter neigten sich im saale anbetend vor
ihr, so viel sänger sangen ihr lob, jeder zwar ohne ihren namen zu
nennen, aber in beständigem Wetteifer mit den übrigen. Dass es ein
dienst übertriebener lobpreisung wurde, war natürlich; dass es trotz
alledem im algemeinen gewiss ein dienst ohne lohn blieb, konte eben-
fals nicht anders sein.
Und doch nicht ganz ohne lohn. Denn dass es, wie oben gese-
hen, trotz allem auch ein dienst unzerreisslicher geduld und unver-
änderlicher treue blieb, lag weder bloss daran, dass sich die ehren-
tugend des deutschen volkes aus dem herren- auf den frauendienst über-
tragen mochte, noch daran, dass sich das conventionelle Verhältnis gewiss
auch in Deutsehland ab und zu mit ernstlicher, natürlicher leidenschaft
ZUR KNTWICKELUNG DER MIID. LYRIK 179
vermischte. Sondern der miimende fand glück und erfolg seines
dienens reichlich in einem andern lande, wo ihn kein niitwerbender
kümmerte und kein hindernis auch dem kühnsten begehren im wege
stand. Offenbar so kam z. b. eine liebesgeschichte zu stände, wie sie
ein unter Dietmars namcn überliefertes gedieht in der richtigen reilien-
folge der strojihen (nämlich von hinten nach vorn gelesen) bietet. Da
klagt nämlich in der ersten (39, 11) ein ritter, dass ihm em edeliu
frouive also vil xe leide tuot, weil sie will gedenken niht der mangen
sorgen sein, wie wilfährig er ihr auch gedient; nach der zweiten (39,4)
aber erweisen sicli diese seine klagen doch als grundlos, denn sie ver-
rät uns selbst, den ritter giiot, von dem sie vil der tilgende sagen
gehört, dne nüke ins herz geschlossen zu haben; und die dritte (38, 32)
zeigt ihn gar am ersehnten ziele: mt ist ez an ein ende komen, dar
nach mtn kerxe ie ranc, daz mich ein edeliu frouive hat genomen in
ir getwanc. Ein erlebnis des dichters? Schwerlich; wenn nicht der
hauptgegenstand aller jener dichtungen, die ungelohnte liebe, eine
unerklärliche nichtigkeit sein soll. Aber in der anfangs (39, 11) gege-
benen Stimmung wünscht er, die gefeierte möchte sich so vernehmen
lassen und er grund haben so zu jubeln, wie es ihn die regsamkeit
seiner phantasie in den folgenden Strophen wirldich hat hören und
aussprechen lassen. Ganz ähnlich gewiss, wenn in einem Hede Hau-
sens (54, 10) die frau von seiner treue rühmend spricht, seinen kummer
fühlt, eingesteht, dass er ihr liep und lieher vil, als sie immer im vil
liehen manne sage, wenn sie bekent, nur aus sorge um sein leben und
ihre ehre seine klagen nicht zu stillen, darauf sich aber seufzend doch
mit neuen zweifeln plagt (54, 19 — 27): oive taeie ich des er gert, wie
würde mirs ergehen, läze ich ab in ungewert, daz ist ei?i Ion der
guotem Tnanne nie geschach, um vorläufig noch zum entschlusse zu
kommen: ich entars in niht gewern, im dritten liede aber (54, 37 —
55, 5) seinen vollen erfolg auszusprechen: des ist er vo7i mir gewert
alles sives sin herze gert und solte ez kosten mir den Up. Kein roter
mund hat diese worte erst zögernder, dann rückhaltloser hingäbe zum
dichter gesprochen; aber vernommen hat er sie doch im wundersamen
weben seiner träume zu hoher im liede widerstrahlender beseligung.
Wünschen und wollen des dichters ist der quelbrmmen seiner freuden.
Erfährt er auch fort und fort Zurückweisung, er glaubt nicht daran.
Daz si mich alse univerden habe, als si mir vor gebäret, so weiss sich
Reinmar (166, 34) zu trösten, daz geloube ich niemer; so Rugge (100, 19):
doch denke ich si versuoche mich, ob ich iht staete künne stn; imd
Gutenburg scheint seiner sache so gewiss , dass er sivüere ivol, ez waer
12*
180 STREICHER
h- leit, wenn nur einer da wäre, der ihm xe relitc solde staben (77,1).
Gerviuus hat in seiner aasgezeichneten darstellung- dieses eigenartigen
Zeitabschnittes unserer dichtung sie zutreffend mit der sinnigen, sehn-
suchtsvollen, träumenden und schwärmenden, von phantasiegebilden
und wahngestalten wimmelnden Übergangszeit, wo der knabe zum Jüng-
ling wird, verglichen, in der liebesfreude und liebesleid mehr ersonnen
als erlebt wird. Nicht wirkliche begebenheiten gaben jenen dichtem
den Stoff ihrer lieder, sondern süsse Selbsttäuschung einer wundersam
erregten und gegen die tatsachen der aussenwelt verschlossenen phan-
tasie; Selbsttäuschung, wie es notwendiger weise die ihnen allen gemein-
same, so oft widerholte und stark versicherte Überzeugung war, der
einzige unbelohnte liebhaber zu sein. Bloss von innen komt ihr dich-
ten, unbewegt von äusserem geschehen; heisst ihre liebe doch auch
7}iinne, was Morungens werte (138, 21) bedeutsam so erläutern: dass
er so JierxecUche sei (in si verdäht (vgl. 147, 17 lanc hin ich geweset
vcrdäht)^ wozu Hausen 46, 6 noch eine bemerkung fügt, wie sehr dies
seine aufmerksamkeit äusseren vergangen entziehe: ich was so verre
an si verdäht, da% ich mich imderwilent niht versan, und swer mich
gruoxte, daz ichs niht vernan. Und weiter: ein liehe}- tvän tröstet
Hartmann (208, 23) über erlittenes ungemach, der ungeduldige Fenis
boscheidet sich schliesslich doch damit (84, 9), dass yenuoc gröx. her
gewesen sei seine vröude von wunc, und Reinmar gibt sich freilich
weniger freudig so zufrieden (180, 1): ich ivas 7ntnes muotes ie so
hcr^ dax. ich in gedanken dicke schone lac. Mit solchem lohne sich zu
begnügen ist sein stolz: .so vil so ich gesanc nie inan, der anders niht
enhaete ivan den hlöxen wem. Oeditige hat dem einen (Rugge 104, 33)
das herz gemachet wunneclichen frö, dem andern (Morungen 125, 30)
ist komen ein hügender tvän und ein tvünnecltcher tröst, der ihn froh
machen wird. Mit gedanken ich die xtt verirtbe, als ich beste kern
sagt Hausen (42, 10); bei Reinmar (151, 33) kumet etesivenne ein tac,
dax er vor vil gedanken niht gesingen nocli gelachen mac, und doch
ist ihm vil lihie ein vröude 7iähe bi. Min leben, heisst es an anderer
stelle (153, 7) bei ihm, dunkel mich so guot; imd ist es niht, so ivaene
ichs doch; und doch klagt er auch (163, 18), dass ihm V07i gedanken
ist also unmäzen tve, behauptet sogar (174, 24) nie ivart groexer un-
gemach, claime ez ist der mit gedanken umbegät, wie Rugge es (101, 36)
bedauert, sich Verlan zu haben xe verre uf den wän. Mit gedankoi
klagt ein sänger der herrin seine sorgen von fern (52, 1); ein anderer
(125, 21) schwebt, als ob er fliegen künne 7nit gedanken ienicr umhe
sie. So geben gedanken, wdn, gedinge dem dichter den lohn seiner
ZniJ ENTWICKKUTNG DER MUH. LYKIK 181
licbesniüli, die eroignisse seines liebelebens und selieinen fast seine ein-
zige bcschäftigung- und geselscliaft zu sein, seine freunde, seine ratgeber,
seine boten. Und das alles durchaus nicht als l)l()sse redewenduug
oder bildlicher schmuck, sondern als die ganz ents[)nH'hen(le äusserung
Innerlicher voi'gänge, das klare s[)iegelbild eines ganz eigentündich
gestalteten Seelenlebens, so lel)liaft, so wesenliaft und wirklich, dass
diese (/cfhn/Lr//, oft als ein besonderes weseii nicht in, sondern geradezu
ausser dem dindvcnden vorhanden scheinen. Wenn z. b. Hausen ein
vor der kreuzfahrt gedichtetes lied (47, D) l)egint: Mi// hcrxc und mhi
Jip (li)i ireneiif scJicidcii , diu niilciiiaiidcr rariil iiü ii/dinjc ■,it. dir
lip tril (jcrue rchlcn im dir hiiihii. si) Inif icdorh da-. Jicf.r mrrli viii
u'ip, so sucht er nun das herz von seinem vorhaben abzubiingen und ent-
lässt es nach dem vergeblichen bemühen wie einen eigenwilligen freund,
der abschied m'hmend vor ihm steht: *S'// irli dielt, hcrw, nihl u-ol iinic
enrendoi , diot irdli'st mir]/ ril frnrrrJirJim hin, so hitr irlt i/of , r/c/.r
er dich ruorJic sci/dr/i uti ciiir siut ^ du Jinin dirli icnl rnipfi}. Und
oicr, fährt er mit gleicher lebhaftigkeit fort, irir so] r\ aniirii dir rnji'n!.'
irir fors]rs] rine (in so]]ir itof crnrtidrnY irrr so] dir diiir sonje lidfen
cndrii i/tit sidlien ]rin/rr// ajs ir]t iinn (jeldn':' (vgl. 109, 11). Ganz
ähnlich bei der gleichen veranlassung Reinmar (INI, 13): Des ficjrs, do
idi dir. i.'riic.r m/u/, so berichtet er, <]o ]/i/ofe id/ der ijedu/üw u//it
.... iiu u'd]e)/ts a]/rr i/' /ri]]r/i I/di/ /au] ]i'ded/<-]/r ran/ als r ; wozu
er bezeichnend bemerkt: ilii/ sonje di/ist ////// ri/irs /liri: si i/io] oud/
i//rrc ]i//teu irr. Ist er bereit gott zu dienen, so wollen die (jrduu]:e
tohe/i und zurück au (]iu idteu uuirre, seine minne natürlich. da\-
iceiidc, fleht er darum zur muo]cr uiide luayr] , ai] id/s in uiiit rrr-
hide/i miic. Dann erlaubt er ihnen doch drsiroiur dar i/ud (dier iridrr
sd xd/atit und sezt sich am ende mit den plagegeistern ohne viel ver-
trauen auf ihre Zuverlässigkeit so auseinander: sös unser ]jcider friuiidc
dü/i ijcijriir-.eu so ]:rrru dau und lidfen mir die sünde ])i(exen , und
si in u]]rx da\ vergeben sira\ si u/ir l/aljr// ]/rr i/e]iin. Sähe man
solche stellen zuerst aus ihrem zusammenhange ausgehist, wer würde
erraten, von wem oder mit wem der dichter spricht? Doch wer wird
sich auch noch wundern über die neigung zu solchem phantasiespiele
bei leuten, die im rausche hoher kampfesziele auf ihren weiten kriegs-
zügen sich durch hunger und alle schrecken der Wirklichkeit nicht
abhalten Hessen, zu vielen tausenden zusammen innner wider das
apostelkoUegium und alle heiligen vor dem beer einherschwebeu zu sehen,
^lei'kwürdiger Widerspruch: inmitten einer bewegten glänzenden
geselschaft steht der minnende unbekünnnert um sie, das äuge für
182 STREICHER
Vorgänge der aussenwelt wie verschlossen, ganz in seine innenweit ver-
sunken und nur mit sich selbst beschäftigt — zum grossen unterschied
von den dichtem jener altertümlicheren liedchen, die der unmittelbare,
natürliche ausdruck wirklichen erlebens waren und immer ein bild,
einen äusseren Vorgang von einleuchtender Wahrscheinlichkeit darstel-
ten. Da sprach eine frau zum davonreitenden geliebten (4, 35), dort
(39, 18) aus dem träum geweckt von einem vogellin su ivol getan, daz
ist der linden an daz zivi gegän, rief sie den noch schlummernden
gesellen wach. Oder sie stand im kämmerlein allein im weissen hemde,
das gesiebt von glühendem rot bedeckt, weil sie des geliebten mannes
dachte, lauschte von der burgzinne heraufdringendem gesange, und als
von der gewalt der töne die leidenschaft zu dem wolbekanten sänger
überwalte, rief der für solche glut unempfindliche nach ross und tseu-
gcivant^ sich davon zu machen. Oder sie schaute einsam harrend über
die beide nach dem geliebten aus, und statt seiner kam ein falke geflo-
gen, dem die sehnsuchtsvollen ge'danken nun folgten (37, 4). In der
fremde weilend gab ein ritter der freundin botschaft, und sie antwor-
tete (32, 13. 21). Ein vogel sang in lindenzweigen und erneute in
ritterlichem herzen Sehnsucht und erinnerung (34, 3). Ein verzagter
schlich sich vom lager der schlafenden geliebten usf. Auch Zwiege-
spräch, wirkliches, d. h. von mensch zu mensch wurde vernommen,
Avenn auch nur aus der gegenrede; denn wir erraten seine mitteilung,
der sie antwortete (7, 10): Wes manest du mich leides, min vil liehex,
liep? unser xiveier scheiden müez ich geleben niet; und wenn sie (10, 1)
den rat erhielt, sich wie der abendstern zu verbergen und um das
geheimnis zu bewahren, die äugen statt auf ihn auf andere zu rich-
ten, so hatte sie sich ähnlich beschwert wie die (4, 30): daz nklcnt
ander vromven und habent des haz und sprecheM mir ze leide , daz
si in wellen schouiveu. In den späteren liedern hören wir zwar gele-
gentlich von Hausen, Horheim, Rugge, Reimar, dass sie in der fremde,
auf dem kreuzzug waren, von lezterem, dass seine unaufhörlichen kla-
gen den freunden misfielen, von ßugge, dass er ungemachen gruoz
empfieng; Hausen sah die angebetete im träume, ein anderer küsste
sie, einer stand und wagte sie nicht anzusprechen. Aber es wird das
alles nur erwähnt, nur zum ausgange, nicht zum mittelpunkt und
gegenständ des liedes. Dort geschah vor unseren äugen und obren,
hier lässt sich ein geschehen nur gelegentlich als veranlassung einer
gedankenreihe erkennen. Selten auch, dass einer dieser sänger die
dame anredet (87, 21. 147, 4, 176, 5) oder sich etwa mit der Ver-
sicherung seiner aufrichtigkeit an die zuhörer wendet (88, 7. 70, 2.
ZUK KNTWICKKLX-NG DKU yilW. LYKIlv 183
7G, 28. 127, 2), wubfi es (laiiu ubor sein bewciKlcu liat. Demi wirk-
liclies leben <^-e\vint weder diese noch jene bezic'hung; nie sind wir
getrieben, uns dt^n siini^'er etwa in einen kreis von trauen oder jnän-
nern tretend vorzustellen. Beschäftigt er sich mit sich selber, seinem
J/ciwc, seinen (jt (hinken, so bleil)t diese beziehnng oft g(;wahi-t — und wie
lebhaft, haben wir oben gesehen; redet er dagegen andere, lel)endigc
menschen an, so ist das nichts als eine redewendung ohne entspre-
chende Vorstellung, wechselt daher leicht unter verschiedenen personen,
die nicht wol zugleich anwesend sein kilnnen, oder wird unversehens
wider aufgegeben. Nur eins von den sehr zahlreichen beispielen. In
den eingangsstrophen eines liedes (128, 10 fgg.) behandelt Morungen
die damo als abwesend: j\[hi rrsfc iiiiiJ oiich min Jrsle fröidc was r/n
frqj . . . H'aer fr mit )nh)ic stonjc wo! , so sunye ich ir, und wendet
sich dann nach einander an eine anscheinend um ihn versammelte
franenschar mit der bitte: .V/7 ruient, liehe frejmvcn, /rr/i ich siiujen
viüge so (lax ex. ir tilge, und abermals an die spröde selbst, aber jezt
als gegenwärtige: 17/ iciplich n-ip, nu n:ende niine sende klenje, um
sie zulezt Avider als abwesend zu betrachten: leli sihe ivol, dir, min
frouH-e mir ist vit gehet-.. In der grossen masse der dichtungen aber
fält auch diese rhetorische belelning fort, und der dichter vermeidet
selbst den anschein, für anderes als seine gedanken und empfiudungen
ein äuge zu haben. Diesen minncsang mit jenen älteren liedchen ver-
glichen, glauben wir dort überall in den hellen Sonnenschein wirk-
lichen lebens, hier in das weiche heldunkel des traumes zu blicken,
dort menschen, hier schatten zu sehen, dort ereignisse, hier erfindung,
dort das du, hier immer nur das ich.
Ergebnis.
Die tiefgehende sachliche ungleichartigkeit der in „Minnesangs
frühling" vereinigten dichtungen liegt am tage und beruht — irten
Avir nicht — im wesentlichen auf der dargestelten zweifachen wande-
lung der ritterlichen geselschaft und des deutschen gemütslebens, einer
von aussen hereingetragenen, fremden und eijier naturgemäss
aus innerer Ursache erwachsenen, heimischen, solte diese viel-
leicht auch gleichzeitig bei einem nachbarvolke eingetreten sein. So
gross aber ist der unterschied der vor- und nachher entstandenen dich-
tungen, dass beide unmöglich als einer gattung zugehörig betrachtet,
mit einem gemeinsamen namen bezeichnet und etwa jene, wie es
geschehen, als die bescheidenen, nur unentwickelteren anfange dieser auf-
gefasst werden dürften. Sondern es scheiden sich hier scharf, d. h.
184 STREICHER
mit anscheinend kurzem, raschem übergange zwei nach stoff und gestal-
tung wesentlich verschiedene Zeitalter deutscher dichtung, von denen
allein dem jüngeren, aus einer überfülle von denkmälern uns genau
bekanten, der name des minnesanges mit recht zukommen dürfte. Von
dem älteren sind nur spärliche reste auf uns gekommen. Wir verdan-
ken ihre erhaltung vermutlich dem umstände, dass ihre Verfasser, wie
der Kürenberger, jener Wandlung nur zeitlich nahe gerückt waren oder
sie innerlich erlebt und mitgemacht haben, wie besonders Dietmar und
Meinloh, in dessen oben angeführten versen z. b. {staechens üx, i?' ougen,
7nir rätent vnine sinne usw. 13, 24), der gedanke der älteren, der aus-
druck der jüngeren epoche angehört. Dass es aber nur reste eines
reicheren Schatzes sind, scheint durch den grad ihrer Vollendung, der
eine längere Übung sicherlich voraussezt, hinreichend erwiesen zu wer-
den. Und w^olte mau dagegen einwenden, dass der verlust dieses
reichtums bis auf so wenige überbleibsei unwahrscheinlich sei, so bedarf
es dieser annähme ja gar nicht. 'Denn wer weiss, ob sie nicht zum
grösten teil überhaupt unaufgezeichnet geblieben oder doch nicht öffent-
lich bekant gemacht worden sind, so ganz auf einen besonderen fall
und an eine bestirnte person gerichtet, wie sie ursprünglich waren,
während die für die ritterliche geselschaft berechnete poesie der minne-
sänger natürlicher weise zur Veröffentlichung und schriftlichen aufzeich-
nung führte. So wird man der annähme einer vor dem minnesange
Verbreiteten lyrischen dichtung ganz beistimmen, auch gegen ihre benen-
nung als einer volkstümlichen, insofern sie von der fremdländischen
geselschaftsordnung unberührt geblieben, nichts einzuwenden haben;
der behauptung aber, der minnesang habe sich durch blosse entwick-
lung der in der älteren dichtung bereits vorhandenen keime daraus
erhoben, muss man als einer durchaus irrigen entgegentreten.
Noch eine frage möge hier besprochen werden, die durch die
vorgetragene anschauung von der art und entwicklung der mittelalter-
lichen l_yrik eine neue und wie es scheint befriedigendere lösung erhält,
als trotz der verschiedensten erklärungen bisher. Sie betriff die bekanto
tatsache, dass unter jenen altertümlichen liedchen eine grosse zahl zu
den sogenanten frauenstrophen gehört. Die einen der erklärer las-
sen nämlich, für die älteste zeit wenigstens, das frauenlied auch als
frauonwerk gelten, indem sie den Widerspruch der Überlieferung und
die auffällige häufigkeit weiblicher poeten wol oder übel zu erklären
wissen; die andern, denen diese gründe nicht genügen, sehen sich
genötigt, beweggründe des dichters zu der vermeintlichen Selbstver-
leugnung ausfindig zu machen. Der sänger, so hat man daher gemeint,
ZUK ENTWICKKLUNC HKi; MUH. LYKIK
185
suiist (liircli die l)csf('li('ii(lcii verliältnisso ^nMiütif^i, das weil) liai-t und
kalt dai-/us(('llcn, lialx' mit fnuidcii die tonn dos tVaiicnlicdcs i^cwählt,
um von dem zwaiii^c frei auch die natürliche Zartheit uiul liin,i;(>l)uni;'
dos i;-osclilo('lits zur erschoinun^- zu hrin^cn. Aber von anderer soito
ist doni horoits enti>-Ci;-net worden, dass voraussetzuni^,- und folfi,-orunij,-
dieses ü-edankens in fi-loiclier weise (h>m tatl)estande widerspi'echon;
denn hei den diclitern jener zahlreiclien frauenlie(ler ,i;'ibt es keine
harte, stolze trau; und wideruni, wo das der fall, da ist die zahl dieser
lieder sehr klein. Darum soll dei' i'ittor vielmehr anfaui^s, d. h. docli
wol in Küi'cnher^'s zeit, uui' aus scheu das i;'eständnis (ug-ener zarter
emptindunii,-, (\vn ausdi'uck sehnsüclitii>-or liebe der frau überlassen haben,
für die ei- ihm an;j,-emessener erschienen. Die sprachliche form der betref-
fenden stelle ktinte uns in zvveifel versetzen, ob wir danach die lieder
für wei'ke von trauen ansehen solh'U, oder der mänlich(5 dichter darin
der iVau tlon ausdruck seines gefühles', oder ol) er ihr den des ihri,yen
ül)erlassen. Ernstlicli aber kann man nach dem zusammenhange nur
zwischen den beiden lezten auffassungen schwanken. Im ersten falle
liesse der dichter also seine eigene selbstompfundene Sehnsucht — weil
er sich schämte sie einzugestehen — durch fraiienmund aussprechen;
dann wäre man versucht, um die in jenen gedichton dargestelten hogeb-
nisse der Wirklichkeit entsprochojid aufzufassen, die rolle der liebenden
zu vortauschen, was sich bei einem liode Avie ich -.nrh nur ei neu val-
ke// u. ä. allenfals, unmöglich aber bei dem vom weibe auf der zinne,
vom zagenden liebhaber und dem prächtigen fc/p rile srliunc machen
liesse. Oder der sängor brächte die onipfindung der eigenen brüst zum
ausdruck und befriedigte dadurch den poetischen drang, dass er statt
seiner die geliebte frau von der ihrigen sprechen liess. Ja, aber nicht
aus scheu mit seinen eigenen emphndungen herauszutreten — welche
Vorstellung dichterischen gemüts! — sondern weil er sie zu beobachten
und darzustellen weder iieigung noch fähigkoit besass. Man hätte nie
die frauenstrophen eines Kürenbergers und eines Hausen auf eine stufe
stellen und mit gleichem masse messen sollen, da doch ihre entstohung
in gewissem sinne fiist entgegengesezte ursachoji hat. In denen der
eigentlichen minnesänger, so hat man sehr wol bemerkt, hndet fast
ausnahmolos die in den männerstrophen ganz vermisste liolx'ndo hin-
gäbe der frau ihren ausdruck. Und warum? Das ist eigentlich Ijoreits
oben ausgeführt. Denn was des dichters ohr in der regel nicht zu
hören bekam, das erschuf sich sein sinnender goist, der das drängen
seiner wünsche verstand. Wie die besungene sprechen kr)nte, solte,
wie sie ihre Zurückhaltung erklären, ihm gewährung verheissen, ja
186 STREICHER
geben möchte: das ist in den frauenstrophen des der weit der tatsachen
abgewanten minnescängers niedergelegt, fast könte man sagen, weil es
dieser weit nicht angehört. Es gibt leute, die gehen mit bewegten
lil^pen, ja zuweilen laut redend auf der Strasse; wer hätte es nicht
an anderen bemerkt, Aver sich nicht selbst eimnal in lautlosem gespräche
betroffen, wenn er auf wichtigem gange sich die anrede zurechtlegend
darauf den erwünschten oder befürchteten bescheid im voraus vernimt
und rede mit gegenrede wechselt, oder eine freudige gäbe heimtragend
den dank vorher hört; oder wenn ihm, einen Vorwurf im sinn, die leb-
hafte entgegnung des beschuldigten schon durchs ohr klingt, oder wie er
eine mislungene Unterhandlung auf dem heimwege glücklicher noch
einmal führt. Solches nachsinnen wurde dem minner, der darüber
nicht rechts oder links sah, zum erleben und zur dichtung. So ent-
standen Hausens, Keinmars und ihrer genossen frauenlieder. Ganz an-
ders die früheren, als die phantasie mit diesem träumen und grübeln
noch nicht vertraut, der dichterische sinn nur auf die aussenwelt gerich-
tet, das dichtende gemüt nicht mit sich und seinem treiben, sondern allein
mit den ereignissen und wesen der sinlichen Wirklichkeit beschäftigt war.
War aber die späterhin so üppig fliessende quelle jenen älteren noch
unersclilossen, regte sich ihnen noch der drang nicht zum künst-
lerischen ausdruck dessen, was im herzen vorgieng; so konten sie auch
diese bcAvegungen selbst nicht zum gegenstände ihrer darstellung machen,
sondern griffen notwendig nach aussen, zu den äusseren dingen und
Vorgängen, die ihnen das herz zu freude oder leid mit allen Zwischen-
stufen erregten. Und wodurch wäre das ebenso oft geschehen, wie
durch die werte der geliebten? Was wunder also, wenn neben liebes-
versicherung, mahnung, neckerei des ritters selbst ganz besonders die
klagen und bitten der geliebten, ihre sorgen und schmerzen, wie ihr
stolz und ihre freude, geständnis und botschaft, nachdem sie ihn ge-
rührt oder erfreut, ergözt oder betrübt hatten, als dichtung und zwar
in eben der gestalt, wie er sie aus ihrem munde vernommen, wider
seinem bewegten gemüte entsprangen? Und die erklärung liegt so
nahe, indem wir nur zu glauben und zu veralgemeinern haben, was
uns für einzelne fälle vom dichter selbst eingestanden wird, der dem
Spruche der fi-au durch die Avorte (su) sprach dax (minnecUche) wip
(5, 6. 8, 16) selbst die angäbe der Urheberin hinzugefügt.
ni. Waltlier im Verhältnis zum miiiiiesaiiii und zu der älteren
lyrik.
Darstellung äusserer Vorgänge mit dem natürlichen Verhältnisse
zwischen mann und Avcib war der Inhalt der ältesten deutschen liebes-
ZUR KNTWirKELUNG I^KK ^UW. LYKIK 187
liedcr; innere zustände und vor^-iing-c eines fast überreizten Seelenlebens
iuif dem hintere-runde unnatürlieh zuc,es[)izter verkchrsforinen sind
i^-egenstand des s})äteren, romanisierenden, liüHsclien luinncsani^-es. Es
erhebt sieh die ti'age nach der stellunu' Walthers von der Vüi^-el-
Aveido zu Ix'ideii riehtunccMi.
Als er die laufliahn betrat, hatten auch in seinem vci-mutliehen
vaterlande Österreich die alten weisen der Kürenberi^e dem neuen i^v-
sehmacke weichen müssen und mit Reinniar der hüüsehe minnesan;;'
i^'erade hier am h()f(> der kunstliebenden Habenberi;-er seinen Inihepunkt
erreicht. Hier lernte Walther sini;-en und sauen, und es ist dahei'
natürlich, dass er als nachahmer Keinmarischer kunst begann, deren
hewunderer er nach dem Zeugnis seines kostbaren klageliedes auf den
tod des meisters in gewissem grade auch späterhin geblieben ist. Da-
her versenkt auch er sich in die eigentümliche schattenweit der gedan-
ken; er macht sein inneres zu einem sonderweseu, das sich \vn ihm
trennen und zur angebeteten dame begeben kann: J//// scl/ii/ ist Jiic
)H)il/: SU ist ir (I/r. Itcrxr inhi hi (98, D und ähnlieh -i-i, 17). Ohne
äugen sieht er sie doch, denn das herz schickt äugen hin; die
über sein rätselhaftes wert verwunderten hörer erhalten den bescheid
(99, 27): iccit ir iriwoi, ira\ di/i o/u/ch sin, <i<i mit icii si sil/c diir
ettiii tniitY r\ sind dir tjrdaid.-c des Itrrxru min: du mite sihc ich
dnr innre nnd onel/ dnr nfii/f. Möchte ebenso aucli die herrin
niidern-ilent bei ihm Aveilen! Hoft er ja doch zuversichtlich, dass sie
gleich ihm (14, lö) ril dich' itle/n/e mit </ednnl:e// sei; und schon bei
der l)lossen einl)ildung, dass sie ihn sil/f ii/ ir (jedanken,
an, muss er aufjauchzen. Wenn doch anstatt des herzens er auch
selber einmal leibhaftig l)ei ihr einkehren dürfte: J/ei solten si ',esn-
nieiic kamen, min tip, inin (nämlich bei ihr weilendes) her\e, ir Ixidcr
sinne! (98, 12). Su kann auch er von sich sagen: .\en-nre nränschen
uinJe n:arneu , dcc, Inli midi dielte fro (jemachet (185, 9) und nach trü-
ber crfahrung sich trösten (95, 22): sn-ie rit icli trostes ie leiiiir: su
init iclt doch .\c früiden ?rn)/. Was ei// saetic ///nn roJIe/idc// i//ac,
war auch ihm versagt; al)er mit fast rührender genügsamkeit fügt er
diesem bekentnis hinzu (92, 7): dejcl/ t/tejt ///ir der gedi/ige irul /(//d
der /ritte, de// ich J/d//, deich \ //och erirertien sut. Fort uml fort ge-
denkt er ihr zu dienen (94, 6) /}f de// n/i////ect/r]/r// irü// und ver-
sichert (119,5): d</\ e//tcil//de //ie//ia/t ///ir (jerdte// da: icl/ sd/iede rui/
de/// /rd//r. Und was ist der grund solcher hofnungy Mi// f/edi//(/r
ist, lautet die antwort des minnesängers (14, 14), dr/- ich t/i// hutt ///it
reht.cn iriuirc/i, daxs oucli n/ir da\ selbe si. Auch die kehrseite, die
188 STREICHER
klage über die quelle seiner leiden fehlt nicht. Er ist des hangens
und bangens müde, wie sein meister Reinmar (41, 35): Hexen mich
(/eclanke frt, son iviste ich niht umh ungemach.
Ganz natürlich, da doch auch sein Verhältnis zur dame, seine
Schicksale und erlebnisse in diesem punkte die des minnesängers sind.
Eigenlichen will er ihr undertän bleiben sein leben lang (120, 16), sie
hat allezeit über ihn gewalt (109, 5), vermag ihm (109, 6) wol trüren
wenden unde senden fröide mannicvalt. Ja cd min f7'öide lit an
einem ivibe (115, 14) und wider nü min fröide und cd min heil, dar-
xiio al min werdekeit niht wan an dir einer sidt (97, 15), so singt
er mit Reinmar und Hartmann. Aber gross ist die Zuversicht auf diese
fröide auch bei ihm nicht, er betet daher (120, 32): nü müexe ex got
gef liegen so daz ich noch von iväreyi schulden werde fro, indem er
vorläufig zugesteht: noch, min fröide an xtvivel stät und zufrieden ist
ZU wissen, dass diu, guote ihm seine not mac vil tvol gebüexen: ob
sis willen hat. Auch an sie selbst richtet sich seine bitte (97, 21)
doch soll du gedenken, saelic ivtp, dax ich nü, lange hniiber hän und
mit berufung auf seinen dienst (97, 32) du soll mich, froive, des ge-
niexen lun, daz ich so rehte hän gegert. Aber das freilich alles nur
von ferne; denn er gesteht uns (121, 26) swie dicke ich ir noch bi
gesaz, so ivesse ich minner danne ein kind (vgl. 115, 26). Heisst es
daher auch bei ihm (121, 3): ich kan cd) endes niht gewinnen — ■ ein
grund für weitere, neue hofnuug findet sich noch immer: darumbe
u'acre ich nü verxagei, ivan daxs ein wenic lachet so si nur versaget.
Dann kommen ihm seine gedanken zu hülfe und bauen das ganze
luftschloss auf diesem felseogrunde auf, bis er am ende das verheissungs-
volle bekentnis der vermeintlichen geheimen Zuneigung seiner dame
aus ihrem munde zu erlauschen glaubt (113, 33): Ich minne einen
ritter stilk; dem enmac ich niht versagen nie des er mich gebeten hat:
tuon ichs niht, mich d^inket, dax niin nietner werde rät dax
ichx iemer einen tac sol fristen, dest ein klage, diu mir ie bi dem
herxcn lac. Erwacht aus dem tröstlichen wahn wünscht er dennoch
(119, 17) Got gebe ir ietner guoten tac und laxe mich si noch gese-
hen, diech mifine und niht erwerben mac; und was Hausens (z. b.
47, 1) und Reinmars stolz war, kein böses wort gegen die hartherzige
zu sprechen, des rühmt er sich auch (71, 31): ein ander man ez Hexe:
nü volg ab ich, swie ich es niht geniexe. sivax ich darumbe swaere
trage, da enspriche ich niemer iU)el xuo, wen, so vil dax ichz klage.
Ja er Übertrift sie noch fast durch die frage (97, 1): tver sol dem des iviz-
xen danc, dem von staete liep geschiht, nitnt der staete gerne ivar?
zu« ENTW!OKET,TT.\(t DKR MIHI. I.YIi'IK 1S9
(lein (111 slai'lc nie (iihiiic, oh nidii den ni slaclc sihl , seht, des slaclc
ist li'ilcr (jdf. Mit itllcn (licscii züi;eii, (Iciii wiilincii und simicii ciiior-
seits, (Iti- hilflosen liingebung an die i^'ütc, der iuispruclisloscMi eri^(!-
I»im,^' in die liürtc einer aiii;'C beteten lien-in, dem i^'an/en kultus uni^-e-
leiintei' liebostreuc andrerseits steht der diehler diireliaus auf dem boden
liötisclien lebens und seiner p()(^si(\
(ianz anders i^-eartet sind die beder, denen w'w uns nunmehr
zuwenden. Da beklai;'t der (Hehter (7;'), 2")), dass (He bunte weit i;'i'au,
die vui;'el stunuu i;e\vui-den und nni' die nelx'ikrähe noch schreie. Wo
(U- im soniiiuu' i;-esessen auf ^i'iinem lasen uiul bhnnen und klee zum
kränze sprossten, ihi liei;e nun reif und sehnee. Der arme mann
Itesehwei'e sieli idter (Vw wiuterkidte. Der säng-er aber selbst liegt ver-
diussen daheim und murmelt nüirriseli: <■ <J(r. ich hiinje lit scihcr dn)
lichlniniicl Hitcrr, als icli hin iiu, ich irnnh' r niihich \c Tohcrli).
Uiul uidei' klagt ei- (HS), 1): Uns liät <h'r iviiihr (i<sch(i(hi iihcr al , sehnt
sieh naeh dem frühlin.ge mit seinen freuden : snchc ich die mc<i(h' an
(Ur s/n'r.r (h'n hal irerfcii! so Ir/cntc uns der voijeJe seimig und nKk-hte
drum rersh'ifen des winters .\if, tröstet sich aber damit, dass ja aiu-h
der weichen müsse: /rei\</of er h'/f doch dem nieien den strit: so lise
ich hht(nnen (h) r/f'e i/n h't. Und wenn der niai gekommen, noch
mächtiger als der winter, und pfaffen und laien ausgehen, ihn zu
l)egrüssen, da bleibt auch er nicht zui'ück, traurige weisen anzustim-
men, sondern ruft (51, 2?>) ziun tanzen, lachen und singen und Jubelt
mit allem volke dem '.otthentere entgegen: Wol dir, iin-ie, /cie dn scj/ei-
dest (dh'\ dne J/a\ ! n:ie nud du die hau nie Ideidest nnd die lieide hü\! Wie
er geheissen und im winter herbeigesehnt, so scharen sich nun die mäd-
chen auf dem plan, den ball zu werfen und den reihen zu schwingen,
und der sänger ist unter ihnen. Einen kränz von blunien in der band
ist er unter sie getreten, ihn einer n-olgetdnen nntget mit freundlichen
Avorten darzurei(dien. Nicht vergeblich ! Nicht vergeblich auch hebt er
die haiul zur l)eteurnng empor, dass er ihr lieber gold luid edelstein
aufs haupt sezte; denn das mägdlein verschmäht die gebotene gäbe
nicht ujid dankt gar anmutig und sitsam gleich einem edlen fräulein,
errötend wie die rose, die neben einer lilie steht, und gewährt ihm
k(istlichen lohn. Es wird ihm so selig, wie niemals noch. Da tagt
es, er erwacht und die herlichkeit ist dahin: sie war ein träum. Aber
die hofnung, dem traumgesicht im leben wider zu begegnen, lockt (Vni
munteren träumer den sommer lang hinaus auf den plan, wo sich jenes
heitere, bunte leiten abspielt. Ob die gesuchte darunter ist? Welcher
Jubel, wenn er sie erschauen solte, mit seinem kränze geschmückt!
190 STREICHER
Rucket üf die Miete ruft er drum unter die tanzenden. Und er wird
die seine wol gefunden haben. Unter die linde auf der beide sind sie
gegangen, wo die nacbtigall sang, er vor ihr, sie ihm nacli, und er
hatte inzwischen bereitet von bluomen eine hcttestat und sie mit tau-
send küssen empfangen. Niemand hat die beiden bei einander gesehen,
aber gebrochene blumen und gräser zeigen noch die stelle, wo ihr
haupt gelegen, dem zum heimlichen ergötzen, der desselben pfades
geht. Welch mannigfaltig buntes, heiteres leben in diesen bildern! Da
ist kein klagen und jammern, das uns teilnahmlos lässt oder gar ver-
driesst, kein hoffen und trösten, dessen nichtigkeit wir durchschauen.
Niclit schattenhaft schweben hier unsichere gedanken durch mauern
und wände, sondern lebendiges, fröhliches volk tummelt sich in früh-
iingslust auf grünem plan. Kein demütiger, wehmütiger minner steht
im geiste vor seiner harten herrin, die oft unsern beifall erwirbt, wenn
sie ihn abfallen lässt, sondern ein munterer sänger schreitet durch den
kreis froher tänzerinnen, guckt allen vast imder dougen und bringt
seinen kränz zu unserer befriedigung nicht umsonst, während das mäd-
chen zwar nicht den geliebten abzuweisen versteht und nichts von den
grübeleien und bedenklichkeiten weiss, unter denen jene damen ihre
hingäbe versagen oder erklären, aber dafür wie des Kürenberges mägd-
lein schamhaftes erröten kent. Als er vor sie tritt mit dem liebeszei-
chen, heisst es (74, 32): do erschnmjjten sich ir Hellten ougen. Nicht
wahnfreude webt im trüben dämmerschein grübelnden sinnens ihre bil-
der, nicht halb unterdrückt wagt sich die, sei es ängstlich verhaltene
oder bloss eingebildete, unwahre, immer aber zurückgewiesene, ein-
geschüchterte empfindung einer zimperlichen, in den zwang unnatür-
licher formen gebauten geselschaft hervor, sondern keck wird begehrt
und lieblich gewährt, und ungehemt entquilt die jubelnde lust dem
herzen freier, leichter menschen im hellen Sonnenlicht des wirklichen
lebens. Kurz es erscheint hier erstens das wesen der geschlechter und
ihr gegenseitiges Verhältnis natürlich und unbeeinflusst von ritterlicher
verkehrsform und sodann der dichterische sinn nicht auf sich allein, son-
dern auf die aussenwelt gerichtet; d. h. die beiden kenzeichen des eigent-
lichen minnesanges fehlen, und es berühren sich vielmehr solche lieder
mit jenen vor dem minnesange entstandeneu. Berühren sich aber frei-
lich auch nur; denn wie hoch hat sie Walthers durch die schule des
minnesanges gegangene kunst darüber hinausgehoben ! Dort der schlichte,
treuherzige ausdruck nicht ohne unbeholfenheit, der gedankengang oft
unterbrochen, sprunghaft — bei ihm die klarste folge und eine gCAvante,
spielende, anmutige spräche; dort ungenaue reime und härten des vers-
Zint KNTWICKKI.UNC HER MIID. I.VKIK 191
l)aues — hier die feinsten, bio^'sainsten nidodicHMi; dort nur ein oinzolnes
biidt'hon, /uwcilcn melir angedeutet als ausgeführt — hier ('ine sieh
entwickehule, an gestalten und fai'l)eii reiehe handlung; dort halb
unbewussfe ■ — hier die berechnendste kunsf.
Und was ergiljf sich aus dem bisherigen für Walthers dichterischo
entwicklung? Dass man die (hirstellung unserer licchMiiandsein'ift, die
ihn auf grund des bekanten gediehtes (8, 1) mit übereinander geschhi-
genen Ix'incn zeigt, das liaupt gedankensclnver in die band gestiizt,
die äugen vor sich hin gerichtet, mit inn'echt als sinbild seiner dicbtimg
ansehen würde. Denn so allein, in nachdenken verloren, den l)lick
nicht hinaus, sondern hiiu'in in die selbstgeschafne traumweit seines
herzens gc^beftet, mit sich und für sicii allein dichtend zeigt sieb nicht
W'alther, sondern die minnesäugor vor und zu seiner zeit. Ihr blick
sah nui- (li(^ iKMigefundene enge weit des eigenen Innern, und dahinein
schienen sie sich wie auf ein weit entfei'ntcs, einsames oiland mit d(M'
tVeude der ersten ontdecker ganz geflüchtet zu haben. Walther nicht
el)enso! Denn war auch ihm sein herz einmal eine solche stille Zuflucht
gewesen, so fesselte sie ihn doeh nicht auf die dauer und lag dem fest-
lande näher, wohin sich daher sein wideraufgeschlagenes äuge wendete;
l)ald stand er sell)st mitten im getümmel. Peinige gewiss im anfange
seiner tiitigkeit entstandene lieder zeigen ihn noch ganz von dem Zau-
ber befangen, der die minnesänger im umkreise ihrer innenweit gefan-
gen hielt; die zulezt angeführten — deshalb aber natürlich nicht not-
wendig die jüngsten — bilden in dieser hinsieht den gegensatz. Er
gibt die richtung an, die Walthers entwicklung nahm, und bezeichnet
seine stelle in der geschichte der dichtung. Während nämlich die dich-
tung bis in Kürenbergs zeit nur objektiv darzustellen vermochte, die
minnesänger aber sich den bereich des subjektiven erschlossen und
mit einer Avundersamen hingäbe pflegten, ist Walthers blick für den
engeren wie den Aveiteren kreis offen; nicht als ob er, ein äusserlichei-,
nur kunstreicherer uachahmer des älteren von dieser l)etrachtungsweise
zu jener zurückgekehrt sei, sondern indem sein dichterischer geist beide
fähigkeiteu als nur verschiedene äusserungen seiner kraft in sich ver-
band und, seitdem sich seine eigenart herausgebildet, zu gleicher zeit
in anweudung brachte. Das bezeugen die bei weitem meisten aller
seiner dichtungen, von denen man daher bei mangelhafter Überlieferung
wol dies oder jenes einem Reinmar, keines einem Meinloh, Dietmar,
Kürenberg beizulegen in Versuchung kommen könte.
Verfolgen wir die durchdriugung dieser Innerlichkeit und äusser-
lichkeit, und die anrede des mägdleins in dem lieblichen gedichte
192 STREICHER
Unde7' der linden: da muget ir vinden schone beide gebrochen hluo-
men unde gras möge der aiisgangspunkt der beobachtuiig sein. Yon
dem Unvermögen des minnesängers , sich trotz der bestimmung seiner
lieder für den vertrag in ritterlicher geselschaft in eine lebendige bezie-
hung zum hörerkreis zu setzen, ist oben ausführlich die rede gewesen.
Solte hier einmal Walther und leider in einem der anziehendsten lie-
der der gleichen unbekümmertheit oder nachlässigkeit verfallen sein?
Denn bedeuten die angeführten worte mehr als eine leblose wendung
und soviel wie eine aufforderung des mädchens an zuhörer, hinzugeiien
und die stumredenden zeugen ihres bekentnisses zu suchen, müste dann
nicht dem dichter entgangen sein, dass ein solcher aufrnf nicht nur
mit natürlicher Verschämtheit überhaupt, sondern auch mit ihrem so
reizvollen und zarten ausdrucke in der schlussstrophe einen unverträg-
lichen widersprucli bildet? Er ist ihm entgangen, sonst wäre er ver-
mieden worden. Aber nicht ein mangel an beziehung zum liörer kann
ihn veranlasst haben. Denn gerade die lebhaftigkeit derselben unter-
scheidet Walthor von den minnesängern , und hierin stelt sich ein ein-
dringen des Objektes in das subjektive dar. Treten auch bei ihm nicht
immer nur lebendige menschen auf, ihn selbst sehen wir fast stets vor
solchen stehen, mit ihnen sprechen, was seinen dichtungen in beson-
derer weise den schein der Unmittelbarkeit, des lebens verleilit. Er
spricht von seinem tröste, nein, einem Ideinen troesteUn, das ihn in
seinen zweifeln erfreue, und fügt zaudernd hinzu (66, 3): so kleine,
sivenne ichz iu gesage, ir spottet ))ihi. Er fragt in den kreis hinein
(69, 1): Saget mir ienian, wax, ist nmine? . . der sich hax denn ich
versinne, der berihte mich ..! gibt sich dann selber den bescheid minne
ist minne, tnot si ivol: tuot si 2ve, so enhevxet si niht rehte niinne
und bedingt sich nun, willens diese antwort zu erklären, zuvor im
falle des ein Verständnisses die Zustimmung der hörer dazu so aus: Obe
ich rehte raten hilnne, wa% diu minne st, so sprechet denne ja! Ein
andermal wird frauenschönheit über frühlingspracht gepriesen, und die
anwesenden mit der behauptung überrascht, wenn eine edeliu fronive
schoene reine durch die menge schreite, so Hessen sie alle lilumen
stehen, um das iverde ivip zu schauen. Und da man doch nicht recht
einverstanden scheint, so fordert er, für seine person über die wähl
im reinen, auf, es alsbald zu probieren (46,21): Nil ivol dan, weit ir
die urlrheit schouwen! gen wir xuo des meien huhgexite! Wider
vergleicht er die Schönheit der lierrln mit einem köstlichen gewand,
das sie angelegt; und als könne ihr in den sinn kommen, ihn wie
einen fahrenden zu belohnen, erklärt er, gegen seinen gebrauch solch
ZUR ENTWICKFLUNG DER MIID. LYRIK 193
ein getragen kleid fürs leben gern anzunehmen, dem zu liebe spielmann
zu werden, auch ein kaiser nicht erröten würde (63, 5). Vor ihm aber
sass gewiss, als er dies zuerst sang, der kaiser in der tat; denn um
die Wahrheit seiner Versicherung zu erweisen, ruft er: da, heiser, spil!
und man meint den angeredeten aufstehen und nach der hingehaltenen
leier greifen zu sehen; da bereut der sänger das gefährliche spiel und
zieht sie bestürzt zurück: nein, herre heiser, anderswä! Diesen verkehr
mit der Zuhörerschaft, an deren ohr sein lied klang, hat kein minne-
sänger vor Walther gekaut. Schienen sie blind vor ihr zu stehen, so
sieht ihi- AValther in die äugen, bemerkt ihr fragen und verwundern,
zustinunung und Widerspruch und kann nicht anders, als sich an sie
wenden. Meist erhöht dies den reiz seiner dichtung, in dem gedieht
vom mägdlein unter der linde tut es ihm entschieden eintrag. Was
des mädchens herz beglückend erfült, vernimt niemand; nur der dich-
ter hört es, weil er den Vorzug hat, auch ungesprochene werte zu deu-
ten. Er will andere mit dem erlauschten geheimnis erfreuen und das
Selbstgespräch widergeben, wie ers gehört. Allein die Selbstverleugnung
gelingt ihm nicht ganz ; denn offenbar spricht aus den werten der
anrede statt des mädchens der dichter selbst, der sie vorträgt. Und so
scheint das mädchen statt des dichters aus ihrer stillen kammer als
declamatorin unter einen zuhörenden kreis versezt; oder, anders aus-
gedrückt: der sänger hat die Wirklichkeit seiner läge beim vortrage
einen augenblick deutlicher und lebhafter gefühlt als die erfindung sei-
nes gedichts.
Der misgriff ist eine lehrreiche ausnähme. Immer glücklich aber
bezeugt sich Walthers objektives anschauungs- und gestaltungsvermögen,
indem es die von früheren minnesängern auch wol, aber nur schatten-
haft begrüsste Minne, desgleichen die Staete, die Maxe, den Meie
und andere phantasiegebilde belebt. In einer betrachtung über den
harten druck ungelohnter treue entringt sich ordentlich der gequälten
seele die flehentliche bitte (96, 35): Lät mich ledic, liebe min frö
Staete! Der mai, als habe er sich wirklich eingebildet mit seiner pracht
selbst frauenschöne zu überstrahlen, muss den spott hören (46, 30) her
Meie, ir müexet merze sin, e ich min froiven da verlür. In liebesnot
macht der dichter mit beweglichen werten die minne zu seiner fürbitterin
(109, 25): Süexe Minne, sagt er, stt ?iäch diner siiezen lere mich ein
wip also betivungen hat, bite s^, dazs ir wiplich güete gege?i mir
kere; er bewirbt sich um ihre bundesgenossenschaft (98,36): Nä froive
Minne, htm si minnecUchen an, diu mich twinget und cdso betivun-
gen hat. Frau Minne wohnt in seinem herzen, hat den sin daraus
ZEITSCHRIFT F. DEUTSCHE PHILOLOGIE. BD. XXIV. 13
194 STREICHER
vertrieben und zur herrin gesant, darüber beschwert der dichter sich
bei ihr (55, 12): tvie Imnde ich mie sin genesen? du wonest an siner
stat, da'r inne solte wesen: du sendest in die tveist wol ivar. dan mac
er leider niht erwerben, fi'mve Minne. Seufzend macht er ihr drum
den Vorschlag: du soltest selbe dar erdringest du da dhie stat, so
lu mich i7i, dax, wir si mit ein ander sprechen, und so dringend ruft
er: Oenäde, froive Mmnef ich wil dir umbe dise boteschaft gef Hegen
dines willen vil: wis ivider mich nü tugeiithaft, so vorwurfsvoll fragt
er: GenaedecUchiu Mi?ine , Ul: war umbe tuost du mir so we? lockt sie
mit versprechen und fasst sie schliesslich bei der ehre, um sie aufzu-
reizen exn ivart nie sloz so manicvalt, daz vor dir gestüende, diebe
7neisterinne. tuo üf! sist wider dich ze balt. Dies gedieht ist dafür
besonders lehrreich, indem es den engsten Zusammenhang Walthers
mit der bisherigen minnepoesie aber auch seine eigenart, die anschau-
liche lebhaftigkeit seiner erfindung deutlich aufweist. Das gebild sei-
ner Phantasie erscheint nicht wie sonst z. b. in Hausens sich zum
vergleich bietenden kreuzfahrtsliede (47, 9) bloss als des dichters inne-
res neben dem dichter, sondern neben dichter und innerem (sin) als
ein drittes, ursprünglich auser ihm vorhandenes. Man erkent die Ver-
schiedenheit des dichterischen Vorgangs, dort das Unvermögen, eine
andere, hier die absieht, gerade diese gestalt zu erfinden; er konte
ja auch die treue, konte — etwas gewiss ausser ihm liegendes —
den mai, konte auch fremden liaz und iiit ebensowol als persön-
liche wesen darstellen. Diese beiden werden einmal angeredet (59, 5)
ir spehere, so ir niemen staeten ynilget erspehen, den ir verkeret, so
hebt iuch hein in iuiver hüs. Auch das ihm unfreundliche glück
wird verkörpert als frö Saelde, die ihm immer den rücken zukehrt
und ihn nicht ansehen mag. Loiif ich hin umbe, ich bin doch iemer
hindcr ir, heisst es da (56, 1); und das anschauliche bild wird bis zu
dem schalkhaften wünsche festgehalten: ich ivolte, daz ir ougen an ir
nacke stüenden: so müest ez an ir dank geschelien. Denselben sinn
für anschaulichkeit bezeugt die vor Walther unbekante ausführlichkeit
über weibliche Schönheit und die äussere erscheinung der frau, wie in
der deutlichen Schilderung der einherschreitenden (46, 11), wie sie ivol-
gekleidet unde ivol gebunden . . . zuo vil Hüten gilt hovelichen höh-
gemuot, niht eine, umbe sehende ein ivenic under stunden.
Auch in seiner Stellung zur besungenen dame und zur dame der
geselschaft überhaupt ist Walther in dieser mehrzahl seiner höfischen üeder
kein minnesänger im älteren sinne, und sein selbstbewustsein erinnert viel-
mehr an den mann in den frühesten liedern. Er bleibt ein Verehrer der
ZUR ENTWICKELUXG DER MIID. LYRTK 195
frau, doch seine «praclie gogen sie liat die füi^-sarae unterwürfig-keit
(>inos Hansen nnd Keinmar abg'elogt. Wenn jene Jinr schiichtern die
bittcnik vcriuutuiig gewiigt, der scliooie ihi'cr herrin werde (joidde
anoli zugescit sein, si» tritt der ähidiche gedaida^ bei ihm als eiitschie-
dcnc mahnung anf (121, b): Sl sd/c, dd-.s innen sich bcirnr si silii-
ncl n\cn friildotriili - (hr.s (tu den siUii 1hl irre rnr^ die er ihr als
hiilhehe erwartimg ins gesieht \vi(h'rii(ilt (Sß, 1): häl li\ als icii iiiiih
veriv(n')t(', iiiictr hi (Ur ifohichiciic , ic<t\ diuntc (in in einer ti'en lil!
Er hütet sieh vor grossem h>be, ja kent t'eider an ilir; nnd bestehen
sie aneh nur (hirin, (hiss (öl), 20) si sclnidet ir rinden irild und tnot
ir friniiden in', so hat er (hx-h auch anss<M' sclioene und e/v keine
tagend zu preisen. Tnd im get'ühl, wedei- ihr noch andern damit
genug zu tun, sehliesst ei' kurz nnd fest: ich seil in (jerne Insent:
im ist niJil nie da .... nur, iril si nn'rcY hiesl irul (jelohl : lohe nn-
dersiri). Sell)st vollen tadel müssen sieh die sonst so hocligelobten
gefallen lassen (!;)1, 1): Li'il niicJi .\i(o den, froniren (/(in: so ist düK
min (liier ineisle Ihnje , so ich. ie inerc xiiiiie hCin.^ so icli ic niinrc
irerdeheil h(j(((/e (vgl. 48, 25). Für die sanftere änssernng dieser selbst-
gewissen Überlegenheit besonders bezeichnend ist das hübsche lied
((52, 2(3), in dem er einen aussprneli seiner dame gegen sie selbst wen-
det: Sirc)- mir hesicnerc inineii '/nind, dn:. ich den nniche irider frd,
sagt Ihr zn mir, nnn diu h're, oh si mit triaivcn sl, dax scJiinc an
in. icli, frönirc incJi, ir hesiraerct -mich: des schämt iuch , oh ich;.
reden i/ehir, hit inirer irort niht velsclicn sich und ircrdet giiot: so
hdht ir in'tr. Man merkt überall, dass ihm die sache gar nicht so
erschrecklich tief geht, wie es die minnesänger von sich ohne anfhören
nnd angenscheinlich aufrichtig versichern. Der ernst nnd die selbst-
bewnsste würde dieses mannes striinbte sich offenbar gegen die oft
läppische guadenl)ettelei nnd sein auf Wahrheit und natürlichkeit gerich-
teter sinn gegen die unnatur des geselschaftlichen frauendieustes. Treue
ohne Wandel, Avenn auch ohne lohn war der Wahlspruch des miune-
sangs; die zu lieben, die ihn wider hasste, das immer von neuem
lieklagte loos des einen wie des andern. AValthers stolz kent solche
liebe nicht, und seine meinung- lautet vielmehr (69, 10): Minne ist
xweicr hcr.^eii iriinne: teihnt si gelicJie , sijst diu minne dd , ohne das
aber nicht; denn (51, 7) eines friiuides minne diit ist niht, du cnst
ein ander bi. minne entoue niht eine, si sol sin, gemeine. Und ist
ihm das glück so wenig hold wie jenen, dass die vielgeliebte und viel-
gelobte seine lieder doch nicht erhilren will, so fragt er unmutsvoll
(69, 23): icacnet si , da\ ich ir tiep gebe wnibe leit? sol ich si dar
13*
196 STREICHER
U7nhe iinren, dar.. si% wide?' Jcere an mine imzverdekeä? oder erkent
empört (40, 22) owe danne, so hän ich getobet, dax, ich diu getiuret
hau und mit lohe gekroenet, diu mich ivider hoenet. Nicht einmal
lange warten mag er, sondern drängt (69, 16): ivellest du mir helfen,
so hilf an de?' zit. si ab ich dir gar unmaere, dax sprich endeliche:
so lax ich den strlt unde wirde ein ledic man. Mass er aber eifer-
sücliteleien von ihr hören, so stelt er sie vor die wähl (71, 7): wil si,
da% ich andern wibeji tvidersage, so laxe ir min rede ein ivenic hax
gevallen; denn sein grundsatz ist hier wie in andern dingen (49, 16):
sivä ick niht verdienen han einen gruox mit mime sänge, dar her ich
vil herscher man minen nac od ein min umnge. dax Mt: mir ist
umbe dich, rehte als dir ist umhe 7nicJi und er komt zum beschluss:
ich tüil min lop keren an wtp die ktinnen danken: wax hdn ich von
den Überheren? Und wirklich hat sich ja der sänger zeitweilig ihnen
abgewant, um die köstlichen lieder zu singen, von denen oben die rede
gewesen ist.
Sein gegensatz zur herschenden richtung war kein ihm unbewuss-
ter. Das beweisen zahlreiche stellen. So, wie es scheint, gleich die
erklärung (95, 27): Muox ich nü sin nach iväne frö, son heize ich
niht xe rehte ein saelic man, ohne zweifei aber die häufige rechtfer-
tigung seiner abkehr vom höfischen minnedienst. Er nirat gelegenheit,
den tadel derer abzulehnen, die ihm verwixent, dass er seinen sang
so nidere ivende (49, 31): da% sie niht versinnerit sich, wax liebe si,
des haben undanc! sie getraf diu liebe nie. die ndch dem guote und
nach der schoene minnent, ive ivie minnent die? Er bestreitet das
recht, ausschliesslich die froutve, die dame von edler geburt zu ehren,
weil manche den namen führe, die den namen ivtp nicht verdiene,
während jedes ivip auch froutve zu heissen wert sei (48, 38). So hebt
sich sein liebeslied vom dienst einer herrin zur Verehrung der ivipheit
(49, 1), reiner Weiblichkeit, der frauenwürde, des ganzen weiblichen
geschlechts ^. Alle frauen zu ehren ist erst die aufgäbe von Walthers
1) Denn wir hören die Vorgänger Walthers, einen wie den andern, immer von
neuem versiclieni, dass ihn die eine des lierxen . . . heroubet gar für elliu wtp
(MF 42, 9)., dass er um ihretwillen nichts frage nach allen andern frauen (103, 5), dass
sie allein ihm vor allen andern tciben im herzen sei tag und nacht (114, 37), dass
er vür si nie kein ivtp erkös (160, 11), doch sie mir elliu tctp (43, 14. 197, 4.
47, 12. 50, 31. 103. 12), und Eeinmar verteidigt das recht solcher versicherang.
Dergleichen äusserungen sind aber so überaus zahlreich — man braucht jezt niu" auf
die Zusammenstellung bei Meyer Ztschr. f. d. a. XXIX, s. 157 zu verweisen — dass die
wenigen stellen, wo Fenis (81, 25) dii7~ch si yuoten tviben zu dienen meint, Adeln-
bui'g (148, 13) ebenfals um ihretwillen wiU eren elliu wip und Reinmai" (183, 27
ZUR ENTWICKiaUNÜ DER MHD. LVIilK 197
gerciftoni und ab£>-ekläi-tom nüiuiogosaiiij,-, dcni die oinschriiiikuiiti,-, die
(juolci) roll den hösoi (58, 35) zu schoidoii, wol anii-emcsson erscheint.
Mit diesem vorbehält wird es dann als htsun^ ans^cucbcn (90, 11): d((.y^
man clliii irip so/ rrc/i loid Icdoch dir h(strii hir,. Diese gesinnung
sprieiit auch aus der erkliiruni;- (Jö, II): irlni (jclo/ic .si nionrr alle,
sivic. dm losen niisseral/e, sine n:erden olle (jiiot. Xiclit sei ne //wrc,
sondern die t'raucn. (jnoliii iri]), beh'hi't, ermahnt, tadelt er, wie er
alle kd)t, allen dient; an sie lieisst er den gedenken, di'r in heindiehen
sorgen sei; um ihretwillen erteilt er die wiMsnng (i)."), 11): er liio d/ir
einer iri/len so, da: er den (indem n'ol helnnje, und mit hoehgefiihl
spricht er selbst von seinem lobe deutscher trauen. Und auch das
gehört zu den punkten, wo sich Walthers objcddivitiit den minnesän-
geru gegenüber betiitigt; ptlegte ihre phantasie, um andere unbeküm-
inert. nur den dienst der einen, so folgt AValthers lied seinen äugen,
die sich von einer zu andern und allen richten. Spottet er nicht im
hinblick auf die Versicherungen der minnesänger, wenn er ungelohnter
liebesmühe überdrüssig einmal die abweisende fragt (71, ö), was es
ihm deiui nütze, dass er sie miuue ror in oUen''f Sehr wahrschein-
lich, dass auch das streitgedicht (111, 2:!; Keinmar MF 159, 1 fgg.)
gegen solche Übertreibung gerichtet ist und die noch nicht ganz auf-
geklärten werte tler unmässigen an der konventionellen härte der dame
danklos al)prallenden lobrednerei der minnesänger den ihm ohne diese
zu teil werdenden liebeslohn entgegensetzen. Derselben gewohnheit
unverständigen lohes galt sein kurzes i/ie ist ned (/elold , lohe andersn/d,
besonders aber der scharfe spott (Gl, 24): ich iril lip und ere ttud cd
7Jiin heil rcrsircrn: wie Jcdndc sicii dehciniu dannc min crwern?
Yon selbst fallen einem die so exaltierten betenruugen, wie Albrechts
von Johansdorf (MF <S7, 9) ein: su'ennc ich rejn scinilden crarne ir
'Aorn, so hin ich rcrrlnociict ror ijote ah ein hcido/ : aber auch die
widerholten aufrichtigkeitsversicherungen Reinmars (165, 19. 170, 21).
Wol mit recht hat man in einer solchen eine ausdrückliche entgegnung
auf den erwähnten angriff Walthers gesehen, und sie ist geeignet, die-
vgl. 202, 35) verlangt in'r siili/ alle froifcn crcii (doch vgl. 183, 24) oder sich trö-
stet, wenn sem dienst unnütz sein ^YÜ^■dl', !<('i sin doch gcrct elliii /r/p, dass diese
ausnahmen nicht für die i'cgel gilten dürtV'ii und es ein irtum war dies ell/'it /dp
ereil sogar das Stichwort der liöfischen siiugrr zu ni'inn'n, während es dum minnesang
ebenso wenig m'sprünglieh angchijrt wie die tröstliche betrachtung über die erzieh-
liche Wirkung des minnedieust(_^s und eine blosse cinbildung und pjhrase ist, wie die
algemeine lilag(! über den alleinigen miserfolg. Wie könte sich Eeinnuir mit recht
rühmen trotz lauter undank von /r/beii nie übel, immer wol zu sprechen, da er ja
doch niu" einer dient, nur von einer den undank erfährt V
198 STREICHER
seil zu erläutern. Reinmar sagt nämlich (197, 3): ivax uinndxe ist
dax, ob ich des hän gesivorn, daz si mir lieber si dan elliu ivip?
an dem eide tvirdet 7iiemer här verh?m: des setze ich ir ze i)fande
minen lip und lässt raten, an wen sich seine frage wendet, denn er
fährt fort: si jehent — die hdhgemuoten nent sie der demütige anders-
wo (165, 19) — daz ich ze vil gerede von ir und diu liebe si ein
lüge diech von ir sage. Aber ihm und seinesgleichen entgieng ja eben
das unnatürliche und auch bei oft'enbarer aufrichtigkeit doch im gründe
genommen unwahre ihrer beteurungen, Walther empfand es und das
gab ihm das bewustsein des gegenwärtigen gegensatzes. Aber im unkla-
ren über die volzogene Umwandlung seiner eigenen poetischen an-
schauung hält er freilich nunmehr das für unaufrichtig und unwahr,
was doch auch ihm ehemals aus dem herzen gekommen war. Das ist
die Unwahrheit, deren trägern als lügenaeren das testamcnt des dich-
ters seine swaere verschreibt (61, 3): min unsinnen schaff ich den die
mit velsche minnen, während den'frauen statt des wolgefallens an sol-
chen diensten nach herxeliebe senendiu leit zugedacht ist. Denselben
lügenaeren galt die schwere beschuldigung (44, 30): unstaete, schände,
Sünde, unere, die rdtent sie sivä man sie hoeren wil . . . daz wirt noch
maneger frowen schade. Man sieht, er hat auch die sitlichen Wider-
sprüche in dem gedankenkreis des minnesängers erkant und glaubt von
sich sagen zu dürfen: ich seine von der rehten minne, daz si waere
Sünden fri; und das ist die, die er oben den frauen zu hinterlassen
wünscht. Von diesem Standpunkte Walthers war übrigens nur ein
schritt zu Wolfram von Eschenbachs lobe der eigenen hausfrau. End-
lich werden auch Walthers oft widerholte beschwerden über das aus-
sterben der fi'eudigkeit in der weit und die endlose traurigkeit auf
eine algemeine Verstimmung und bedrücktheit zielen, die als eine folge
des undankbaren dienens und singens eintrat. Die rührende klage
(120, 10): outue deich niht vergezzen mac, ivie rehte fro die liute
wären könte dann vielleicht als zeugnis dafür dienen, dass der dichter
in seiner Jugend noch die ausklänge des älteren, natürlicheren, leicht-
lebigeren gesanges vernommen hat.
So wendete sich Walthers minnelied vom träumen zum loben.
Aber das leben bot seiner dichtung viel mehr als nur minne. Wenn
er einmal als bedingung für die widerherstellung seiner lebeusfroude
die beiden punkte nent, dass iverdent Husche liute ivider guot undc
iroestet si mich, diu mir leide tuot (117, 5), so ist das schon eine für
Reinmars dichterischen gedankenkreis unmögliche Zusammenstellung.
Geradezu verletzend aber muste diesem die geringe Wertschätzung des
ZUK K.NTWU'KELU.Na DKli Mim. LYRIK 199
p;-leicluMi g-egc]i stau des vorkoiniiieii, die des dieliteis erklariiiii;' an trau
]\Iimie ausspricht (öS, 19): si bes/ioeJic, irn die schsc sin: nni niir häts
in der n-ochc ic dtii silirudcii lac So hat sich in (h'r tat A\'al'thcrs
dichtung- vuiu engen ki-cis des eigenen weltvergessenen, niinnendeii
inneren zui' hehandhmg (h'r sitlicheu und pelitischen dinge und hege-
benlieiten erweitert im natiii'h'chen lertlaut' (h'r heohachteten t'utwick-
hmg. Tiid die anregung (hizu fand er nicht allein in ih^v ihm
eigeiitiindichen hegaluiiig, sendein nicht /um geringslen auch in den
wan(h'lungen seines üusseren iehens. Nach herzog Friedrichs tode aus
unhekanten gi-iimh'ii \(iin (österreichischen hofe Verstössen, aus behag-
licher soi'giosigkeit und einer zu Iteschaulichem insichselbstverseuk('U
einladenden ruhe hei'ausgerissen, liegann Walther im gegensatz zu Ilein-
luar und . soviel bekant, allen t'riiher('n nunuesängern ein unstätes zie-
hen und wandern, reicli an midu:'n. sorgen, eiitbelirungen, enttäusehun-
gen, das wdl geeigni't war, ihn nachdrücklich mit (hm gestalten und
ereignissen (h'j' wirklickeit in beridirung zu l)ringen. Er hat am hofe
k(hug l*hilip[)s gew(nlt, ist mit kaiser (_)tto gezogen, hat Friedrich 11.
begleitet; er ist bei Uei-nianu von Thüringen und Dietrich von Meissen
eingekehrt, Avider nach Wien gekommen, hat den graten von Katzen-
ellenbogen autgesucht, ist beim Passauer bischof gast gewesen, hat an
die klostei'pforte in Tegernsee gekl(»pft und wer weiss wo ülierall noch,
worüber uns keine nachricht geblieben ist. i\lehr als zwanzig jähre
sahen ihn in dieser läge, heimatlos von land zu land, ja von bnrghof
zu burghof ziehend und gewiss oft am morgen noch zweifelnd, ob er
zur nacht freundliche herbergo linden werde. So glich sein leben dem
eines fahrenden siingers, Avie ihrer viele damals, männer aus dem volkc
und nicht ritterbürtigen geschlechts, im lande luiiherstreiften. in städten
und dörfern gern gesehen, auch auf bürgen ritterlicher herren zuwei-
le]i nicht nnwilkommen. Sie spielten zum tanz auf, priesen die gön-
ner, schalten die feinde und trugen sätze einfacher lebensweisheit vor,
si(di zum ti'ost oder andern zur mahnung. Dieselben miUiseligkeiten
und freuden Avie sie, reizten auch A\'alther zum poetischen ausdruck
nnd schufen eine spruchdiehtung, die, an geist und edler kunst Sper-
vogel und Hei-gers sänge natürlich Aveit überlegen, erst recht das volle
Aviderspiel zu der sich in sinnen nnd träumen verlierenden über-
scliAveuglichkeit des minnegesanges ausmacht. Gleich dem fahrenden
singt er am frühen tage seinen morgen- und reisesegen (24, IS), Avie
ihrer ans späterer zeit viele auf uns gekonuuen sind, preist Avie meister
Spervogel (MF 26, 20. 27, 12) des Avirtes glück und klagt die not des
gastes. Er bittet hier und bittet dort um gastliche aufnähme oder um
200 STREICHEE
lohn für seinen gesang, bei kaiser Otto und Friedrich um ein lehen;
er dankt dem Bogner, dankt dem Meissner für empfangene gäbe und
jubelt kaiser Friedrich dank, als der ihn belehnt. Er verständigt sich
mit dem herzog von Kärnthen, der ihm mehr versprochen, als er hal-
ten konte, trift mit herbem spotte den abt von Tegernsee, bei dem er
wenig gastfreundlich aufgenommen worden war, verlangt energisch und
selbstbewusst lob vom Meissner, den er zuerst gelobt habe: nach dem
grundsatze des spielmanns (MF 21, 13. 21), dass ein narr sei, wer dem
kargen manne, da ex, une Ion helihet, diene. "Wie der bürgerliche Sän-
ger es halbes lob nent (MF 20, 1 — 21, 4), wenn einer draussen gibt
und zu hause geizt, einen toren schilt (21, 31), swer guot vor eren
spart, wie er (22, 5) erklärt swem. daz guot xe herxen gut, der givmnet
niemer ere: so mahnt "VValther die herren in Ostreich (36, 1), die im
sparen ihrem herzog gefolgt waren, da es an der zeit war, nun nach-
dem jener freigebig geworden, sein beispiel auch nicht zu vergessen; so
rät er dem vom kreuzzug zurückkehrenden Leopold (28, 70) auch daheim
zu sorgen, daX' iemaii spraeche, ir soldet sin beliben mit eren dort; so
lehrt er (103, 10): maneger schinet vor den frömden guot und hat
doch falschen 7nuot. ivol im ze hove, der heime rehte tuot\ so end-
lich singt er wider und wider den segen edler freigebigkeit. Aber
auch hier geht Walthers beobaclitung vom engen ins weite, vom eig-
nen ins algemeine. Die üblen zelten, da die (24, 10) jungen frecher
Zungen pflegent und schallent tinde scheUent reine froutven, da das
guot höher gilt, denn ere und gottes huld, der vater hi dem kinde
untriuwe vindet, der hruoder shiem bruoder liuget, geistlich leben in
kappen triuget (21, 34), da friede und recht darnieder liegen, geivalt vert
üf der sträxe und untriuwe auf der lauer liegt (8, 24), rufen seine mah-
nung zu strenger, weiser kinderzucht, sein gebet an gott um bessere
söhne für die schlechteren väter hervor. Durch himmelszeiclien von
angst vorm lezten zorne erfült, lässt er sein lautes ml wachet unter
die schlafende menschheit erschallen. Hübsch bescheiden und nicht zu
hoch hinaus, ist seine lebensregel; die sechs soll sich nicht zur sieben
machen wollen. Manlichiu tvtp, ivipUche man, pfafliche ritter, bit-
terliche pfaffen sind ihm gleichermassen verhasst. Drei dinge machen
die grundlage menschlichen glückes aus: gut, weltliche ehre, gottes
huld (83, 27. 20, 25), eine lehre, aus der man den minnesänger nicht
mehr erkent. Wenn menschenwert in frage komt, so gilt bei ihm:
armen man mit guoten sinnen sol man für den riehen minnen (20, 22).
Er preist den, der sich selbst zu bezwingen vermag und alliu siniu
lit hl huote bringet; er wird ein warmer lobredner der freundschaft.
ZUK ENTWICKKLUNÜ DKK MUl). LYRIK 201
Überall spricht eine reiche und reife erfahruDi;-, der hciiif^ste eifer für
die saclio, der ernst eines grossen, edlen, für die wahren guter des
lebens erschlossenen geistes. Die schönsten und lebensvolstcn erzeugnisse
seines geistes aber gelten dem nach sciiKM- schiitzung höchsten der guter,
der irdischen wenigstens, seinem seit l<aiscr Heinrichs tode von unauf-
hörlichem liürgerkriegc zerrissenen vaterlande.
^'on dem engen halbdunkeln gcdankenlcreise der minnesänger
gieng Walther aus, um ihn durch (dfrige beziehung auf den hörer und
die fülle und sinlicho anschaulichkeit von dingen und gestalten — den
eigentümlichen Vorzug dei' früiiesten epoclie lyi'iseher dichtung — zu belo-
ben, zu bereichei'n und zu erhellen, seine kunst im bcwussten gegeusatz
mehr und mehr aus den schranken geselschafllichen gebrauchs zu natür-
lichen Verhältnissen zurückzuführen nnd ihr endlich statt dos bisher
allein üblichen gegenständes neue aus dem ganzen bereich des sitlichen
wie des politischen lebens zu erschliessen.
In der entwickelung unserer lyrik geschah von Kürenbei'g zu den
älteren minnesängern der erste, von ihnen zu AValther dei' zweite
schritt. Es ist schwer zu sagen, welches der bedeutendere gewesen;
aber das unterliegt wol keinem zweifei, (hiss Walther mit den früheren
minnesängern mehr gemeinsamen boden luiter den füssen hat, als diese
mit ihren — volkstündichen — Vorgängern.
BERLIN. OSKAR STREICHER.
KEUE BELEGE FÜE DEN GEBKALTCII VON TRÄTE =
MHD. ENTETE BEI LUTHEK.i
1) Luther Wider Hans Worst 1541 bl. M" (in Knaakes neudruck
Halle 1880 s. 54): „</« riel diugs [unsre gegner] selbs jtxt Icveii, das
sie xuuor voxJampt, daxu. niclds xu leren Itetten, wenn vnscr Bücher
fheften''. Die Braunschweiger Volksausgabe bd. IV 1890 s. 312 um-
schreibt richtig: ^^icenn unsere Büclier nicht daicären'-''] während der
sonst in der litteratur des 16. Jahrhunderts wol bewanderte pf. Bessert
in seiner besprechung dieser ausgäbe im Theol. litt, blatt 1891 sp. 164
— in unkentnis der jüngst über diesen Sprachgebrauch geführten Ver-
handlungen — hier völlig irre geht-.
2) Auslegung von Joh. 6 — 8 (1530 fgg.) Erlangcr ausg. 47, 230:
^^Denn wo die Verfolgung nicht thüte, so würdert n'ir n'ohl so arg
1) Vgl. diese zeitschr. XXIII, 41. 293. XXIV, 41. 43. 2) Bei der kovrektur
werde ich gewahr, dass diese stelle inzwischen auch von Köstliu XXIV, 41 mitgeteilt ist.
202 KAWERAU, Tli-iTE = ENTETE BEI LUTHER
mid böse sein, als unser Widersacher '•'• . Diese schrift erschien gedruckt
zuerst 1565 im IL bd. der Eislebener supplementbände Aurifabers;
das ^^nicht'-'- ist vielleicht erst zusatz des bearbeiters und herausgebers.
3) Yermahnung an die geistlichen, versamlet auf dem reichstag
zu Augsburg 1530, Erl. ausg. 24^ s. 362 fg. ^^ünd hätten tvir ge-
than, ich sorge ivahi'lich, cur Gelehrten irären der Sachen zu schiva^h
gewesen — ". Auch hier ist zu erklären: Und wären wir nicht da
gewesen ■ — . Dies beispiel ist besonders dadurch interessant, dass hier
diese bedeutung des verbums tun mit ausgelassener negation, die in
allen bisher nachgewiesenen beispielen nur für den einfachen conj. prät.
belegt war, auch in dem conj. der plusquamperfectumschreibung vor-
komt, die ja almählich in bestirnten fällen für das einfache präteritum
sich eindrängte.
KIEL. G. KAWERAU.
EIN BKIEF GOTTSCHEDS AN DEN KÖNIGSBEEGEE
PEOFESSOE FLOTTWELL.
Auf dem archive der hiesigen, nun fast ein und ein halbes Jahr-
hundert blühenden königlichen deutschen geselschaft befinden sich in
einem fascikel „Acta die vermischte Correspondenz der Gesellschaft ent-
haltend. Vol. I" (von mir fortan K. Y. C. I. citiert) 17 briefe Gott-
scheds an den Königsberger professor der weltweisheit und deutschen
beredsamkeit Coelestin Christian Flottwell, der seit 1750 zugleich
das amt eines rektors an der kathedralschule bekleidete und am 2. Ja-
nuar 1759 starb. Der erste jener briefe führt das datum des 21. august
1743, der lezte ist am 19. juli 1752 geschrieben; mit ausnähme von
dreien gehören sämtliche stücke den jähren 1744 und 1745 an. Dass
diese briefe nur einen kleinen bruchteil einer sehr lebhaft geführten
correspondenz darstellen, beweisen die zahlreichen schreiben Flottwells
— es sind weit über hundert — , die über fast alle bände der gewal-
tigen, auf der Leipziger Universitätsbibliothek aufbewahrten Gottsched-
schen briefsamlung verteilt sind. Der lezte brief von Flottwells band
ist datiert den 20. September 1756 und berührt bereits den einmarsch
der Preussen in Sachsen. Mit diesem jähre schliesst überhaupt die
22 folianten umfassende Leipziger samlung. Dass aber trotz aller kriegs-
unruhen Gottsched mit dem Königsberger freunde noch in fernerem
brieflichen verkehr gestanden hat, dafür ist ein Zeugnis jenes an Flott-
well gerichtete merkwürdige schreiben Gottscheds vom 22. okt. 1757
KRAUSE, BEIKF GOTTSCHEDS AN FLOTIWELL 203
mit einem postskript vom 1. noveraber über die widerholten und ein-
g-elienden unteiTcduiigen, deren ihn könig Friodricli der grosse im
Oktober dieses Jahres wenige tage vor der schlacht bei Rossbach gewür-
digt hatte. Dieses hochbedeutsame dokuraent, welches zuerst in den
Neuen Preussischen provinzial- blättern 3. folge bd. lY. (Königsb. 1859)
s. 295 — 301 nach einer auf der Stadtbibliothek zu Elbing aufbewahr-
ten, von dem rektor Joli. Lange (f 1781) herrührenden kopie zum
abdruck gelangte, konte von mir in meiner schrift Friedrich der grosso
und die deutsche poesie (Halle 188-4) s. 87 fgg. leider wider nur nach
jener, einige Schreibfehler enthaltenden abschrift mitgeteilt werden. Yer-
gebens habe ich auf dem archiv der hiesigen deutschen geselschaft und
an anderen stellen dem original nachgespürt.
Flottwell, ein mann ohne geistige Selbständigkeit und schriftstel-
lerische erfindungskraft, war ein unbedingter anhänger Gottscheds. Sein
evangelium war die „Critische dichtkunst", deren regeln auch in weiteren
kreisen zur geltung zu bringen, er sich eifrigst bemühte. Um in diesem
sinne wii'ken zu können und um sich zugleich an der Universität ein
grösseres ansehen zu verschaffen, hatte er noch als magister legens im
jähre 1741 eine deutsche geselschaft gestiftet, die seit 1743, mit einem
staatlichen. Privilegium ausgestattet, den titel einer „königlichen" führte.
Flottwells beziehungen zu Grottsched waren die engsten. Wol gegen
niemand hat sich dieser in seinen brieflichen mitteilungen so wenig
zwang auferlegt, wie gegen seinen Schildknappen in Königsberg, da er
seiner imbedingten ergebenheit gewiss war. Andrerseits berichtet auch
Flottwell seinem meister und freunde mit der grössten Offenheit, was
in den kreis seiner Interessen und sorgen tritt; insbesondere versorgt
er ihn aber mit neuigkeiten aus der hauptstadt Ostpreussens , die stets
mit lebhafter teilnähme entgegengenommen werden. Diese oft sehr
umfangreichen berichte gewähren einen tiefen einblick in das littera-
rische und geistige leben, in die geselschaftlichen und akademischen
zustände der Pregelstadt. Aus den briefen Flottwells und denen zahl-
reicher anderer Königsberger gelehrten und Schöngeister an den berühm-
ten landsmann in Leipzig weht dem leser recht eigentlich die geistige
luft entgegen, welche die Albertina vor der Kantischen epoche erfülte.
Übrigens sei hier noch bemerkt, dass Flottwell, was bei einem gelehr-
ten jenes Zeitalters gewiss auffallen muss, mit verliebe fragen der hohen
politik berührt. Eine besondere anregung dazu gab ihm wol sein ver-
kehr mit vornehmen, im diplomatischen dienste tätigen personen.
Als Danzel in seinem buche „Gottsched und seine zeit" den lit-
terarliistorischen schätz hob, der in dem zu Leipzig' befindlichen Gott-
204 KRAUSE
schedscheii briefwechsel ruhte, hat er die nach Königsberg reichenden
beziehungen, als ihm zu fern liegend, nur flüchtig gestreift. Gottsched
hing an seiner heimat Ostpreussen mit aufrichtiger liebe, in diesem
punkte zeigt sich der sonst so steife lehrmeister bisweilen von einer
menschlich liebenswürdigen seite^. Auch als er auf der höhe seines
ruhmes stand, waren seine gedanken und wünsche dorthin gerichtet,
wo seine wiege gestanden. Aufs eifrigste war er bemüht, seinem
„vaterlande" und seinen landsleuten zu ansehen draussen im reiche zu
verhelfen. Neue nahrung gewann diese anhänglichkeit , als er im juli
1744 die heimatsstadt mit seiner „freundin" von Danzig aus besuchte.
Das gelehrte paar genoss damals die gastfreundschaft Flottwells, der
mit seiner mutter und seinen Schwestern einen gemeinschaftlichen haus-
hält hatte.
In Königsberg wurden Gottsched und seiner gattin so viele ehren-
bezeugungen und beweise der freundschaft von seinen landsleuten zu
teil, dass die erinnerung an diesen besuch bei beiden stets mit dem
gefühl der dankbarkeit gepaart blieb. Am 10. august 1744 schreibt
Gottsched unter dem unmittelbaren eindruck der Königsberger tage aus
Danzig an Flottwell: „Ob ich übrigens gleich Preussen verlassen habe,
so habe ich doch eine erneuerte und verstärkte Liebe gegen mein Va-
terland, und eine wahre Hochachtung gegen den guten Theil meiner
werthesten Landsleute mitgenommen. Diese werde ich bis in mein
Grab zu erhalten wissen, und bey aller Gelegenheit mündlich und
schriftlich blicken lassen". (K. V. C. I.)
Andrerseits hielten die Königsberger freunde noch an ihm fest,
als sein ansehen in Deutschland bereits völlig gebrochen und sein
name den meisten ein gegenständ des hohnes und der Verachtung ge-
worden war. Noch am 20. april 1756 versichert Flottwell den Leip-
ziger freund seiner unwandelbaren treue: „Die jungen herrn hüpfen
1) Man vergleiche aus seinen gedichten z. b. die 1728 seinem vater zum 60.
gebui-tstage übersante ekloge (abgedruckt in der Grit, dichttimst^ s. 407), in welcher
der durch ein „seltnes Schicksal" in „Sachsens Paradies, das fette Meissnerland "
gebrachte fi'emde hirt Prutenio in folgenden „strengen Seufzern" sich ergeht:
0 dass mich doch kein Wind nur einen halben Tag
Zu dieser Hiilen Zahl in Preussen führen mag!
Wie munter würde da mein treues Herze springen!
Wie würde mir die Lust durch Mark und Adern dringen!
Wie eifrig wollt' ich da durch alle Hütten gehn
Und mündlich überall die Gunst und Huld erhöhn,
Die mir vor hunderten, die meines Gleichen waren,
In Proben mancher Art, zehn Jahre wiederfahi'en. 0. E.
BRIEF GOTTSrHEDS AN FLOTTWELL 205
zwar um uns ältere herum, wie die Spechte. Sie verfolgen uns mit
Neid, mit Spott, mit neuen Gedanken; und Gott weiss, dass so wie
aus der Jurisprudenz in Preussen, so besonders nunmehr aus der gan-
zen Philosophie eine wächserne Nase gemacht wird . . . Wer nun weder
Zeit, noch Jahre, noch lust hat, diese Tändeleien zu erforschen, der
heist ein Ignorant. Und dennoch bleibts daboy: Dieses ist die beste
Welt. Bleiben Sie nur mein alter Gönner und Vertheidiger, so soll
mir diese obgleich unter Arbeiten u. Ketten saure Welt allezeit die
beste bleiben". (Gottschedsche briefsamlung in Leipzig bd. XXI. Ich
bezeichne sie fortan mit L.) Auch in der deutschen geselschaft blieb
Gottscheds einfluss im ganzen bestehen, so lange Flottwell ihr als direk-
ter vorstand (bis zum Januar 1758). Yergebens hatten sich einige mit-
glieder bemüht, einen neuen geist einzuführen.
Um eine probe der zwischen Gottsched und Flottwell geführten
correspoudenz zu geben, teile ich das lezte jener 17 auf dem archiv
der hiesigen deutschen geselschaft erhaltenen schreiben Gottscheds mit.
Es ist vom 19. juli 1752 und eignet sich besonders zur Veröffentlichung,
weil es einen in sich geschlossenen Inhalt bietet. Es betrift nämlich
die bekante dichterkrönung des baron von Schönäich, dessen im jähre
1751 erschienenes plattes epos „Hermann, oder das befreyte Deutsch-
land" von Gottsched ausersehen war, den Messias Klopstocks zu ver-
drängen. Der brief, am tage nach der feier verfasst, ist ein unmittel-
barer gefühlserguss des krampfhaft nach einer stütze suchenden diktators
und darum von eigenartiger Wirkung. Er ergänzt mehrfach die dar-
stellung des aktes im „Neuesten aus der anmuthigen Gelehrsamkeit"
IL bd. (1752) s. 627 — 630.
Hochedelgebohrner und Hochgel. insonders hochzuehr. HE. Professor
sehr werther Herr Gevatter ^
Nun muss ich E. H. eine entsetzliche, merkwürdige, erstaunliche
und so lange Leipzig eine Universität ist, d. i. 343 Jahre her, uner-
hörte Neuigkeit berichten, die sich kein Mensch noch vor drey Wochen,
oder 14 Tagen so arg träumen lassen, und die ich dennoch zum Yer-
gnügen der Stadt und aller Wohlgesinneten glücklich ausgeführet habe.
Was meynen Sie wohl? Ich habe was gethan, das noch keiner vor
mir in Leipzig gethan hat: und Salomon mag sagen was er will, so
ist doch gestern was Neues unter der Sonnen geschehen. Kurz und
rund, ich habe einen Poeten gekrönet und zwar öffentlich, prächtig,
mit vielen Solennitäten, und Anstalten, ja cum paucis et Trompetis,
dass die ganze Stadt dabey rege geworden ist. Und nun rathen Sie
206 KRAUSK
einmal, wen? Ich weis nicht, werden Sie sagen. Aber Sie kennen
ihn, und er geht ihnen so nahe an, dass Sie mir dafür danken müs-
sen. Ich? Ja freylich Sie, nebst der ganzen kön. D. Gesellschaft:
Denn es es {sie!) ihr Mitglied, ihr Ehrenglied, ihre Zierde und Krone,
der HE. Baron von Schönäich!'^
Da haben Sie nun die kurze Geschichte: mehr werden Sie aus
meiner Einladungsschrift, Rede, und den Gedichten vernehmen, die
nun zusammengedrucket, und mit einer kleinen Erzählung begleitet
werden sollen^. Nur eins müssen Sie noch wissen. Es war gestern
der hohe Geburtstag unsrer Königi. Clmr-Prinzessinn, einer grossen
Beschützerion der Musen, ja der zehnten Muse selbst ''^. An diesem
Tage nun, kam alles was von unsrer Generalität, von Hof und Kam-
merräthen u. s. w. galant seyn wollte, ins philosoph. Auditor: und die
Menge der Zuhöhrcr von allen Facultäten, sonderl. der Studenten war
so gross, als hie noch nie, weder bey Magister Promotionen, noch bey
der Buchdrucker Jubelrede 1740. so gross gewesen. Ein junger Baron
Seckendorf, ein Neffe des Eeldmarschalls Grafen von Seckendorf, der
ihn studiren lässt, und in meine Aufsicht gegeben, vertrat des abwesen-
den Dichters Stelle, und las nicht nur seine Danksagungsode ab, son-
dern sagte auch auswendig einen Glückwunsch an denselben auf der
obern Catheder, mit guter Parrhesie her*^. Kurz mein ganzer Actus,
ist, ringentibus licet collegis quibusdam paucioribus, et multa mala ex
parte Studiosorum minantibus, mit der grössten Stille, Aufmerksamkeit
und Ordnung vorgegangen*^; so dass sie nunmehr alle beschämt sind,
und sich ärgern. Sonderl. war mir der itzige Rector Prof. Christ, Prof.
Poes, zuwider^; hauptsächl. weil er in der Facultät. da ich es als
Decanus vortrug, nicht zugegen war, und ob er gl. Prof. Poes, ist,
um die Krönung eines Dichters nicht eher was gewusst, als bis ich
schon die Anstalten dazu machete. Hier half nun sein Einwenden
nichts: ich hatte die Pluralität, ja, ausser iluu, die Einhälligkeit, und
liess mich nichts irren, obgleich noch Sonntags vorher, der Senior
Facultatis durch ihn auch furchtsam ward, und mirs rieth die Sache
8. Tage zu verschieben, bis man aus Dresden vom Ober Consist. Ant-
wort einholen könnte. Allein ich gab nicht nach, weil ich es für
lächerlich hielt anzufragen, ob wir etwas thun dörften, wozu uns der
König selbst als Vicarius Imperii, 1741. die Kaiserl. Vollmacht gege-
ben hatte ''^. Die AVahrheit zu sagen: so war dieses von uns, auf mei-
nen Antrag, als ich auch Decanus war, gesuchet worden'^ und nun
habe ich auch in der Krönung selbst die Jungferschaft dieses Rechtes
davon getragen.
BIUKF GOTTSCirEDS AN KI.dTTWELT, 207
Da nun diese f^-anze Sache der Von. 1). Ges. /n Kön. liaupts. mit
zu Ehren gereicht; da der Baron iiir Khrc machet, und noch ferner
machen wird, da er sie so scIk'Ui beschenlcet hat^": so wäre es wohl
nicht unrecht, wenn man ihm einen (üiickw. im Namen dei- Kön.
(ies(>llschaft iibei'schiekte. den icli mit /u (h'i' Samndung köimte (h-ucken
hissen. Dieses ist die Haupt Absicht meines Briefes, den K. II. geneigt
zur Kiiülhing zu hringen bedaclit se\ n werch'ii: und zwar je elu.M-, je
lieber, demi die kleine Sammhing muss hier innerhalb 1 Wochen fer-
tig sevn". Man kann unmaassgeblich darinn darauf dringen, dass
Lorberki'än/e sonst von Kaisern mit eigener Hand gegeben woi'den,
und im griissten Ansehn g(>stan(len. Nachmals hätten die Comites I?a-
latiiii sie zwar durch den 3Iisbrauch vei'ächtlich gemachet*. Daher die
Fürsten sie ganzen Corporibus zu verwalten aufgetragen hätten: wie
denn die Phil. Fac zu Wittenb. unter unseres sei. Krmiges Vicariate es
erhalten, in (idttingen aber die ganze Universität es erhalten, und
selbst vor 2 Jahren in Gegen Avart des Königes ausgcübet. Aber mit
solcher Anstalt und Herrlichkeit als wir es gemachet, pro diguitate et
antiquitate Academiae nostrae, ist es noch nirgends geschehen i*. Ma-
chen Sie doch dem würdigen HEn Präsidenten i'' ihrer Gesellsch. und
allen Mitgliedern meine Empfehlung. Versichern Sie HEn. D. Hart-
mannen meiner Ergebenheit, mit dem Vermelden, dass ich noch nichts
gewisses von der Verkaufung des Cabinettes sagen kann, aber noch
immer Hoffnung bekomme, es anzubringen i''. Man imiss der grossen
Herrn ihre gute Stunde erAvarten: denn bisAveilen ist es ein blosser
Eigensinn, wenn sie was thun. das gut und klug ist.
An die wertheste Fr. Gevatterinn, und mein liebes Pathchen bitte
ich mich ergebenst zu empfehlen i'. Die wertheste Mama, und Frau
Schwester, nebst dem HEn Bruder finden hier auch von mir und mei-
ner Lieben, die das kalte Fieber gestern zum dritten male gehabt, die
Versicherungen, von unsrer Hochschätzung ^*: ein gleiches ergebt, an
das vornehme Sahmische ^■' und Lestockische Haus-*^'. Auf mein neu-
liches ])itte ich mir auch Antwort aus'-i. Alle Ihre Mitglieder seuf-
zen nach Antworten, und dem Drucke Ihrer Schriften. "Wie? AVenn
die Gesellschaft vierteljidnig kleine Sammlungen von 0. Bogen her-
ausgäbe. So käme jährlich ein Bändchen vom Alphabethe auf unsre
Messe --.
*) Dalier hätte ick beynali gestern, (wii' IIE. D.Qu.'- bey der Introductioii des
n. Lysius Seu. im Lübeiii(^ht) '•' das Lied siiigeu lassen: O Herre Gott Dein güttl.
Wort ist lang usw.
208
Ich bin, und beharre aufrichtigst
E. Hochedelgeb.
Meines hochgeschätzten Herrn Gevatters
Leipz. d. 19 Jul. treuergeb. Diener
1752. Gottsched.
NB. Die gestr. Solennität kostet über 30 Thl. und kostet dem
Bar. keinen Pfennig. Die Facult. thut es theils gratis, theils trage icli,
theils Breitkopf^^.
P. S. Machen Sie doch an den würdigen Übersetzer meiner Rede
von Wien einen ergeh. Empfehl. Ich verdiene die Ehre nicht, die er
mir gethan; ich habe aber die Zeit noch nicht gehabt sie ein wenig
zu übersehen. Ehestens antworte ich ihm selbst mich zu bedanken ^'t.
Aumerkung'eu.
1) Gottsched war pate der tochter Flottwells, Johanna Cölestiue, die ihm,
nachdem er sich im jähre 1746 mit jiTiigfer Maria Lovisa Lübekin vermählt hatte,
1749 geboren war. In einem briefe vom 25. sept. 1749 teilt er Gottsched dieses
ereignis mit und fügt folgende werte hinzH: „2 Tage darauf [nach der geburt] nahm
ich mir die freyheit in das Taufbuch nebst rmseren HErrn Ober Marschall [d. i.
Johann Ernst von Wallenrodt, geh. etats- und triegsminister und obermarschall, von
1743 bis 1766 protektor der deutschen geselschaft] und Oberhofprediger [d. i. D. Jo-
hann Jacob Qvandt, 1743 — 1772 präsident desselben Vereins, s. unten anm. 12] als
zweenen gegenwärtigen Johannes, den dritten in der Person E. M. aufzeichnen zu
laßen, und meine Tochter wurde Johamia Cölestina getaufet". (L. XIV. bd.)
2) Schönäich war auf anregung Gottscheds am 13. april 1751 zum ehrenmit-
gliede der geselschaft ernant worden. Von seiner hand finden sich auf dem archiv
derselben vier an Flottwell gerichtete briefe aus den jähren 1751 und 1752 (K. V.
C. I) sowie eine dichtung „Friederich Wilhelm", welche in Königsberg zimi druck
befördert werden solle. Schönäich feiert darin den haushälterischen und tätigen könig
Friedrich AVilhelm I. und stell diesem den ersten preussischen könig gegenüber, des-
sen Verschwendung und eitelkeit er in der weise der Memoires de Brandenbourg
scharf tadelt. Flottwell konte für dies poetische machwerk in Königsberg nicht ceu-
sui" erhalten und schickte es an die Berliner akademie der Wissenschaften. „ AUein
Mons. Pelloutier (der bibliothekar der akademie) antwortete mir: er glaubte, die Ge-
sellschaft wolle die Acad. in Versuchung führen, daß sie auf den Grosvater ihres
Stifters gesalzene Asche streuen wolle: die Memoires wären du main de Maitre und
Keiner würde an eine Censur denken wenn das nicht wäre". (Brief Flottwells an
Gottsch. 26. dec. 1752. L. XVII. bd.)
3) Noch im jähre 1752 erschien bei B. Chr. Breitkopf in Leipzig „Der Lor-
berkranz, welclien der Hoch- und Wohlgebohrne Herr, Herr Christoph Otto, des
H. E. R. Freyherr von Schönäich, von E. lubl. philosophischen Facultät zu Leipzig
feyerlichst erhalten hat". 4" (von J. J. Schwabe). Der Inhalt dieser samlung ist
folgender: 1. Die lateinische cinladungsschrift Gottscheds, des damaligen decans der
philosophischen fakiütät, vom 16. juli nebst der deutschen Übersetzung. Gottsched gibt
mit aufwand grosser gelehrsamkeit eine geschichte der dichterkrönungen und teilt das
BRIKF GOTTSCHEDS AN FLOTTWELL 209
diplom mit, durch welches köuig und kurfiust Friedrich August als reichsvicar am
28. december 1741 „dem iihilosophischeii Orden zu Leipzig" die volmacht erteilt
„geschickte und in der Poesie vortreffliche Personen . . durcli Aufsetzung des Lor-
berki-anzes und Uebergebung des Ringes zu gekrönten Dichtern zu machen und zu
erklären" (s. 41). Elf jähre habe das recht geruht; da sei der freiherr von Schönäich
wegen seines heldcngedichts Ilermann, das Gottsched Tassos befreitem Jerusalem und
Voltaires Heiiriade an die seite stelt, von der fakultüt des lorbeers für würdig befun-
den worden. 2. Die von Gottsched bei der feier am 18. jiüi gehaltene rede, latei-
nisch und deutsch. Hierin sucht Gottsched die behauptung zu erweisen, „daß unsere
Muttersprache mit Recht unter die gelehi-ten Sprachen zu zählen, und wo nicht für
gelehrter, doch gewiss für eben so gelehrt zu achten sey, als die griechische zu
Alexanders, und die römische zu Kaisers Augusts Zeiten gewesen" (s. 68). Zum
schluss ruft er den baron v. Schönäich feierlich „zu einem kaiserlich gekrönten Poe-
ten" aus. 3. Vier auf die feier bezügliche gedichte, deren erstes die „Dauksagungs-
Ode des neugekrönten Dichters" ist, ein herzlich schwaches poem.
Im Neuesten aus der anmutigen gelehrsamkeit 1753 s. 46 — 57 erschien eine
inhaltsangabe jener festsamlung und s. 57 — 50 zu ehren des gekrönten barons eine
lateinische ode von D. Erdm. Kupitz. Im 2. bände derselben Zeitschrift (1752) findet
sich s. 627 — 30 der bericht „Zuverläßige Nachricht von der den 18ten des Heumo-
uaths geschehenen ersten poetischen Krönung in Leipzig". Schönäich (f 1807) erlebte
es noch, dass das fünfzigjälmge andenken dieser ki'önung im jähre 1802 zu Leipzig
feierlich erneuert wurde (K. H. Jördens Lexikon deutscher dichter und prosaisten,
4. bd. s. 607 — 8 anm.).
4) Das lob, welches Gottsched hier imd an anderen stellen dieser fürstin spen-
det, war keine servile Schmeichelei. Maria Antonia "Walpurgis, eine tochter des kai-
sers Karl VII., geb. am 18. juH 1724 in München, seit dem jähre 1747 mit dem
edlen sächsischen kurprinzen Friedrich Christian vermählt, war eine ausserordentliche,
von den Zeitgenossen viel bewunderte fimi. An ihr fanden künste und Wissenschaf-
ten eine eifrige gönnerin, ja sie trat auf dem gebiete der musik und dichtkunst mit
eigenen erzeugnissen hervor, so dass die arkadische schäfergeselschaft zu Rom sie
unter ihre mitglieder aufnahm. Daneben zeigte sie für Staatsgeschäfte Verständ-
nis und geschick und hat in der politischen geschichte Sachsens eine nicht unbe-
deutende rolle gespielt. Gottsched ha,t sich um die gunst der kiu-prmzessiu und
ihres gemahls durch überreichmig von büchern und gedichten unausgesezt bemüht
und sah diese bemühungen von erfolg gekrönt. Vgl. Danzel, Gottsched und seine zeit
s. 314 fgg.
5) Das glückwmischgedicht des barons von Seckendorf (in der festschriftensam-
lung „Der lorberkranz" s. 98 — 101) feiert zum schluss nach Gottscheds anweisung die
kurpriuzessin :
„Doch, welch ein lichter Glanz umgiebt mich auf einmal?
Mich dünkt, Minerva selbst erhellet diesen Saal!
Es ist was göttliches, und streuet Licht und Schimmer:
Antonia erscheint, der Preis von Frauenzimmer!" usw.
Der grund, weshalb der dichter des Hermann nicht persönlich in Leipzig
anwesend war um die ihm zugedachten ehren entgegenzunehmen, lag an der eigen-
tümlich kläglichen Stellung, die ihm von seinen eigensüchtigen und launenhaften
eitern zugewiesen wui'de. Er wurde wie ein unmündiger knabe behandelt und in
a!len seinen schritten überwacht, so dass er an eine reise nach Leipzig nicht zu den-
ZEITSCHKIFT F. DEUTSCHE PHILOLOGIE. BD. XXIV. l'l
210 KRAUSE
ken wagte. In seinen briofen an Gottsched gibt er bisweilen seinem Unwillen über
die luiwürdige behandlung bitteren ausdruck. Vgl. Danzcl a. a. o. s. 377. 378.
379. 381.
6) Li dem dem Neuesten aus der anmuthigen gelehrsamkeit 1752 eingefügten
festberichte heisst es auf s. 630: „Die ganze feyerliche Ceremonie ist mit der schön-
sten Ordnung, bey ungemeiner Stille und Aufmerksamkeit einer unzählbaren Menge
von Zuhörern, darunter einige vor großer Hitze fast in Ohnmacht gesunken, voll-
zogen worden, und hat beynahe zwo Stunden gewähret".
7) Johann Friedrich Christ (1700 — 1756), besonders bekant durch seine lei-
stungen auf dem gebiete der archäologie, bekleidete seit 1739 die ordentliche profes-
sur der dichtkunst an der Leipziger Universität.
8) Vergleiche anm. 3.
9) Davon steht in den für die öffentlichkeit berechneten berichten nichts.
10) Da nach den gesetzen der Königsberger deutschen geselschaft die Membra
honoraria verpflichtet waren, „ein schönes zui' deutschen Sprache gehöriges Buch zur
Geselschafts Bibliothec einzuliefern", so hatte Schönäich Chr. G. Jöchers Allgemeines
gelehrten -lexikon (4 bände in 4". Leipzig 1750 — 51) eingesant. Dies „prächtige
Geschenk" wurde am 22. april 1752 der geselschaft von ihrem direkter übergeben
(protokoU). Noch heute steht das schöiie, in braunes leder gebundene exemplar in
der geselschafts - bibliothek.
11) Dieser aufforderung wurde sofort entsprochen. Schon am 7. august mel-
det Flottwell: „Ich eyle gehorsam zu seyn und die freude der Gesellsch. in beylie-
gendcm gedieht zu bezeugen". (L. bd. XVII.) Der „Glückwunsch der königl. deut-
scheu Gesellschaft zu Königsberg an den Freyherrn von Schönäich als ihr werthestes
Ehrenglied" ist der samlung „Der Lorberki-anz " iisw. eingefügt (s. 102 — 104) und
findet sich wider in „Der Kömglichen deutschen Gesellschaft in Königsberg Eigene
Schriften". Erste samlung. Königsberg 1754. S. 368 — 71. Der titel des gedichts
stamt von Gottsched. Das gedieht erhebt sich in nichts über den durchschnitt der
poetischen macliwerke, welche aus dem kreise der Gottschedianer hervorgiengen.
Hier mögen die lezten, in eine ahnungsvolle hofnung ausklingenden verse stehen:
„Die Muse feure dich, gekrönter Dichter, an.
Schwing dich noch hoher auf, so hoch, als Marc kann.
Dein seltnes Beyspiel wird noch manchen Geist entzünden.
Und Leipzigs weise Hand mehr Lorberzweige winden.
Sagt, späte Zeiten! ihm dafür den ächten Dank!
Sein blühender Parnaß erhöh der Dichter Rang.
Der edelste Geschmack wird ferner sich verbreiten.
Wer weis, was bald geschieht? = = = Auf, schafft uns
neue Seyten!"
Der Verfasser war der senior der geselschaft, M. Johann Gotthelf Lindner, spä-
ter rektor in Eiga. Er kehrte im jähre 1765 als professor der dichtkmist nach Königs-
berg zurück und eröfnete am 25. Januar 1766 die seit 1758 infolge der russischen
occupation aufgehobene geselschaft als deren direktor wider. (Protokoll der ges.)
12) Gemeint ist D. Johann Jacob Qvandt, preussischer oberhofprediger
und erster professor der theologie zu Königsberg, geb. 1686, f 1772. Er war Prä-
sident der deutschen geselschaft und mit Gottsched schon von dessen Königsberger
zeit her bekant und befreundet. Er wurde von seinen Zeitgenossen als kanzelredner
viel bewundert, besonders, weil er sich bemülite, in einem reinen und fliessenden
BRIEF GOTTSCHEDS AN FLOTTWELL 211
deutsch zu predigen. Friedrich IT. erklärte ihn noch 1781 für den einzigen redner
Deutsehlands. Vgl. L. E. Borowski, Biographische nachrichten von dem denk-
würdigen preussischcu thcologen D. Johann Jacob Qvandt usw. Königsberg 1794.
G. Krause, Friedrich d. Gr. und die deutsche poesio s. 96.
1.3) In der ersten hälfte des vorigen Jahrhunderts lebten in Königsberg zwei
thcologen namens Lysius, vater und söhn. Der ältere, D. Heinrich L. (1670 — 1731),
wurde im Jahre 1721 theologus primarius an der Albertina und erhielt zugleich das
pfai-ramt der Löbenichtschen kirche; vgl. D. IT. Arnoidts Historie der Königsbergischen
Universität. IL teil. (Künigsb. i. Dr. 1746) s. 168. Über des Lysius theologische
Streitigkeiten s. Arnoidts Kirchengcschichte des köuigreichs Preussen (Königsberg
1769) VIII. buch. 13. kapitel. Wenn Flottwell am 7. august 1752 nach Leipzig
schreibt: (D. Qvandt) „hat ihr Gedächtniß recht bewundert, daß Sie noch an Lysii
Einführmig gedenken" (L. bd. XVII), so wird man das in-stauneu des oberhofpredi-
gers über Gottscheds gutes gedächtnis gerechtfertigt finden.
14) Diesen anweisungen Gottscheds in bezug auf den Inhalt des glückwunsch-
gedichtes haben die Königsberger nicht entsprochen. Das von M. Liudner verfasste
gedieht ergellt sich in mehr algemeinen redewendungen zum preise Schönäichs und
seines Aristarchs. In jenem bereits angeführten schreiben Flottwells vom 7. august
17,52 (L. XVII. bd.) heisst es: „hätten wir mehr Zeit gehabt, so hätten wir eine
kleine historie der Preuß. gekrönten Dichter hinzugefügt; doch dieses bleibt auf eine
andre Zeit ausgesetzt". In der 1754 herausgegebenen ersten Samlung eigener Schrif-
ten hat die geselschaft dies versprechen eingelöst; hier findet sich s. 372 — 402 ein
stück „Kurzgefaßte Nachricht von den gekrönten Poeten in Preußen".
15) D. Qvandt.
16) D. Melchior Philipp Hartmann, professor primarius der medicin an der
Kömgsberger Universität, geb. 1685, -f-1765, war hausarzt der alten mutter Gottscheds
und der Flottwellschen familie. Er war im besitz kostbarer samlungen „von Müntzen,
Naturalien, Börnstein und andern curiosis in Auatomicis und Botanicis", die zum teil
noch von seinem vater, dem 1707 verstorbeneu professor der medicin Philipp Jacob H.
stamten. Pekuniäre Verhältnisse hatten M. Ph. Hartmann genötigt, so schwer es
ihm ankam, an den verkauf der ausserordenthcli wertvollen und mit grossen kosten
und mühen zusammengebrachten samlungen zu denken, und er hatte sich, da Gott-
sched so viele vornehme bekantschaften besass, an diesen mit der bitte gewant, den
verkauf zu vermitteln. Diese angelegenheit durchzieht seit dem jahi"e 1745 immer
wider die briefe Flottwells an Gottsched, bisweilen stelt sich auch Hartmann selbst mit
einem schreiben ein. Trotz aller bemühungen und ti'otzdem im Neuen büchersaal
der schönen Wissenschaften u. freyen künste IX. bd. (1750) s. 362 — 368 eine „Nach-
richt" von diesen samlungen erschien, gelang es Gottsched nicht, den wünsch des
„preussischen Galens" zu erfüllen. Da verkaufte im jähre 1754 Hartmann selbst sein
bernstein - kabinet für 800 taler nach England (br. Flottwells an Gottsched 25. juni
1754 L. XIX. bd.) und im folgenden jähre das münz -kabinet und die uaturaliensam-
lung- nach Petersburg (br. Flottwells an Gottsched 25. nov. 1755 L. XX. bd.). In
I). H. Arnoidts Fortgesezte zusätze zu seiner histoiie der Königsbergschen Universität
usw. (Königsberg 1769) findet sich auf s. 13 bei der erwähnung der Hartmannschen
samlungen bemerkt, dass die naturalien an die akademie in Moskau verkauft seien.
17) Vergleiche anm. 1.
18) Vgl. s. 204. Von den beiden Schwestern Flottwells w^ar die eine im anfange
des Jahres 1749 gestorben, die andere hatte sich in eben demselben jähre mit dem
14*
212 KRAÜSK
„Köü. Eatli liofgerichts Secret. u. Botheumoister Saud" vermählt. Über die lebeos-
stellung seines bruders, der Theodor hiess, habe ich nichts genaueres ermitteln kön-
nen, obgleich er auch sonst in dem briefwechsel zwischen Gottsched und Flottwell
erwähnt wird.
19) Reinhold Friedrich von Sahme (1682 — 1753) gehörte seit dem jähre 1751
dem neuerrichteten perpetuii'üchen tribunal- und pupillencoUegium an, nachdem er
vorher erster professor der juristischen fakultät und direkter und kanzler der Univer-
sität gewesen. Er hatte sich des Vertrauens von drei preussischen königen zu erfreuen
gehabt und wichtige und verantwortungsvolle ämter bekleidet. Eine reihe juristischer
Schriften ist von ihm verfasst worden. Sein haus und das des professor Hartmann
hatte sich Gottsched und dessen gattin bei ihrem besuche in Königsberg im jähre
1744 besonders freundlich erwiesen. In beiden familien muss ein anregender, geistig
gehobener ton geherscht haben. In beiden bildeten anmutsvolle, höheren geistigen
bestrebungen zugängliche töchter die hauptzierde. Frau Gottsched hatte sich dersel-
ben bei ihrer anweseuheit in Königsberg mit besonderer teilnähme angenommen, was
ihr durch eine schwärmerische Verehrung vergolten wurde. Die vornehmen fräulein
hatten eine art akademie gebildet und lagen aufs eifrigste der musik und der dicht-
kunst ob. Flottwell hatte als ein berufener Apollo diese lieblichen museu geleitet,
bis Hymens band den bund nach und "nach auflöste.
20) D. Johann Ludwig L'Estocq (1712 — 1779), krieges- und Stadtrat, profes-
sor der rechte und ehrenmitglied der Königsberger deutschen geselschaft. Er war
seit 1745 mit „Maria Eleonora Hintzin verwittibte Eeussnerin" vermählt, deren erster
gatte Johann Friedrich Reussner der Inhaber der hof- und akademischen buchdruckerei
gewesen. L'Estocq hatte sich das alte Reussnersche Privilegium übertragen lassen,
aber schon 1750 die officin an den hofgerichtsrat Cabrit verkauft, vgl. (Meckelbui'gs)
Geschichte der buchdruckereien in Königsberg (Königsberg 1840) s. 35. L'Estocqs
frau war Gottsched zu grossem danke verpflichtet, da dieser nach dem tode ihres
ersten mannes in einer seinem herzen ein höchst rühmliches zeugiiis ausstellenden
weise bemüht gewesen war, mit hülfe Breitkopfs ihr die weiterführung und Verbes-
serung der druckerei zu erleichtern. Ihre briefe an Gottsched bekunden eine gescheute,
klar denkende frau. Der bekante ostpreussische patriot und schriftsteiler Johann
George Scheffner, der als student eine zeit im hause L'Estocqs gelebt, rühmt ihr
„eine für ihre Zeiten ganz ausgezeichnete Bildung" nach; vgl. Scheffner, Mein leben
usw. (Leipzig 1823) s. 61.
21) Gottsched bezieht sich hier auf ein schreiben vom 3. mai 1752, auf wel-
ches einzugehen mich zu weit führen würde.
22) Erst im jähre 1754 erschienen bei Johann Heinrich Härtung in Königsberg
„Der Königlichen deutschen Gesellschaft in Königsberg Eigene Schiiften in ungebun-
dener und gebundener Schreibart. Erste Sammlung.'' 8". Allerlei Schwierigkeiten,
welche der Verleger bereitete, hatten den druck sehr verzögert. Die dem buche
vorausgeschickte widmung an könig Friedrich IL hatte Gottsched auf bitten Qvandts
und Flottwells verfasst. Der leztgenantc schrieb am 8. märz 1754: „Wegen der
Dedic. werfen wir uns in Dero Ai'me; Sie kennen den hoff, und wir wollen mit ihi-em
schönen Witz wuchern". (L. XIX. bd.) Gottsched wagt sich in dieser widmung mit
einem leisen tadel gegen des königs litterarischen geschmack hervor: „Eure Köuig-
liclio Majestät geruhen aUerguädigst, dieß alleruntertliänigste Opfer einer einheimischen
Gesellschaft, mit eben so heitern Blicken anzusehen, als diejenigen sind, deren sich
ausländische Musen zu erfreuen haben".
BRIEF GOTTSCHFDS AN FI.OTTWF.LL 213
2.'5) Schluss der scitii; zu crgiiiizoii ist uatih-lii'h : (lio Kostou. Das nocli fol-
gende postscriptüin sti-Iif; am raiide derselben soito.
24) Ein mitglied der Xünigsberger doutsehen goselschaft, Christopli Heinrich
von Sehröderß, liatto die lateinische rede Gottscheds „Singularia Vindobonensia" usw.
übersezt. FldttNvcll liattc die arlieit nach Leipzig mit folgender iKiinerkung gesant:
.,IIK. V. Selii-üderl) .. hat l»ey ÜeilÜgcr [^esung Dero Seiiriften sieh besonders in die
trelliclu' i\'ede und Keisebeschi'eibung von AVien vorliebct. Kr liat sie, wie es scheinet,
mit vich'ni (leill übersetzet, und er \v;ir feurig genug, si(^ sogieicji auf S('in(! K'ostiMi
druckiMi zu lallen, wenn ei' niclit Norlier die Erlaubnis vom Vater des Kindes iiab(_'n
müste und wenn er nieiit befürchtete, dali der unschuldigste Lol)Spi'uch auf Eramns-
cum in Preufien verdächtig wäre". (Brief Flottwells v. 11. mal 1752. L. XVIl. bd.)
KÖNICISBERO I. l'i;. Ct. KRAUSK.
BEl?l('nT irP,Ei: DIE VERHANDLUNGEN DER DEUTSCH -ROMANISCHEN
SECTIUN DER. XXXXI. VERSAMLUNG DEUTSCHER PHILOLOGEN UND
SCHULMÄNNER IN MÜNCHEN.
Erste Sitzung.
1. Die deutscli- romanische sectiou constituierte sich doinierstag den 21. mai,
vormittags; an (hm Sitzungen beteiligten sich im ganzen etwa 30 mitglieder.
Die zu gesonderter sectionssitzung nicht in erforderlicher anzalil erschienenen
Ronuanisten lassen durch herrn prof. Freymoiid erklären, dass sie deu anschluss an
die germanische sectiou dem an dii} neuspraclüiclic vorziehen. Es erfolgt die wähl
der herren prof. dr. Brenner und i)rivatdücent dr. (iolther zum ersten, bz. zwei-
ten vorstand und der herren dr. K. Borinski und ih'. R. Otto zu Schriftführern,
von denen sich der lezte das romanische gebiet vorbehält. Auf den Vorschlag des
herrn prof. Osthoff wird für den nachmittag eine genniünschaftliche Sitzung der sec-
tiou mit der indogermanisclien angesczt und danach di(j reihenfolge der angemeldeten
vortrage bestirnt.
2. Vortrag des herrn dr. B. Kahle „über den altnordischen vokalis-
nuis auf grund der skaldeu reime'' (abschnitt aus einem demnächst erscheinen-
den werke über die spräche der skalden auf grund der binnen- und endreime). Der
vortragende orientiert über das material, ausgaben (Gislason, Wisen, Unger, Gering) und
chronologische begrenzung (800 bis mitte des 14. jh.), erörtert die für den lautstand
in frage konnnendcn Verhältnisse der skaldenmetrik — gleiche vocale und conss.
(adalhending) in den binnenreimen der geraden zeilen, gleiche conss. (skothcnding) in
den binnenreimen der ungeraden — und geht alsdann auf die erscheinungen des u-
(r)- Umlauts ein. u (r) ist erhalten oder geschwundmi in der historischen zeit (bci-
spiele mit geschwundenem n nom. n. pl. von «- stammen: haiid : ntiidtt jI'j('i{)olfr
or Ilvini]; nom. sing. v. fem. ff -stamm: liall : (lUa)) [Sighvatr]; beispiele mit erhal-
tenem n: dayr : fagnon [Sighvatr], alls : si/Jalhitj/ [Eiuarr Skulason]. Bei densel-
ben dichtem formen mit umlaut im reim, wie nud/fri/ops : I/niid/fni [tjcSliolfr]).
Die frage nach dem umfang des auftreteus des unilauts beantwortet Paul
(B<utr. VI) für das gesamtgebiet des nordischen und ei-klärt die ausnahmen durch
analogie. Kock (Ark. IV = Beitr. XIV) unterscheidet zwei poriodmi. In der älteren
bei geschwumdenem h überall eingetreten, wird er in den ostnord. sprachen stark
durch analogie verdunkelt. In der jüngeren wird der umlaut durch ein noch daste-
214 BOEINSKI
hendes u bewirkt. Island und gewisse gegenden Norwegens erhalten den umlaut.
Dagegen wendet sich "Wadstein (in „fornnorska homiliebokens Ijudlära"), indem er
den älteren mnlaut gleichfals im gesamten gebiet des nordischen annimt. Anders ist
die Sachlage bei erhaltenpm u. Bietet Dänemark ganz wenige umgelautete formen,
so werden sie im ostnorwegischen zahkeicher, im westnorwegischen und isländischen
ist der umlaut so gut wie ganz durchgeführt. Er weist auf die analogen umlauts-
verhältnisse im ahd. bei *', j hin, wo in einzelnen dialekten gewisse consonanten
hindernd einwirken, in anderen nicht. Die hindernden consonanten im altn. hierfür
anzugeben, sei man nicht in der läge.
Der ansieht Wadsteins ist zuzustimmen. Hinsichtlich des materials sei es
zweifelhaft, ob gewisse hss. rein norwegisch sind oder isländische eiuüüsse enthalten.
Füi' die spätere zeit sind die im „ Diplomatarium norwegicum" befindlichen akten-
stücke (testamente u. ä.) für die wirklich gesprochene spräche von Wichtigkeit. In
den kanzleien hätte sich isländische tradition bilden können. Auffallend Verbindungen
mit verschiedener behandlung des a {qllum : mannuni, dagegen aUum : mqnnuni).
7 aktenstücke haben nur <?, 13 nur a. Diese aktenstücke sind aus dem westlichen
Norwegen.
Brenner im Altnord, handbuch meint, der unterschied sei als flexionsmittel
bedingt. Wadstein schliesst sich dem -im wesentlichen an. Den tatsächlichen Ver-
hältnissen entspricht das nicht ganz, wie das vorkommen von acc. plur. = nom. sg.
beweist.
Lyngby (Tidskr. f. phil. II, 296 fg.) widerspricht, dass die ausspräche des a der
Schrift gemäss angenommen werde; a sei graphische darsteUung für q. Ähnlich Bren-
ner a.a.O. Wie man sich auch entscheiden mag, ob für altes oder analogisch wider-
hergesteltes a, man muss annehmen, dass die reime auf a auch wirkliches a enthal-
ten. Unreinheit der reime ist ausgeschlossen wegen fülle der beispiele auch bei form-
strengen dichtem.
Unterschied zwischen altisl. und norw. skalden besteht nicht. Noch bei Einarr
Skulason, mitte des 12. Jahrhunderts finden sich a- formen. Nach ihm schwinden
die nicht umgelauteten formen gänzlich. Norwegische einflüsse sind ausgeschlossen,
da grade damals die «-formen in Norwegen durchdringen und das plötzliche aufhören
dieses einflusses nicht zu erklären wäre. In Island um 1000 entstandene verse der
Kristni-saga bringen a für q bei erhaltenem ti.
Für den umlaut von ä finden sich nur wenige fälle-, (^'-umlaut unsicher s.
Noreen Altn. gr. §71). Bei e ist es das verdienst Lefflers auf den unterschied von v-
und M- umlaut hingewiesen zu haben. Sowol altes e als umlaut -e wird zu o. Gegen
die frühere meinung, dass vi oder vj den umlaut bewirke, wies Leffler (aus isl. und
norw. hss.) die gesonderte wirkmig erst des i- und dann des «j-umlauts nach, o ist
überhaupt ein seltener laut, i'- umlaut auf e zeigt sich erst nach 1151 in den gedich-
ten des Einarr Skulason. (sverps : gerpu [Eilifr GuJ)runarson] , gekk : stelckva [BJQrn h.
krapphendi]). *, wurzclbeginnend vor ng und nk zeigt zuweilen umlaut, zuweilen
nicht (>2/)- Sichere beispiele für «-formen vom 10. — 14. jahrh. Daher ist * wider
einzusetzen in den von Gislason {om helrim) gebrachten beispielen im röim auf tyggi.
Für brechung bringt Noreen (Gr. d. germ. phil. I, 446) beispiele aus west-
norw. und isl. handschriften , io nicht iq (Wadstein aus der Orthographie des Norw.
homilienbuches). Brate (Beitr. X) zeigt chronologisch, dass im 9. jh. die brechung
noch nicht eingetreten sei. Zimmer (Ztschr. f. d. a.) belegt aus irischen Ulster -annalen
847 crcll, 892 ierll, 917 iarla. Die ältesten sicheren beispiele ende des 9. jahrhun-
rilILOLOGKNVEi;SAMI.UiNG 1891 215
derts lcikhh(])S : /'j"[>nir. okhjqrn : Mnrim |T'Ji'»l)oltV. |, woraus zuglcioli ofsatz des o
durch o edielt. Eiulluss dor cous. (r, / Noreeu) auf hnicliung unsicliLT, da diese an
und für sicli häufig' an diesen stellen sind.
in einem excurse am schluss glaubt der vortragende eine praetei'italform mit c
nachweisen zu können (Iiclt : vcUan [I'orkell Slcallasim, lleimskringla 021, •_l2a]). An
eine kürzung in i-cltan glaubt vortr. nicht.
in dor discussion bringt jirof. Fisclier an dem vorknmineii von dupiielfor-
men bei denselben dichtem die analogen vcr]üiltniss(! im nihil, zur spräche. Dr. Alogk
interpelliert hinsichtlich einer frühen Verkürzung bei rcttait.
Zweite Sitzung.
1. Am 21. niai nachmittag 3"., uhr hielt vor der Vereinigung der deutsch -
romanischen und di'i- si)rachvergleichonden scction herr prof. dr. Osthoff einen ver-
trag ^ülu'r eine bisher niclit erkaute praesensstaiubi Idung im in<loger-
man i sehen '■ '.
Kr geht von den germanischen formen 'Kstai/ddH (got. as. aUnidaii , ahd. sfan-
laii. aisl. sfanda, ags. Rtoiidan), ■/n'iidaii (got. as. /r/i/daii, ahd. loiidaii, aisl. cin-
il(i)^ " sicinddii (ags. s/r/udnii, ahd. s^'/nfcoi) und '' sl/i/d((ii (got. fraslindau , ahd.
^liiil(iii) aus, die er in * sta-iid-an. * /n'-i/d-tn/ , '■' s/r>-i/d-ni/ und '' sli-i/d-(üi zerlogt
und der reihe nach mit den wurzeln "sfä- in lat. .'<fa-rc. gr. i^-arij-r, "in- in lat.
ri-crr. vi-iiicii, ahd. /r/-da „salix'\ gr. i-if-'i'., *.s/r7- in alid. siri-nan, n,p. siri-iiia,
■iilai- in gr. ).((i-i(6^ /.(tf^-Tfia verbindet. Bei sfandaii Aveist auf eino, solche Zer-
legung noch das practeritum got. sto-p, altisl. sto-ä, ags. as. sind. nlul. (liei Tatian)
sl/ni-f und das altisl. jiarticip sfa-dciui hin, wiihrcnd bei den ül)rigeu Wörtern die
liraesensstamform auf die ausser})raesentischen verbalformen übertragen, bei sliiiduii
und iriiidaii sogar als i'eine verbalwurzol angesehen und auch zu nominalen ueubil-
dungcn wie ahd. mhd. sinnt, got. icandus, altisl. roiulr bcnuzt wird.
Zu diesen 4 bcispielen treten einige alileitungen von ;/- wurzeln, die aber in
weniger durchsichtiger gostalt vorliegen. Germanische praesentien wie lat. niiiipo
iinidi) piiiKjn mit ii -\- nasal -{- consouans und dem al>laut -uiix- -kux -kx (wo x
einen l)cliebigcu gcräuschlaut bezeichnet) wurden nämlich entweder im anschluss an
die verba der klasse '■'beiidü (got. biiida), mit denen sie im praeteritum und partici-
liium gleichen ablaut hatten, durch formen juit -c/i- ersezt, für * rnii>b(j trat also
'■■rcubö ein (altisl. 1 plur. rj/lfoiii}] oder es wurde, nachdem der nasal aus dem prae-
sens in die ausserpraesentischen formen versclilept und die reihe *n(»/b- ''raKb- *n(b-
durch 'ridiib- ■'')•(! iiib- ■'■rioiib- ersezt war, eben von diesen nasalierten neubildungen
aus nach dem muster der klasse '"bind- 'iicotd- '*bund- i auch ins praesens eingeführt
und *riujihö zu *rimhö umgestaltet. Gerade diese veralgemeinerung von i auf kosten
von n zeigt sich im germ. Ja öfter bei praesensbildungen, die wie die sk-, die mv-,
die nasalinfigierenden und die „ aorist ''- praesentien von hause aus tiefstufigkeit der
Wurzel erforderten. So erklart sich. üh^l. trdan , ags. as. tredan als neubildung neben
got. trudan, altisl. froda, ahd. (bei Otfr.) //rsjt/niit neben ags. ahd. spnrnan, got.
dn-rj/jinan, ags. ä-^/nnan , ahd. as. Ij/'-ij/ in/an neben mnl. bcghomioi (idg. *kj,>w-,
auch in abg. -cin-q <; -c/nirr)^ got. ags. ahd. icinnan neben vorauszusetzendem
germ. *ivHnnan (*idg. n-ijiv-^ vgl. altind. vanufi), got. as. ahd. rinnaii neben mnl.
rönnen (vgl. altind. rnöti rnrati, gr. onwia), — ags. runc und got. runs sind dem-
nach in einer zeit entstanden, wo das praeteritum ''ran lautete an stelle von älterem
1) Don boriclit über diesen Vortrag verdanken wir- liorni dr. L. Sütterlin.
216 BORINSKI
*ar und jüngerem rann — , ahd. in-trinnan neben *trunnan, von der idg. wurzel
der- in altind. drnäti dadära^ got. tairan iar, und endlicli got. priskan, ahd. dres-
can neben einem zu erschliessenden , mit lat. tero verwanten germ. *ßrn-skan. In
dieser weise werden nun auch zu nasalinfigiei'enden praesentien mit n neue formen
mit i geschaffen. So trat ags. ivrin^an, ahd. ringan an die stelle eines älteren
germ. *ioru-n-gö, dessen wurzel *wurg = idg. *tvrgh in ahd. tcurgen, mhd. tvürgen,
abg. vrügq und dessen praeteritum und particip in mhd. erivarg ericorgen vorliegen.
Wurzelhaftes, nicht aus r entwickeltes u wurde dagegen in got. stigqan „stossen"
und in ags. ärintan „schwellen" ersezt, da stigqan zu altind. tiij- „schlagen" und
S/rintan zu altisl. prutenu „geschwollen", got. prütsfill „aussatz", mhd. nhd. strotzen
gehört.
Darnach lassen sich auch einige germ. praesentien auf -indü als Umgestaltun-
gen älterer zu ?<- wurzeln gehörenden formen auf -undö auffassen, bei denen -nd-
wie bei standan praesensbildung war. Das gilt von ags. äindan „schwellen" neben
lat. tu-meo, gr. n'-Aof, germ. ''tmdan „zünden, brennen" (got. tundnan tandjan,
ahd. Tiunten) neben gr. Saio} St-Sav-fxevog^ altind. dunoti und der an die stelle eines
älteren *tunnan eingetretenen nn-h\[Amig mhd. binnen, endlich ags. hrindan, altisl.
hrinda „stossen" neben gr. xqovo) xqoch'vü).
Die in diesen 7 germanischen beispielen vorhandene praesensbildung -nd-
geht nach ausweis anderer idg. sprachen auf ursprachliches -nt- zurück. Zu den
erwähnten germ. formen gesellen sich nämlich zunächst 3 aus den slavisch-litau-
i sehen. Lit. j-u-nt-ü „durch das gehör gewahr werden" gehört, da es prothetisches
j hat, zu gr. «/w, abg. u-mü, got. ga-umjan, lit. pu-nt-ü „schwellen" zu lett.
pu-ns „aixswuchs am bäum", abg. kretq, das sich aus krq(t)nc{ti „drehen" erschliessen
lässt, zu lat. cnrvtis, gr. xoqojvös xvQTÖg. Aus dem indoiranischen endlich sind
altind. kr-nt-dti, av. kere-nt-aiti „schneidet" neben gr. y.eiQO)^ ahd. sceran sowie
altind. kr-nät-ti „spint" zu erwähnen, mag dieses krnätti nun zu dem eben ange-
führten abg. kr^ftjnqti oder zu lat. colits, gr. yXtoOo) zAoicrxoj zu stellen sein.
Die flexi on scheint auch bei unserer praesensklasse ursprünglich nicht ganz
einheitlich gewesen zu sein. Denn altind. kr-ndt-ti weist auf athematische flexion
und einen Wechsel idg. *stn-net-ini *stn-nt-mes hin, während altind. kr-nt-ä-ti,
av. kere-nt-ai-ti und lit. ju-nt-ü eine thematische flexion mit -o- -e- voraussetzen.
Mit den nasalinfigierenden praesentien müssen die «eif - praesentien in enger berüh-
rung gestanden haben. Einerseits wurde das t der endung -net- wurzelhaft, indem
man nach dem muster von fällen wie altind. vavarja neben vr-n-j- z. b. zu kr-nt-
auch ca-karta schuf. So erklärt sich wol auch das p in got. stö-p (für *sto) neben
sta-nd-an. Andererseits aber kam bei der sogenanten nasalinfigierenden klasse neben
dem lautlich allein berechtigten und erst auch allein vorhandenen eingeschobenen
nasal n eine stärkere „infixsilbe" ne auf: nach dem Verhältnis *ici-nt-mes zu tvi-net-
mi bildete man zu *U-n-q-mes auch li-ne-q-mi. Ursprünglich lautete die starke
form des praesensbildenden dementes bei der 7. altind. klasse ganz anders. Nach
dem nebeneinanderliegen von n-n-d-a und ud-en- Hesse sich vermuten, dass neben
li-nq- diese stärkere form liq-en gelautet habe. Aber armenische verba wie eUanem
„verlasse" und die griechischen auf -dvw wie hfinävo) zeigen, dass vielmehr -an-
die starke form des praesensbildenden dementes dieser klasse gewesen ist.
In unserer ^ici - praesensklasse ist aber das suffix mcht auf diese bis jezt allein
erwähnte form beschränkt. Vielmehr findet sich entsprechend dem Wechsel von
tenuis und media im wurzdauslaut — vgl. lat. pando und jxäeo, j^ango und pacis-
PHILOLOGEXVERSAMIATNG 1S91 217
cor — neben -net- -ut- aurh ilor aus^ang -)>r(l- -i/d-. Lautgesetzlidi berechtigt wird
dieses d nur in der schwachen form -»(/- gewesen sein, da sicli die wurzelsehlies-
sende tenuis wol nur zwischen nasalen, hier also nur in fülli'H wie 's(ii-»f-)N<'s, in
die media verwandelte (;*sl)UHl-}iirs). Dann wurde >/ in die starke i'orin iicl über-
tragiMi. So lassen sich meliren- verlia aulTasseii: altind. truädmi tnidinds ,,durch-
liuhre'" von wurzel (rr- in gi'. inji-'o Kinf-fv; altind. chiiiddiiii cliiiidiiids „aViliaui'n",
lat. sri.i/du von würzet nl,-///- in lat. d('-sr/-sru\ altind. hliiinidiin hhiiidiinis „siialte*^,
lat. I'iiidu von würzet ^hht- in ahd. hi-lial „beil". gr. iinnu^, lat. fi-ii/'s; avi.'st. iiinrc-
Tidat „tötete" von würzet tiirr- in lat. iiinrinr^ gi-. h/.-<f/.i ){(iaM ,, bri'cjie auf^ (von
geschwüren) neben (jah') f//.rrt), lat. Ilua: lat. fioido m'ben altind. dhionUi ^schüt-
telt", gr. (hvvtc) Ovo), alt.isl. d.'ljo; h'tr. f^idn „verschwinde^ (aus ^ fiiiidii) neljen lit.
xil/rn „komme um'"; ahg. /"ida^ (aus //H-iid-oii/-) neben gr. (/rffj. lit. />/(h\ abg. hi/fi.
Aus diesen praesenticn auf -/ni- -nf- und -/trd- -iid- etitwii/kelten sich, wie
sehoii teilweise ausgeführt wurde, in folge des einfkisses der nasalinligierendi'n klasse
häufig kürzere formen auf -/ und -d. die wie ixüne verbalwurz'dn verwendet wurden.
f liegt abgesehen von dem schon oben erwähnten got. .^tofi, altisl. stadrnii z. b. vor
in gr. y.Hn-oao.; (für ■ y.Hn - auo^ durch beeiuflussung von rouög „schneidend'" i, lit.
L-niii , altind. ca-kar/a (perf.) neben In;-iit-uti und gr. y.ei'o(»\ in got. skaidai/, ahd.
sceidni neben altind. clihxidiiii . lat. sriiido; d dagegen ist enthalte]i in altind. hhc-
ditli. got. hrifcDi und /ni/frs. lat. /idi neben altind. hhi)iddiiii. Auch wo kein prae-
sens auf -}if- odt'r -iid- in den einzelspraclien wirklich mehr nachweisbar ist, kann
wurzelschliessendes t oder d in der angegebenen weise entstanden sein; so vielleicht
in g:oi:. tjh(-tit» . ahd. .7/0 um neben gr./«fj, altmä. Jidtöff] in ahd. flio-\aif, ags.fleö-
ian. \lt phisf/f }dd-dait nelien ahd. ir-flror-t)/ „sjüilen. waschen", gr. 7///w, lat ]ilN/f,
abg. jdi)r([\ ferner in ahd. .di(r,(iu. lat. chni-dn neben lat. r/uris. gr. y.lti^, in gr.
y'/i\l('). got. Idutrs neben lit. s-J/'/Jn. lat. clot/ra. altlat. >-luo; in mnd. ))N}fii „das
gesiebt waschen'-, gr. ui'6'og neben abg. »njj'i' l<^tt. inaiijii\ möglicherweise auch in
gr. TtvS«), lat. iondrn neben icmnn. Hierher gehören zum sehluss wol auch die nur
in einer spraidie vorhandenen gr. /yi'h'i yj.iSiao neben yji") //.ic.iv«) und lat. endo
neben ahd. lidHu-aii. abg. koni. lit. Liiiiju.
2. Es folgt sodann ein vertrag des herrn dr. Borinski (]\Iünchen): Grund-
züge des Systems der artikulierten phouetik'. Der vortragende erörtert die
notwendigkeit rein methodischer Untersuchungen, wie sie für die natui'wissenschaft
längst eingeführt seien. Er liesiiriidit die princi]üelle Unsicherheit der iihilologie und
historischen Sprachforschung hinsichtlii'h ihres niaterials und seiner Wirkungen, sowie
die ptlicht der forschung hier einzusetzen. Es handle sieh nieht um aufstellung eines
lieliebigen subjectiven Systems, sondern um kritische darstellung der die phonetischen
ausdrucksmittel ermöglichenden Systematik. Hier ti'itt zunächst hervor die notwen-
digkeit einer auseiuandersetzung mit dem melisch-[ihonetischen ausdruck (musik);
ferner der abgrenzung vom thierischen schrei, vorwürfe die den alten harmonikern
und grammatikern viel geläufiger waren. Auf die natur des artikulierten ausdrueks
eingehend, erörtert der vortragende die Ursachen einer speciellen lautfoi'schung, ihres
prolilems und der in ilir zu unterscheidenden richtungen , der grammatischen, laut-
jihysiologischen (anatomischen) und physikalisch -akustischen. Er nimt die gramma-
tische als naive auffassung iles lautmaterials gegen manche der ihr von den phone-
tikei'n gemachten vorwürfe in schütz, zeigt das dilemma, in das die lautphysiologische
1) Der Vortrag erscheint volständig und von specialisierten anmerknngen begleitet im verlago der
G. J. Göschen'schen bucliliandlaDg in Stuttgart.
218 BORINSKI
richtiuig bei ihroQ beobachtungen gerate, iind dass sie gefahr laufe, die linguistischen
aufgaben vergessend, sich in eine algemeine Charakteristik im Baconschen sinne zu
verlieren. Die akustische richtung, deren geschichte und resultate kurz beleuchtet
werden, sei bisher in der linguistischen debatte der lautphysiologischen gegenüber im
nachteil gewesen, obwol sie den vorzug zu den kriterien der lautauffassung hinzu-
leiten schon äusserlich aufweise. Von Helmholtz' und seiner Vorgänger bekanton
Untersuchungen über die der tonempfindung innewohnenden Wahrnehmungskriterien
ausgehend, erörtert er die bez. stellimg der spec. lautempfindung und gelangt nach
musterung des Standes der physiologischen und psychologischen forschung zur Vor-
legung einer methode, die herausbildung des Schematismus qualitativer momente in
empfindungsreihen (skalen) überhaupt zu fixieren. Vermittelst dieser theorie beleuch-
tet er nun die Verhältnisse der lautskala und stelt dem die bisherigen auffassun-
gen mit ihren für theorie und praxis gleich verderblichen consequenzen gegenüber.
Ferner weist er auf die möglichkeit von hier aus den phonetischen controvcrsen
im sinne des ausgleichs beizukommen, sowie auf den gewinn für die wissenschaft-
liche Charakteristik der laute und ihrer graphischen fixierung.
Hieran schliesst sich im zweiten teile des Vortrags die erörterung der erschei-
nungen des lautwandels. Auch hier vom laute als ausdrucksmittel ausgehend zeigt
er, wie dem laute ebenso wie dem tone- das streben zu neuen stufen überzugehen,
innewohne. In parallele mit der darauf sich gründenden strengen musikalischen setz-
kunst erörtert er die weniger leicht zu fixierenden aber in ihrer beschaffenheit durch-
aus gleichen normativen lautbeziehungen (lautgesetze) , mit denen die Sprachwissen-
schaft auf schritt und tritt operiert, ohne doch die objective formel für sie so leicht
finden zu können. Die gesetzlichkeit im lautwandel wird nun auf durchgehende,
mechanische bezw. organische gesetze zurückgeführt und im Interesse ihrer reinen
erfassung gegen die anwendung des terminus „lautgesetze" für die einzelnen tatsachen
der historischen Sprachänderungen einsprach erhoben. Vortragender weist sodann die
in der lautänderung wirksamen anstösse in der tönung (accentuieruug) auf, skizziert
ihre hauptsächlichen erscheinungsformen und zeigt wie der streit über die ausnahms-
losigkeit ihrer Wirkung sich von selbst erledige. Das analogische princip glaubt er
scharf hiervon abtrennen zu müssen und reiht es den architektonischen principien der
Sprachbildung als leztes und mächtigstes au.
Die Sprachbildung als solche stelle den dritten teil der aufgäbe dar. Man
könne an ihr nicht vorüberschleichen und das falsch gestelte in ihren problemen nui-
methodisch aus der debatte hinausschaffen. Vortragender zeigt, wie sie sich der
historischen Sprachwissenschaft unablässig aufdrängen nicht blos in dem sie gefähr-
denden wissenschaftlichen unkraut, sondern auch in ihren eigenen unentbehrlichen
hülfsmitteln (wurzeln, erschlossene formen, Ursprache, neubildungen). In engem
Zusammenhang stehen die schon die alten lebhaft beschäftigenden fragen nach den
facto ren des veränderten wortgebrauchs. Vortragender zeichnet die hierbei mass-
gebenden grundanschauungcn und findet ihren wissenschaftlichen boden in der früh
hierfür berechneten disciplin der algemeinen poetik. Er schliesst mit einem hinweise
auf den wert der Wahrscheinlichkeitsbeweise und der beobachtung der lebenden
spräche selbst in ihren niedrigsten oder individuellen erscheinungen für das begreifen
historischer sprachiüiderungen in ihi'er continuität.
In der discussion weiss dr. Sütterlin sich mit dem vortragenden in dessen
auseinanderlegung der gesetzlichkeit im lautwandel eins, gibt die notwendigkeit einer
strengen und durchgreifenden rücksichtnahme auf die akustische Wertung zu und
PHILOLOGENVERSAMLUNG 1891 219
nimt schliesslich die spec. indogermanische Sprachforschung hinsichtlich ihrer horan-
ziehung imaginärer stützen, sowie einiger als veraltet zu betrachtender werke lingui-
stischer palaeontologie (Pictets Origines) in schütz.
Dritte Sitzung.
1. Dr. E. Honrici (Berlin) machte hei beginn der sitzung einige mittcilungen
ü1)er den „Jahresbericht über die erscheinungen auf dem gebiete der germanischen
Philologie", welcher bei C. Reissner (Leipzig) erscheint und jezt im 12. Jahrgang vol-
lendet ist. Zu einer gedeihliclien fortführung des Unternehmens seien drei dinge
erforderlich: eine erhöhte abonnentenzahl, weil die gesteigerten herstellungskosten in
den lezten jähren den schon geringen ertrag noch mehr vermindert haben; die regel-
mässige Zusendung aller neuen publicationen , weil die beschaffung derselben den ein-
zelnen mitarboiteru oft recht schwer falle; endlich der zutritt neuer mitarbeiter,
weil die bearbeitung zu grosser gebiete durch einen referenten bedenklich erscheine.
In allen drei beziehungen erbat der redner die teilnähme der fachgenossen wie der
Verleger.
2. Alsdann spricht derselbe redner über „einige grundsätze der Iwein-
kritik". Die für eine textherstellung notwendige Untersuchung des handsckrifton-
verhältnisses ist nach Lachmann (1843) von Paul (1874) und Oscar Böhme (1890)
unternommen worden. Der leztgenante geht von einer vergleichung mit dem Wigalois
aus und gelangt zu der meinung, dass Wiruts handschrift das original für alle vor-
handenen sei. — Der vortragende zeigte dem gegenüber, dass auf grund des vorhan-
denen materials sich zwar das Verhältnis einzelner handschriften zu einzelnen aber
nicht aller zum original Hartmanns feststellen lasse, weil jede an einer stelle sichere
kombination durch die beobachtung an anderen widerlegt werde. Während aus
gemeinsamen Zusätzen sich Bb, H, ab, br, cf, pr, EJap als gruppen erweisen und
ebenso aus starken änderungen Eapr, Bz, DJbc, also stets majuskel und minuskel
gemischt erscheinen, treten 7695 — 7702 alle älteren handschriften (vor der mitte des
14. Jahrhunderts) zu einer gruppe zusammen und gegenüber den jüngeren Jabdlpr,
welche die bezeichneten verse hinter 7716 stellen; cfz fehlen an der stelle. Eine
ähnliche allen beobachteten Verhältnissen zuwiderlaufende gruppierung findet sich
3998, ADEfl gegen Jabcdprz, während B beide lesarten vereint! Auch 3944 und
3945 — 48 durchbrechen alle Ordnung; bemerkenswert sind ferner 3372. 4110. 4583.
4590. 4795. 6919; die lezte stelle kehrt wider alles sonst gesicherte um. — Der vor-
tragende ist daher der Überzeugung, dass bei der behaudlung der sinnvarianten Lach-
manns bevorzuguug von A wol berechtigt war luid noch die meiste gewähr gibt, des
dichters fassung wider zu erlangen. — Ganz anders steht die sache mit der spräche;
dass Lachmann auch diese auf A gründete, war ein verhängnisvoller fehler, wie schon
Paul richtig bemerkte: denn A ist mittel-, zum teil sogar niederdeutsch. Dass seine
Schreibung wertlos sei, zeigte der voi'tragende an einem beispiel. Lachmann grün-
dete auf A die Unterscheidung von und, tont, uncle; aber die handschrift selber sezt
vn, ^'•», vnd, vnde, vnt je nach dem räume, der noch auf der zeile war, oder ganz
wilküiiich, wie 691 lehrt: hier sezt A vnde angestlicher für unangestlichen, es
löste also das in der vorläge gefundene nn oder vn eigenmächtig zu vnde auf. —
Von den übrigen alten handschriften sind EJK oberdeutsch mit verschiedener dialekt-
färbung, D vielleicht böhmisch, CG- mitteldeutsch, M niederdeutsch; nur BFHNO
bieten des dichters spräche in sich und mit den reimen übereinstimmend. Es kann
daher kaum ein zweifei sein, dass i?, die einzige volständige handschrift der lezten
220 BORINSKI
gruppe, die grundlage für die sprachliche -widerherstelliing des gedich-
tes sein niuss. Diese handschrift hat der vortragende deshalb auch seiner soeben
(Halle, Buchhandlung des Waisenhauses) erschienenen ausgäbe des Iwein zu gründe
gelegt.
3. Es folgt ein Vortrag des herrn dr. "Wunderlich (Heidelberg) über: ,,die
deutsche syntaxforschung und die schule" ^ Die syntaxforschung ist ein
Stiefkind der philologie. Die textki-itik hält die roheste satzstellung zu gunsten der
versglättung für angezeigt. Es fehlt zwar nicht an schulprogrammen und ebenso-
wenig an dissertationen über syntaktische fragen. Aber es bleibt meist bei statisti-
schen erhehungen ohne positive resultate. Dabei steht im gespräch und selbst in Zei-
tungen sprachliche polemik in blute, ebenso das schelten auf die schule. Der
deutsche Unterricht aber korat in ihr zu kurz. Die Orthographie ist zum teil geregelt,
laut- und forraenlehre kann durch germanistische lehrer im einzelnen normiert wer-
den; schwieriger aber ist es den grossen Zusammenhang in der syntax aufzuhellen.
Die syntaktische Schulung der lehrer lässt zu wünschen übrig. Die kläger selbst sind
in ihrem Sprachgefühl oft sehr unsicher.
Der vortragende geht auf die unter dem titel „ Sprachdumheiten " in den
„Grenzboten" erschienenen artikel ein. Der Verfasser dieser aufsätze, offenbar ein
erfahrener schulmann, betrachte die spräche als kunstwerk.
Demgegenüber tritt der, der die spräche als Verkehrsmittel auffasst. Den Vorwurf
der „papiersprache" teile der Verfasser mit 0. Schröder. Allein man dürfe rede - und
Schriftsprache nicht als völlig gleich behandeln. Die leichte form der rede ist, wenn
sie aufs papier gebaut wird, durchaus nicht immer so leicht lesbar. Die natürliche
rede arbeitet nicht mit vorausgedachten gedanken. Pausen zu vor- und rückschau
sind ihr meist nicht möglich. Sie bevorzuge daher die parataktische satzfügung; die
Schrift dagegen könne zur periodischen greifen. Wenn man eine Wortfügung, die das
äuge verlezt, vorliest, so gew<ährt das keine stichhaltige vei-teidigung. Das ohr prüft
flüchtig, das äuge nachhaltig. Der vortragende begründet dies im einzelnen hinsicht-
lich mehrerer pronominal- und partikelformen, berücksichtigt die begleituug der geber-
densprache, die verschiedeuartigkeit der korrektur. Der redende kann nur nachtra-
gen (nachtragsfügungen). Es gebe mehr stilformen, als man gewöhnlich annehme.
Auf Verschiedenheit der stüformen beruhe z. b. komische Wirkung. Ein hauptunter-
schied sei der zwischen mündlicher und schriftlicher mitteilung.
Was das Sprachgefühl im algemeinen anlangt, so könne man ihm nicht so enge
schranken ziehen. Wenn es sich z. b. gegen die flexionsunterlassimg in der appo-
sitionellen bezeichnung bei titeln auflehne, so könne man dies gelten lassen. Gegen
den Vorwurf aber, dass man statt der alten präpositionen Umschreibungen gebrauche,
müsse man erinnern, dass auch die alten, sich abnützenden praepositionen Umschrei-
bungen gewesen seien. So strenge Scheidungen im wortgebrauche, wie zwischen her
und hin lassen sich nicht durchführen, da hierbei das jeweilig herschende Interesse
den ausschlag gebe. Gegen die gelenkigkeit der spräche der kinder wird bei pedan-
tischer strenge in solchen dingen gesündigt, die freiheit der ausdrucksweise gefähr-
det. Das eigentümliche in der mundart werde syntaktisch zu wenig berücksichtigt (vgl.
Binz, Zur syntax der Basler mundart, diss. Basel 1888). Das buch von Franke,
Reinheit und reichtum der deutschen spräche sei vom Sprachverein gekrönt, ohne
dass es das syntaktische berühre.
1) Der Vortrag ist in erweiterter gestalt abgedruckt in der boilago zur Algemeinen zeitnng nr. 139
vom 18. juni 1891. Red.
PÜILOLOOENVERSAMLUNTr 1891 221
In dieser frage frische mit vernünftiger strenge zu paaren, sei Sache der pädar
gegen. Dazu gehöre aber, dass die deutsche schulgrammatili ihre aufgäbe besser
erfasse. Sie führe oft sprachungeheuer an zur illustration von regeln und ausnah-
men. Den frülieren Schriften zur Schulreform fehlte es noch an einer darstellung der
deutschen syntax. Nun aber sei das ebenso sehr angegriffene als ausgenüzte buch
von Oskar Erdmann vorhanden, von dem die anreguug zu grösserer tiitigkeit auf
diesem gebiete erhoft werden könne.
Der vortragende schliesst mit einem hinblick auf die nötige abgrenzuug gegen-
über fremdsprachUchen eintlüssen (lateinisch schon bei Otfrid). Im französischen und
englischen Unterricht seien die principiellen unterschiede hervorzuheben.
In der discussion interpelliert pro f. Brenner über die deklination des wertes
hcrr als pronomen in schwäbischen Urkunden; dr. Hermanowsky über „echte und
unechte" praepositionen. Ausserdem erfolgen bemerkuugen über die Stellung des
finiten verbs und die auslassiing der hilfsverba.
4. Vortrag des herrn dr. W. Golther: „Are I*orgilsson und seine
werke". Im gegensatz zu Björn Magnüsson Olsen (Aarböger f. nord. oldkyndighed og
historie 1885, 341 fgg. u. Timarit hins islenzka bokmentafelags 10, 214 fgg.) vertrat
der vortragende die ansieht, dass Are nur zwei werke, eine verlorene, umfangreiche
ältere Islendingabök , aus der die Laudnäma und Kristnisaga flössen, und die erhal-
tene Ib. verfasst habe. Gerade die von Olsen beigezogenen stellen zeugen hiefür,
indem Stuiiimga kap. 12 und Landnäma V, 12 (Islendmgasögur I, 312 fgg.) zusam-
men den inhalt der älteren Ib. repräsentieren, aus welcher durch kürzung die zwei
stellen der erhaltenen Ib. (bei Möbius s. 4, 26 und s. 13, 30) hervorgiengen. Olsens
hypothese, dass der Wortlaut von 3 quellen (der alten und jüngeren Ib. sowie einer
besonderen Laudnäma Ares) vorliege ist nicht stichhaltig. Abgesehen von gezwun-
genen und unrichtigen auslegungen im einzelnen sind die drei stellen von Olsen in
falsches abhängigkeitsverhältnis zu einander gesezt. Herr prof. v. Maurer erklärte
seine Zustimmung zu den ausführungen des vortragenden imter hinweis auf seine
demnächst in der Germania (30, 61 fgg.) erscheinende abhandlung über Are und seine
werke. Der Schriftführer der section
MÜNCHEN. DR. KARL BORINSKI.
LITTEEATUR
Grundriss der germanischen philologie, herausgegeben von H. Paul.
I, 3 — 5 (s. 513 — 1024). E, I, 2 — 4 (s. 129 — 496). II, II, 2 (s. 129—256).
Strassburg, Trübner 1890. 1891. 12 m.
Die früher erschienenen hefte dieses Unternehmens hat referent in dieser Zeit-
schrift XXn, 462 fg. XXni, 365 fg. besprochen; die seitdem veröffentlichten sechs
behandeln gegenstände, welche zu den hauptfächern der deutschen philologie gehören.
Die di'ei hefte des ersten bandes bringen die gi'ammatik zum abschluss. Auf
Noreens geschichte der nordischen sprachen folgt die geschichte der deutschen spräche
von 0. Behaghel. Sie fasst in knapper und doch sehr reichhaltiger darstelluug die
grammatik der hoch- und niederdeutschen sprachen einschliesslich der mundarten
zusammen, so dass von einem construierten urdeutsch aus die einzelnen sprachlichen
kategorien verfolgt werden. Diese darstellungsweise sezt freilich beim leser ein ziem-
222 MAHTIN
liebes mass von keutnisson und von aufjnerksamkeit voraus, gewähii aber auch viel-
fach lehn'eiche Übersichten. Bei so viel umfassendem Inhalt kann es nicht fehlen,
dass einzelnes bedenklich erscheint. Eeferent möchte zunächst zwei punkte von tief-
greifender bedeutung herv'orheben.
S. 541 heisst es: „Den meisten ansprach tonangebend [für die bilduug der
mittelhochdeutschen litteratursprache] gewesen zu sein, hätte das ostfränkische;
denn es lässt sich wol kein fall nachweisen, wo an stelle einer angeborenen sprach-
lichen eigentümlichkeit eine solche erschiene, die jener mundaii fremd wäre". Hier
ist ein gegenzeuge anzuführen, der aber auch wol völlig ausreicht: Wolfram von
Escheubach. Die eigenheiten seiner spräche sind doch gewiss als seiner ostfränkischen
muudart augehörig anzusehu: jene Vermischung von i und ie, u und uo, die aus den
reimen hervorgeht; jene Verwendung von tcenic, wofür einige handschriften liityc-el
einsetzen ; jene construction von gein mit dem accusativ (Pai'z. 452, 28) usw. Dass er
in vielen dieser abweichungen vom gewöhnlichen mittelhochdeutsch mit dem neuhoch-
deutschen übereinstimt , bestätigt nur ihre mundaiiliche herkunft; denn das uhd.
richtet sich ja wesentlich nach dem mitteldeutschen, wo es die mittelhochdeutsche,
d. h. alemannische grundlage verlässt: Dass das alemannische wirklich der boden des
mhd. war, fühlen heute noch die am Oberrhein heimischen: sie empfinden beim ler-
nen des mhd. beständig die verwantschaft ihrer mimdart mit der mhd. Schriftsprache:
das wird jeder gehört haben, der einmal Schweizer, Elsässer, Badenser im mhd. zu
unterrichten hatte. Diese verwantschaft zeigt sich nicht nur in den lauten, sondern
auch im genus der substantiva, in Wortwahl und wortgebrauch, in der syutax. AVas
wollen diesen zahkeichen Übereinstimmungen gegenüber die paar volvocalischen
endungen alemannischer Urkunden besagen, die man zum hebel gebraucht hat, um
die von selbst sich aufdrängende, schon von Bodmer ausgesprochene erkentuis von
der alemannischen grundart des mhd. umzuwerfen!
Auf derselben s. 541 wird von der kanzleisprache , als dem ausgangspunkt der
neuhochdeutschen sprachentwicklung gesprochen, dabei aber völlig verschwiegen,
dass dieser nhd. charakter zuerst und zwar in den hauptpuukten durchaus entschieden
um 1350 in Böhmen auftritt. Das hat Müllenhoff mit volgiltigen belegen gezeigt;
referent hat weitere beweismittel beigebracht. "Wo ist diese denn doch sehr wesent-
liche tatsache widerlegt worden? Die widerspruchsvollen bemerkungen von v. Bahder,
Grundlage des nhd. lautsystems s. 3 fg. sind doch keine Widerlegung. Referent muss
diese klage um so mehr betonen, als sich bereits stimmen hören lassen, welche
geradezu die Vertreter der angeführten wissenschaftlich begründeten ansichten ver-
höhnen. Prof. Brenner in einer recension meiner mhd. gi'amm. nebst wöiierb. zu der
Nib. not sagt in den Blättern für das bayerische g-jannasialschulwesen 1890, 480:
„Martin hat sonderbare dinge stehen lassen: das alemannische am Oberrhein soll dem
mhd. am nächsten gestanden haben; am Main wurde statt tio ü gesprochen, in Böh-
men habe die deutsche bevölkerung einen mischdialekt ausgebildet ..." Da die
redaction dieses bajTischen schulblattes eine entgeguimg nicht berücksichtigt hat, so
möchte ich die gelegenheit nicht vorübergehen lassen öffentlich zu einer wissenschaft-
liclien Widerlegung oder zur anerkennung der auch von mir vertretenen annahmen
aufzufordern.
Noch ein priucipieller punkt bedarf der erörterung. S. 598 sagt Behaghel:
„Die theateraussprache von t als tenuis aspirata ist ein reines kunstprodukt " ; s. 588
wird das etwas deutlicher und vorsichtiger erläutert. Es ist ja möglich, dass das
bestreben, den orthographisch überlieferten unterschied von d und t auch phonetisch
VliER PAUL, CiRUNDRISS DV;R GERM. I'HIL. I. II 223
geltend zu inaiheii, aul' die asiuration dos .lulautondeii / hiugcwiikt hat; aber dio
theaterspracho hat dies bestreben gewiss iu keiner weise gefördert, geschweige
denn liervorgerulen. Überhaupt wird der bülmensprache viellaeh eine weit übeilrie-
bene bedeutung beigelegt. Von irgend einem einfluss auf die Umgangssprache, von
irgend einer mustcrgiltigkeit kann höchstens seit Lessings auftreten, also rund von
1750 ab, als von einer möglichkeit geredet worden. In Wahrheit abc;r hatte noch
Goethe um 1800 als theaterdirekter sein(; li(;be iiet (hunit den srhauspielcrn di»; aus-
spräche der gebildeten kreise beizubringen: sielie z. b. CJui'thcs gesprileiie herausg.
von W. freiherrn v. liioderinann 1, 219. Von ausdrücklieheii fostsetzungen üljer die
biihneuaussprachc z. b. des (j wüste icli erst aus den 70er jähren unseres Jahr-
hunderts. In jedem fall folgt das theater der spräche der gebildeten kreise erst
nac'h. Auf diese und auf das ganze Volk hat vielmehr ein anderer faktor mass-
gebend eingewirkt, dei- wcnigstriis lici üi'haghel nicht genügend hervorg(.'hoben wird,
die kanzel. ^Man kann sagen: von lUfiO bis 15.50 ist das neuhochdeutsche kanz-
leisprache; von da bis wenig.stens 1750 ist es kanzelspraehe. Der schulunterriclit
schloss sich der kanzel au. Ein beispiel ihrer Wirksamkeit ist das nhd. vafcr mit
langem rr, neben ijerdller mit kurzem. Der oberdeutsche spricht muudai'tlich futrr,
und noch Goethe sprach so, wie aus Goethes gespr. 8, 344 zu entnehmen ist. Die
Vermutung liegt nahe, dass das lutherische Vater unser die dehuuug auch nach Süd-
deutschland brachte; so wird auch das gieh sein J erhalten haben. Übrigens soll
nicht geleugnet werden, dass gerade im ernsten Schauspiel die dialektische aussiirache
besonders störend erschien, wofür i'in lieispiel die iu Dauzels Gottsched 266 berührte
Strassburger aufführ ung gibt; nur dass nicht vou Gottscheds Cato, sondern vom Po-
lyeuct der frau Link die rede ist (s. Jahrbuch des Vogeseuclulis VII, 118). Auch
mögen die Wanderungen guter truppen oder gastspiele hervorragender schausiiieler zur
Verbreitung der neuhochdeutschen musteraussprache beigetragen haben.
Vou streitigen einzelheiten Ijerühre ich nur noch auf s. 009 irdnächaffrii , das
allerdings auch Lexer mit d schreibt. p]s ist, wie die belege zeigen, aus dem nie-
derdeutsclien entlehnt, wo ivaii- vielfach als negations[iartikel erscheint: iranliöde
Vernachlässigung, ivanhüp, /rainiie//(/c/t usw. und solte ebenso wie iranirit\e mit
kurzem a bezeichnet sein.
S. 530 ist boische einwandcruug wol für slawische e. gesezt. Ebenda
ist die behauptung irrig, dass seit der Hussitenbewegung das deutsche iu Böhmen
fortdauerud rückschritte gemacht habe: der anschluss der böhmischen brüder an
Luther hat das deutschtum in Böhmen gefördert, die gegenreformation seit 1620 hat
das tschechische unterdrückt, und zwar mit gew'alt und mit fast volstäudigem erfolg,
soweit es sich um die litteratur handelt.
S. 531 wird von den deutschen eigenuamen in Urkunden gesagt, dass sie ausser
St. Gallen in den deutschen stamlanden erst seit dem 9. Jahrhundert erscheüieu:
AVeissenburg uud Mui-bach bieten sie doch schon um 700. — Die s. 335 angegebene
abgränziuig des niederdeutschen vom mitteldeutschen weicht sehr stark ab von der
durch Eichard Andree im Globus LIX n. 2 und 3 (mit einer sehr hübscheu karte)
bestirnten: wo das richtige liegt, ist vielfach wol noch zu untersuchen. — S. 625
wäre für die genusübergänge wol zu bemerken gewesen, dass zwischen mhd. und
nhd. der unterschied öfters auf andere mundartliche grundlage zurückgeht: z. b.
hhane ist fem. im nhd. wie bei Otfrid, mhd. masc. Vergleiche hierfüi- namentlich die
reichen samluugen in Weinholds Mhd. gramm. § 309 — 311.
224 MARTIN
Von druckfehlern notiere ich die folgenden: s. 527 ScJimierlach st. Sehnier-
lach, 539 Telft st. Telfs, 560 Stväbe st. Swäp, ebd. kürzung von st. Idirzung vor,
596 hwartum st. hwurbum. Öfters ist ä für d gesezt worden.
Als 6. teil des V. abschnittes scbliesst sich an: Geschichte der niederländischen
spräche von Jan te Winkel, also von einem Niederländer, dem zunächst die cor-
rectheit des deutscheu ausdrucks lobend nachzusagen ist, abgesehen von wenigen
hollaudismen , wie auscjeiviclicn für (jeflücläet , blieb über anstatt blieb übrig u. ä.
Hunde s. 688 ist druckfehler. Die anordnung lässt zu wünschen übrig; von den ver-
schiedenen orthographischen Systemen ist s. 641 fgg. und wider, aber ausfülii'licher,
s. 658 fgg. die rede; ebenso wird der einüuss des französischen mehrmals behandelt.
Dies liegt zum teil an der erweiterung des gesichtskreises , in welchen von te Winkel
auch Wortbildung und syntax hineingezogen werden, während sonst meist nur laut-
und flexionslehre behandelt worden sind. Diese mannigfachen gegenstände erscheinen
allerdings öfters in einer unerwarteten Verbindung imd reihenfolge behandelt. Bei den
differenzen zwischen holländisch und flämisch ist das leidige confessionelle element,
welches auf die trennung und auseinanderhaltung besonders hingewirkt hat, nicht
angeführt. Einzelnes erscheint unrichtig. S. 648 „In stnoel neben mtiil haben wir
wol ein späteres westfälisches oder rheinisches lehnwoii; mit nicht verstandenem s
aus das mül"-. Hier wäre schon das anstatt dat auch für die nächsten nachbarn der
Niederländer nicht anzunehmen. Vielmehl- haben wir ja in schmollen, mhd. smielen
das vprb, zu dem das nl. Substantiv gehört. S. 670: „Sehr eigentümliche imperative
sind im mnl. sich von sisn, lach von laen neben taten, divach von dwaen, stach
von slaen, doch von doen, ganc von gaen, stant von staen"-. Hier hätten doch wol
die aus älteren, im hochd. erhaltenen formen ganz leicht ei klärbaren sich usw. von
den beiden analogieformen lach (auch mhd.) und doch getrent werden müssen. S. 682
werden die weiblichen bildungen graefnede, sivaesenede und gesetnede auf Zusammen-
setzung mit altsächs. ides zurückgeführt: schwerlich mit recht; lautlich entsprechen
vielmehr völlig ableitmigen auf mlat. ata, wie mansionata auch mesneda ergibt
(s. Ducange). 685 ^,oorlog (aus tirlugi) bedeutet das flamme verursachende; vgl.
ags. ortege, mhd. urtüge . . ."; diese mhd. form ist erst in jungen quellen und ver-
mutlich mit langem ü überliefert; auch ist die bedeutung des verursachens abzuleh-
nen, da mhd. tir- (= got. us) in den nomina dem mhd. er- in verben gleichsteht,
also nur hervorgehn aus etwas gemeint ist. Dies zu s. 684; ebenda fehlt die ver-
wendimg des praefix tvan zur negation, wie in tvanconnen. 686 wird minne als
verstümmelt aus minnemoeder bezeichnet; aber auch das mhd. hat minne ohne wei-
tere Zusammensetzung für grossmutter oder mutter; ebenso steht es mit den meisten
übrigen Wörtern, die nach dem Verfasser verstümmelt sein sollen. 704 wird der kel-
tische Ursprung von lign und Nymwegen mit imrecht angezweifelt. Falsche formen
fremder sprachen s. 701 Friggadagr und 709 n'exceptee jjersonnc.
Widerum auf laut- und flexionslehre beschränkt sich 7. die geschichte der
friesischen spräche von Th. Siebs. Der nicht eben reiche Sprachschatz des frie-
sischen wird klar und übersichtlich, vielleicht etwas breit dargestelt, mit vorsichtiger
betonung des sicheren und des ungewissen. Der volksname wird aus got. fraisan
erklärt: „die in gefahr (d.h. in wassergefahr) schwebenden"; warum nicht die erprob-
ten? oder die kühnen? der uralte name wird doch wol ein auszeichnendes lob sein;
und nach den Zeugnissen der alten lebten die Chauken noch mehr als die Friesen
in gefährdeter läge.
ÜBER PAUL, GRUNDRISS DER GERM. PHIL. I. II 225
Um SO reicher erscheint dem friesischen gegenüber die geschichte der eng-
lischen spräche, von Khige bearbeitet, dem für die geschichte der französischen
bestaudteile 1). Behrens, für die syntax E. Eineukel zur seite getreten sind. Es
ist eine überaus grosse fülle an tatsaohen und, wie Kluge selbst hervorhebt, eine
noch grössere fülle von anregungen zu weiterer forschung, die sich liier darbietet.
Für das mittelenglische ist namentlich ten Brinks buch über Chaucers spräche
benuzt worden. Ein paar mal scheinen nicht alle möglichkeiten erwogen worden zu
sein: wenn (s. 840) der niangol der palatalisierung in aengl. sco/ darauf zurückgeführt
wird, dass lat. scola erst später als scrinium {shriiie gegenüber von school) u. a.
eingeführt worden sei, so lässt sich doch wol auch denken, dass der beständige
gebrauch des fremden wertes in der klosterschule auch die fremden laute geschüzt
habe. Widerholungen sind auch in diesem beitrage Kluges nicht vermieden: s. 870
wird sogar dieselbe belegschrift z. 9 und z. 14 angeführt. Der abschnitt über die
Syntax ist übermässig knapp: s. 911 heisst es, dass stielte usw. „ihr gescldecht
ändern'^; welches sie vorher hatten und nachher erhalten haben, wird nicht gesagt.
Schriften von Rosenbauer, Dubislav usw. werden ohne jede nähere angäbe citiert.
Zum vergleich mit den syntaktischen eigentümlichkeiten des älteren engUsch, wofür
übrigens wesentlich niu' auffallende Verwendungen von pronom^ina und partikeln
angeführt werden, dienen altfranzösische, von A. Tobler vermerkte; dass germanische
sprachen, insbesondere die niederländische, aber auch das nihd., viel ähnliches zeigen,
hätte in einem grundrisse der germanischen philologie wol gesagt werden können.
Als anliang zur Sprachgeschichte folgt die bearbeitung der lebenden mundarten.
Algemeine grundzüge schickt Ph. "Wegener voraus, mit berücksichtigung des Mag-
deburgischen für die beispiele und mit praktischem sinn für die anleitung zu diesen
forsehungen. Für die deutschen mundarten gibt F. Kauffmann eine sorgfältige
bibliographie. Die skandinavischen behandelt J. A. Lund eil, die englischen J. Wright,
beide mit eignen methodologischen bemerkungen über geschichte und umfang der
mimdarten. Vielleicht wäre es nicht unmöglich gewesen, irgendwo die germanische
schifferkoine zu behandeln, von der s. 937 mit recht die rede ist und welcher eine
gemeinsprache der romanischen Seeleute gegenüber stehen soll. Auch das juden-
deutsch hätte doch wol berücksichtigung verdient, w^elches — aus kulturhistorischen
veiiiältnissen erklärlich — auch auf das gaunerdeutsch eingewirkt hat. An litteratur
für diese beiden leztgeuanten fehlt es bekantlich nicht.
Den schluss des ersten bandes bildet die mythologie, welche eigentlich mit
der heldeusage zusammenhängen und mit dieser den litte rarhistorisch eu teil eröfneu
solte; räumliche rücksichten haben wol die abgrenzuug der bände bestirnt. Die
mythologie, von Mogk bearbeitet, liegt bis jezt nur zum teil veröffentlicht vor, so
dass ein urteil über diesen ganzen abschnitt besser noch ausgesezt wird. Nur einzel-
heiten mögen schon jezt zur spräche kommen. Von Müllenhoffs arbeiten, die nach
dem mieil des referenten die wege zu einer wissenschaftlichen behandluug der deut-
schen mythologie überhaupt erst eröfuet haben, fehlt auf s. 99.5 die zulezt, allerdings
nach dem tode des Verfassers erschienene: Frija und der halsbandmy thus , ztsclir. f.
d. a. 30, 217 — 260. — S. 100.5 heisst es: „Interessant ist im hinblick hierauf [auf
den glauben von dem vorleben der seele] die Vorstellung, die der Schwede im mit-
telalter von der menschlichen seele hatte: er stelte dieselbe dar als kleines kind, das
der sterbende aus dem munde hauchte . . Die Seelen können also als kiuder wider-
geboren werden". Die augeführte Vorstellung ist algemein christlich und dui'ch mit-
telalterliche bilder in Deutschland und Italien häufig bezeugt: im Hortus deliciarum
ZEITSCHRIFT F. DEUTSCHE PHII.OLOGIE. ED. XXFV. lO
226 MARTIN
der Herrad von Laudsberg (in Straubs ausgäbe der bilder pl. XXXIII); drei Jahrhun-
derte später bei Diebold Lauber (Geffcken, Bilderkateehismus des lo.jahrh., tafel XI
und XII) ; auf dem bekanten ^Triumph des todes" im Campo Santo zu Pisa, der
Orcagna zugeschrieben wurde, und noch später auf itaUänischen bildern (Denkm. der
kunst, volksausg. tafel 62). — Zu s. 1014 y,valr = die leichen, toten, valkyrja, väl-
eyrie totenwähleriu " durfte nicht verschwiegen werden, dass es sich bei ival nach
allen Zeugnissen (wie es ja jezt noch in „"Walstatt" der fall ist) um die im kämpfe
gefallenen handelt; dass ferner die verwantschaft einerseits mitwählen, andrerseits mit
wälzen und wallen auf die Vorstellung von den im gewaltsamen tode sich ura^^'äl-
zenden, sich übereinander wälzenden sterbenden hinweist. Die Verbreitung der Wör-
ter ival, wie sie zumal durch den gebrauch in zusammengesezten namen sich kund-
gibt, und der Zusammenhang mit dem kriegerleben geben auch dem begriff der
Walküre im alten Germanenglauben eine vorzügliche stelle, und es ist wol grund
vorhanden anzunehmen, dass erst mit dem verblassen dieser Vorstellung sich die —
vielleicht an sich älteren — Vorstellungen von dem geistergesindel der maren, tru-
den, hexen usw. wider in den vordei'grund gedrängt haben. Den griechischen keren
vergleichbar, stehen die walküren recht mitten in der heroischen Weltanschauung;
die nornen erscheinen ebenfals in solcher besonderer beziehung zu kämpf und tod,
so dass sie wol als veralgemeinerung jenes schicksalsbegriffes gelten dürfen.
Von Mogk ist auch die geschichte der norwegisch -isländischen litteratur ver-
fasst, mit deren beschluss das 2. heft desl. bandos, I. abteilung begint. S. 136 erhält
Gautier, der dichter der lat. Alexandreis, mit unrecht noch den vornameu Ph(ilipp?).
Hieran schliesst sich die Geschichte der schwedisch -dänischen litteratui' von
H. Schuck. S. 149 ist Genoveva wol ein Lapsus calami für Griseldis. Die geschichte
dieser an sich weder durch Inhalt noch durch form anziehenden litteratur hätte viel-
leicht durch die besondere rücksicht auf deutsche, natürlich meist niederdeutsche
Vorbilder und pai'allelen noch einen eigenen wert erhalten kömien; dazu wäre s. 151
bei den Dyre-rim (vgl. s. 432), dem Broder Eus (vgl. s. 431) und sonst gele-
genheit gewesen.
Für deutsche leser tritt mit der althoch- und altniederdeutschen litteratur,
deren geschichte Kögel geschrieben hat, wider das heimatliche Interesse hervor.
Kögel hat die dürftigkeit und lückenhaftigkeit der quellen durch ki'itische behandlung
aufzuheben gesucht, auch manches neue geboten, dem jedoch referent keineswegs
durchweg zustimmen kann. S. 163 heisst es vom Wiener liuudesegeu , es sei dabei
nicht an einen hirten zu denken . . „Auch bleibt der hirtenhund bei der herde und
läuft nicht durch wald und feld". Hier gibt aufschluss, was bei Schmeller B. wb. II ^,
902 über die wolfssegen mitgeteilt wird und auffallender weise auch von Müllenhoff
in den denkmälern nicht beuuzt worden ist. In diesen wolfssegen wird das vieh vor
wolf und Wölfin sowie vor dieben in schütz genommen, wenn es 7iu holex und xtt
veld . . XU waid und zu wasser geht. Für die Aveidenden tiere ist also der wolfs-
segen bestirnt, und die einfüguug der hunde und Iiündiunen ist eine Verdrehung des
echten textes, die allerdings wol ein Jäger (oder ein hundezüchter?) vorgenommen
haben mag. Dass der h. Martin als hirte genant wird, stimt zu einem lateinischen
liedcheu bei Du Meril, Poesie du M. A. 111: 0 Martine., pastor egregie, Nos a
lupi defendas rabie Saerientis. — S. 165 fehlt der Züricher milchsegen: Germ. 22,
352 fg. — S. 166 ist die Vermutung, dass die Germanen in der schlacht den rhyth-
mus ihrer gesänge durch anschlagen der Schwerter an die schilde markiert hätten,
dui'ch die angeführten Tacitusstellen schwerlich gerechtfertigt. Dagegen hätte bei
ÜBER PAUL, GRÜXDRISS PER GER>r. rifTL. I. 11 227
aiifühnmg von Tac. Germ. 3 der barditus wol auch erwiUiiit und erläutert werden
kiiuueii. — S. 168 wird die annähme von germanischen klageliedorn an der bahre
vor der bestattung durch die griechischen, römischen und slavisclieu beispiele nicht
genügend gestüzt, zmnal Tacitus ausdrücklich den gegensatz gegen die römisclie toteu-
feier hervorhebt. — Nach s. 171 „liatte Notker der Deutsche über undankbare klo-
sterschüler zu klagen, die verslein auf ihn machten"; aber Henrici QF. 29, 187 zeigt,
dass die als zusatz Notkers bezeichnete stelle schon bei Augustinus steht. Auf der
folgenden seite ist die Übersetzung von ersaxta durch „sezte an", die MüUenhoff gege-
ben und durcli beispiele gestüzt hatte, sehr burschikos durch verweis auf das setzen
(„pouieren") doi- Studenten abgetan worden. Für die spotlieder hätte auf Ztschr. f.
d. a. 18, 2G1 fg., 33, 437 fgg. verwiesen werden sollen; ebenso wegen der rätsei und
Sprichwörter auf Voigt Ztschr. f. d. a. 30, 260 fgg. 352, sowie auf dessen ausgäbe
(,1er Fecunda ratis von Egbert von Lüttich (Halle 1889). — Besonders ausführlich
ist das Hildebrandslied behandelt; aber refereot bedauert sagen zu müssen, dass
er gerade hier viel zu beanstanden jBndet. Zunächst hätte unter den hilfsmitteln hier
wie sonst auch das facsimile in Könnekes bilderatlas angeführt werden sollen. S. 176
behauptet Kögel: „Die herschende meinung ist seit Holtzmann, dass ein Niederdeut-
scher habe hochdeutsch schreiben wollen". Referent kann versichern, dass alle ihm
persönlich bekanteu germanisten diese meinung nicht geteilt haben; und wenn K.
auf die inzwischen gestorbenen keine rücksicht nehmen will, so leben doch noch
Rieger, Heinzel u. a., die sich für den niederdeutschen Ursprung des liedes aus-
gesprochen haben. Kögel uent Müllenhoifs beweisgründe für diesen Ursprung dürf-
tig: uns schienen sie sclilagend. Was sonst schon Lachmann über die niederdeutsche
syntax des liedes gesagt hat, verschweigt er; ebenso die behandluug des lautstandes
und Wortvorrats durch Socin, Schriftsprache s. 54 fgg., während doch bei diesem mit
recht auch das bemerkt ist, was vom sächsisch -niederdeutschen ab- und auf einen
grenzdialekt hinweist. Dazu komt übrigens noch der gebrauch der praep. in, die
as. durch an vertreten ist. — Kögel behauptet, dass urhettun als „kämpfer" aus dem
ahd. nicht verständlich sein würde, wol aber aus dem niederdeutschen sprachkreise,
wenn es aucli im as. zufällig rdcht belegt wäre. Warum soll nun das fehlen der
bedeutung im ahd. nicht auch zufall sein? Die in den Gl. Ker. 251, 29 überlieferte
bedeutiuig von urheizTio = suspensus kann übngens doch nur ebenso tropisch verstan-
den werden, wie in dem unmittelbar vorhergehenden pikeizit = susj)endit, pollicehtr;
oder wie soll die sinlichc bedeutung von „hängen" dem mit heixxan zusammengesez-
ten werte zugekommen sein? urheixxo, als „kämpfer" gefasst, führt auf den begriff
des woxdi. he it strenrija, worüber Grimm, RA. 900 zu vergleichen ist und wovon, ohne
die speciell nordischen formen, Beowulf 676 fgg. ein beispiel gibt. "Wie es aber mög-
lich war, diesen begriff lat. durch suspensus wider zu geben, darüber möge eine
Vermutung gestattet sein. Manche ausdrücke und gebrauche des germanischen fech-
terwesens sind uralt und können schon bei den römischen giadiatoren üblich gewesen
sein, welche grossenteils Germanen waren. (Seneca sagt ep. 70 §20 in einer überaus
drastischen, hier nicht mitteilbaren geschichte: in Indo hestiariorum unus e Germa-
nis cum ad matutina spectacula pararetur). Ein beispiel für diesen Zusammen-
hang bietet der iimstand, dass, wie der besiegte gladiator um sein leben flehend einen
linger emporreckt, so auch im rosengailen die besiegten riesen es tun: Grimms ausg.
1174 11 f recket im die fmger der rise Püsolt. Ebenso könte es auch altgerma-
nischer brauch sein , den ich freilich nur aus ritterlicher poesie (Uhich Lanz. 5429 fgg.)
nachweisen kaim, dass der sich zuni kämpf erbietende einen schild aushängte, wie
15*
228 MARTIN
noch später die meistersiuger zum wctsingen aufforderteu , indem sie einen kränz
aushängten (Wackernagel LG.- § 74, 13). So würde der urheizxo insofern stispen-
sus genant, als er einen schild oder ein sonstiges zeichen der herausforderung auf-
gehängt hat; und ebenso würde sich die giosse piheizit = suspcndit erklären. Vgl.
übrigens auch unten II, 2, 185, wonach der dingfrieden durch einen aufgehäng-
ten Schild bezeichnet; als „ding" wurde ja auch der gerichtliche Zweikampf auf-
gefasst (ivchadinc). Ich könte schliesslich mich noch auf die heutige Studenten-
sprache berufen, welche „mit einem hängen" von einem zum duell bestimten ge-
braucht; ich würde damit dem beispiel Kögels folgen, dessen deutung von ersaxta
s. 172, wie oben bemerkt, sich ebenfals auf die heutige Studentensprache stüzt. —
S. 177 heisst es zu v. 20, dass bür- als „kammer, frauengemach" nicht hochdeutsch
sei. Aber hat es hier diese bedeutung? Kann es nicht bedeuten: haus (so übersezt
Lachmann, Kl. sehr. s. 425) oder auch wohnort? vgl. zu der lezten annähme He-
iland 196 barn an burgun und 205 M. — Für z. 2G vonnutet Kögel dehUsto mit
Verweisung auf ahd. glossen derotus = kideht; also liier soll das ahd. für das nie-
derdeutsche mit gelten. Allein wie erklärt sich kideJtt etymologisch? Graphisch
leichter ist auf jeden fall die conjectur dcncJnsio, welche Scherer, Ztschr. f. d. a. 20,
380 eingehend begründet hat, und deren ableitung keine Schwierigkeit bereitet. ■ —
Zu s. 35 dat bemerkt Kögel: Dass-säfze ohne vorhei-gehenden hauptsatz begegnen
zwar auch sonst, aber nicht in dem hier durch den Zusammenhang geforderten
sinne". Demgegenüber verweise ich auf Lachmanns anmerkuug, die ich Ztschr. f. d.
a. 34, 281 mitgeteilt liabe, und wozu, wie J. Stosch mich mit recht erinnert, ich
auch auf Beneckes anm. zu Iwein7928, Haupts zu Erek 4068, sowie auf Priestereid
(Denkmäler - LXVIII) besonders mit dem schluss der dazu gehörigen anmerkuug mich
hätte beziehen sollen. Auch die heutige Volkssprache kent Versicherungssätze mit
„dass" ohne vorhergehendes verbum: Arnold Pfingstmontag III, 2 (Bcrwcl) dass ich
ne ivurr verwitsche ! IV, 5 (Lizeuziat) dass ich als %eUe wäj rJ Nachts nimm iviirr
gehn! IV, 6 (Mehlbrüh) dass ich's (jewiss nit lyd. Die textveränderung Kögels
huat ist somit übei-flüssig. — Noch weniger zu billigen ist die freilich schon von
anderen vorgeschlagene abänderung der alliteration in v. 48 r'tclir : recclieo. Mit sol-
chen gewaltsamen mittein die folgerung Lachmauus, dass das lied in einem nieder-
deutschen grenzdialekt gedichtet sei, beseitigen ist nichts als eine petitio princi-
pii. — In bezug auf die sage vermutet Kögel s. 180, dass Theodorich als verbauter
an die stelle des von Odoaker abgesezten Eomulus getreten sei: aber wenn selbst die
grösten römischen kaiser und feldherrn von der deutschen heldensage volständig ver-
gessen worden sind, so hatte sie für eine derartige puppe doch erst recht kein
gedächtnis. — Schliesslich wird das gespräch von Hildebrant und Hadubrant als das
tragische gegenstück zu dem von Glaukos und Diomedes bezeichnet: wem ist mit sol-
chen ganz fern abliegenden vergleichen etwas gedient?
Bogreiflicherweise kann im übrigen Kögels litteraturgeschichte nicht ebenso
eingehend kritisiert werden. Nur noch zu den ältesten und wichtigsten deukmälern
seien folgende bemerkungen gestattet. Für den altsächsischen Ursprung des AVesso-
brunner gebets wird s. 196 geltend gemacht, dass ahd. want nur paries bedeute,
nicht wie as. '''went grenze, wofür als beweis as. giivand angeführt wird. Aber aus
mild, (jeivende neben getvande „ackermass" ist für das ahd. simplox dieselbe bedeu-
tung zu erschliessen, und das aus den Nib. 1280 bekante wende komt ebenfals in
betracht. So ruht der beweis Kögels für den mittelteil des denkmals auf schwacher
stütze. — Für das Muspilli wird s. 212 trotz des im as. überlieferten mudspelli
i'UEK r.M'L, GRIXDRISS DKR ÜERM. l'IUI.. I. II 229
eine Zusammensetzung des \vortes mit »iti- angenommen, das sonst nur in ludiccrf
mauhvurf erscheint und wofür keinerlei verwantschaft nachzuweisen ist, so dass auch
hier zweifei bleiben. Uass das gedieht vom muspilli rein bairischen dialekt habe
(s. 212), ist auch zu viel behauptet: s. Piper, Ztschr. f. d. pb. XV, 89 fgg. und jezt
II. Garke, QF. 69, 33 fg.
Bei Otfrid ist in der anm. zu s. 210 der gel)raueh grammatist-li falscher for-
men im reim den Schreibern zur last gelegt worden: aber da eine handschrift sicher,
zwei andre vermutlich untei' den äugen des dichters entstanden sind, -durften sich
die Schreiber da wol solche wilkür erlauben'.-' — Die auf derselben seite (nach
Olsen) beliauptete gleichzeitigkeit der drei rhythmischen Widmungen wird dadurch
sehr in frage gestelt, dass die widmung an Salomo gleich der an könig Ludwig das
akrostichon aucli in den schlussconsonanten der vorlezten reimzeile durchaus rein
iiiilt, während die au die S. Galler ungenau bindet: 42. 62. 108 thax, — tvas, 48 in —
finiim, 72. 130 ein — heim, 129 forn — fol. Das deutet doch auf ältere abfas-
sung; oder soll es Otfrid mit der metrik seinen freunden gegenüber minder genau
genommen haben, als gegen seine vorgesezten? — S. 216 soll Otfrid seine freunde
in S. Gallen sicher besucht haben: woher wissen wir das? kennen lernte er sie ja
in der klosterschule zu Fulda. — S. 217 heisst es: Otfrid habe („nach fremdem
muster, wie man jezt glaubt") die zahl der hebungen des halbverses auf vier erhöht:
das man ist doch nur von einem teile der germanisten zu verstehen. "Wenigstens
rcferent hält die Lachmannsche lehre von der ursprünglichkeit des vierhebigen kurz-
vei"ses für durchaus nicht erscliüttert und weiss sich auch hier mit vielen fachgenos-
sen eines sinucs. — Endlieh ein beispiel, wie Kögel sogar die in dem grundrisse
selbst ausgesproclienen ansichteu und angaben anderer, vielleicht unabsichtlich , über-
sieht: s. 186 wird mit berufmig auf T\'attenbach ° I, 319 fg. die bekante stelle der
Quedlinburger annalen über die sage von Ermanrich und Dietrich als wertloses zeugnis
abgewiesen, während s. 34 Sijmons doch schon bemerkt hatte, dass die angefochtene
echtheit von H. Lorenz (Germ. 31, 137 fgg.) mit guten gründen verteidigt worden sei.
Mehrere, allerdings kleinere und minder wichtige denkmäler sind ganz über-
gangen worden: so das Abecedarium Nortmannicum MSD. V, die Baseler recepte
MSD. LXn, der ordo ad d au dam poenitentiam MSD. LIIT, Ztschr. f. d. a. 21,
273 fg., der piiestereid MSD. LXYIII, die Hamburger und "Würzburger markbeschrei-
bnng (eb. LXIII. LXIY), die Essener und Freckenhorster heberollen. Die über-
gehung der glossenlitteratur wird man ebenso bedauern. Geschahen diese aus-
lassungen zur raumersparnis? Aber dann hätte doch lieber s. 189 der jezt volkommen
gleichgiltig gewordene streit über die z. 56 des Ludwigsliedes übergangen werden
sollen, deren lesung längst vöUig sicher gestelt worden ist. Ebenso hätten von den
lateinischen gedichten historischen inhaltes aus der Merowinger- und KaroUngerzeit
(s. 191) diejenigen wegbleiben können, die keine deutsche grundlage, nicht einmal
einen deutschen dichter haben.
S. 199, z. 4 ist anstatt: .,zu Yorkshire geboren" zu lesen „in Y. g." S. 200
heifst es von Eeinwald, er sei durch sein freundschafts Verhältnis zu SchiUer bekant;
warum nicht kurz: Schillers Schwager? Die frage, von wem die Glossae Lipsianae
Ztschr. f. d. a. 13, 335 fgg. herau.sgegeben seien, ist durch den hinweis auf den dama-
ligen herausgeber der Zeitschrift selbst leicht zu beantworten.
Den erwaitungen , die wenigstens der referent einem grundrisse gegenül)er hegt,
entspricht die behandkmg besser, welche F. Vogt der mittelhochdeutschen litteratur hat
angedeihen lassen (s. 245 — 418). Knapp und doch anschaulich werden die resultate
230 MARTIN
der bisherigen forscliung vorgelegt und durch den hinweis auf eine gut ausgewählte
zahl von belegsteilen und belegschriften die einzeluntersuchung weiter gewiesen. Die
Stellung, die der Verfasser den einzelnen Streitfragen gegenüber einnimt, könte refe-
rent nicht immer teilen; doch freut er sich namentlich darüber, dass Vogt in der
frage nach dem ursprünglichen text der Nibelungen die handschrift A bevorzugt
(s. 316): damit ist ein gemeinsamer boden gefunden, von dem aus die verschiedeneu
hypothesen über die entstehung dieses gedichts, unter denen referent die Lachmaims
und Müllenhoffs noch immer für die einzig wahrsclieinliche hält, gegen einander
abgewogen werden können. Hoffentlich nimt Paul in einer späteren neuen aufläge
des grundrisses (bei s. 133 des I. bandes) rücksicht auf die Stellung seines mit-
arbeiters.
Nur auf zwei stellen möchte referent kritisch eingehn. S. 251 wird die ent-
stehmig des Annoliedes bald nach dem tode des heiligen (1075) angesezt. Referent
hält die zuerst von Kettner eingehend begründete annähme einer abfassung im jähre
1106 für sicher. Die absieht des dichters ist unzweifelhaft, die nach dem uuervvar-
teten tod Heinrichs IV. zur Unterwerfung unter die geistliche Obergewalt gezwimge-
nen Kölner mit diesem loos auszusöhnen. Daher wird die Stadt Köln und Anno
zugleich gepriesen; ja der einzige fleck, der die brüst des heiligen verunziert hat, ist
sein unversöhnlicher hass gegen die stadt. Der schwung des liedes entspricht der
edlen grossmut, welche der dichter seiner siegreichen partei anempfiehlt, eine gross-
mut, welche gewiss zugleich die höchste klugheit genant werden muss. So lange
Köln noch kämpfte, wäre eine solche milde leicht als zeichen der schwäche erschie-
nen; auch müste, bei früherer abfassung, irgendwo eine bcdingung ausgesprochen
sein, irgendwo das subjektive moment der meinung des dichters hervortreten. Zu
diesem zeitansatz passt es nun auch vortreflich, dass v. 505. 6 Mainz als ort der
königsweihe bezeichnet wird: nicht bloss Eudolf von Schwaben ward hier gekrönt,
sondern auch Heinrich V. erhielt hier 1106 die reichsinsignien und ward von den
legaten noch besonders durch handaufleguug geweiht: Giesebrecht, Kaiserzeit 3'*, 747.
Sodann behauptet Vogt s. 325, dass die lyrik der vaganten erst mittels der
lyrik der vulgärsprachen, der deutschen volksmässigen wie der französisch -pro venza-
lischen die ausbildung erfahren habe , in der sie uns aus der Beurener handschrift ent-
gegentritt. Man wird unterscheiden müssen: einzelne lateinische stücke, auch solche
die bereits die volle kunst zeigen, sind sicher älter, und sie müssen uns als Zeugnisse
dienen für die priorität der lateinischen lyrik, die von der kii-chlichen dichtung aus-
gegangen, an den mustern der antike sich entwickelt hatte. Doch das bedarf wei-
terer ausführung, als sie hier möglich ist. Für jezt nur noch die bemerkung, dass
Vogt s. 326 mit unrecht die Strophenform des Eckenliedes als vorbild für die latei-
nische Carm. Bui'. nr. 180 bezeichnet. Abgesehen davon, dass die Übereinstimmung,
wie Vogt selbst hervorhebt, nur „fast ganz genau" ist: warum soll nicht das umge-
kehrte Verhältnis obwalten V die bildung der Strophe stimt weit mehr zu lateinischen,
französischen, niederländischen formen als zu deutschen. Ähnlich sind z. b. in
Bartschs Pasturellen 135, 22. 306, 1. Zwei punkte sind dabei massgebend: einmal
die reimstellung aabccb, von welcher F. Wolf, Scijuenzen und leiche s. 33 sagt:
„Natürlich gieng eine so durchaus volksartige form auch sehr bald von der mittel-
lateinischen in die vulgarpoesie über und erscheint aucli hier, was wol zu beachten
ist, am häufigsten in geistlichen moralisch -ascetischeu und volksmässigen gedichten".
Die deutsche volkspoesie hat sie auf jeden fall erst später und gewiss durch die
dichtungen in anderer spräche erhalten; und zwar liegt es weit näher an die latei-
ÜBEK PAUL, GRUNDRISS DER GKRM. l'HIJ-. I. II 231
nische, geistliche zu denken als an die romanische, ritterlii-he. Zweitens ist das ein-
schiebsei der jambischen dipodie vor der lezten reimsilbe der lateinischen Strophe
in der lateinisch -romanischen dichtung Ijcliebt und ursprünglich, nicht aber in der
deutschen; man begreift, dass der deutsche dichter sie durch eine dreihebige, klin-
gende zeile ersezte.
Die mittelniederdeutsche litteratur ist von II. Jellinghaus bearbeitet worden
(s. 419 — 452), der mit recht darauf hinweist, dass er sich kaum auf Vorgänger
stützen kann, wenn er das ganze reiche, aber nur selten ästhetisch wertvolle Schrift-
tum Niederdeutschlands zusanimcnfasst. Die abluingigkeit von Oberdoutschland, vom
Verfasser fast unwillig geschildert, macht ein einheitliches bild ziemlich unmöglich.
Um so nützlicher wird für die weitere einzelforschung die gebotene Übersicht sein.
S. 430 war anstatt Jan Deckers zu lesen: Jan de Clerc (oder Boendale : s. 471). S. 451
wird Eulenspiegel „der die Städter verhöhnende abenteurer aus dem bauernstande "
genant: ist nicht vielmehr anzunehmen, dass die spässe über die einzelnen hand-
werke aus der misgunst dieser selbst gegeneinander herstammen?
Für die von Jan te Winkel geschriebene geschichte der niederländischen lit-
teratur lagen dagegen zahlreiche und teilweise vortrefliche vorarbeiten vor. Das
16. Jahrhundert ist hier mit in den kreis der darstellung hineingezogen worden, wie
schon die mnd. litteraturgcschichte (und diese zwar noch in weitergehendem masse)
die neuzeit einbegriffen hatte.
Mit dem anfang der friesischen litteratur, deren geschichte Th. Siebs über-
nommen hat, schliesst das 4. heft des IL bandes, 1. abteilung ab.
Von der 2. abteilung des II. bandes ist inzwischen nur ein heft erschienen,
worin zunächst Amira das recht zu ende bringt (s. 129 — 200): eine reichhaltige,
wolgeordnete arbeit, für den ref. sehr lehrreich. Zu s. 137, wo als isländischer aus-
druck für kinder der geschwisterkinder „andere bräder" angeführt wird, kann bemerkt
werden, dass auch das Elsässische (gegend von Colmar) 's anderc(n) kinder für das-
selbe Verhältnis gebraucht.
Dagegen ist der XII. abschnitt: kriegswesen von A. Schultz überaus sum-
marisch behandelt worden (201 — 207). Das empfohlene buch von Jahns dürfte phi-
lologisch betrachtet nicht befriedigen.
Der XIII. abschnitt: sitte fasst zunächst die skandinavischen Verhältnisse ins
äuge (208 — 252). Der Verfasser dieser abtheilung. Kr. Kälund, bringt ein reiches
material zusammen, bei dem man nur gern die einzelnen Zeiträume noch mehr unter-
schieden sähe, da nur so der wert der einzelnen nordischen Zeugnisse für die erkent-
nis der urgermanischen zustände geprüft werden kann. Und auf diese ergänzung
scheint doch die 2. abteilung, worin A. Schultz die deutsch - englischen Verhältnisse
bespricht, sehr zu rechnen, da er nach wenigen Vorbemerkungen nur auf die ritter-
lichen Zeiten näher eingeht. Vielleicht bringt auch die fortsetzung noch die wün-
schenswerte darstellung der altgermanischeu sitte nach.
STRASSBURG. E. INIARTIN.
Prolegomena zu einer urkundlichen geschichte der Luzerner mundart,
von dr. ß. Brandstetter. Einsiedeln 1890. 88 s. 8.
Der Verfasser der vorliegenden schritt hat im jähre 1883 in seiner dissertation
„Die Zischlaute der mundart von Bero- Münster" (kanton Luzem) behandelt. Diese
schritt bewies bereits gründliche kentnis des weitern gebietes, das nun gegenständ
232 TOBLER
der vorliegenden ist und eine noch ausführlicliere behandlung erfahren soll. Die Pro-
legomena zeigen, dass der Verfasser auch der grössern aufgäbe, die er sich stelt,
durchaus gewachsen ist, und erwecken günstige erwartungen von dem künftigen
werke, dem der Verfasser vielleicht nur etwas zu viel schon vorweggenommen hat;
denn er bespricht nicht nur plan, methode und quellen desselben, sondern er gibt
auch schon zahlreiche proben des Stoffes und der bearbeituug und einen ausblick auf
ziele und resultate (s. 80 — 88). Wir kennen die dimensionen und proportionen, in
denen der bau errichtet werden soll, noch nicht, möchten aber dem Verfasser raten,
denselben nicht zu weitläufig anzulegen und auszuführen; denn wenn vor kurzem
Kaufmann über die geschichte der schwäbischen mundart ein buch schreiben
konte, so handelt es sich hier um ein viel engeres gebiet. Andrerseits kann freilich
ausführliche behandlung eines solchen um so gründlicher und erschöpfender sein und
einzelheiten von besonderm Interesse ans licht ziehen; nur wird es ratsam sein auch
beim kleinsten immer das Interesse der gesamtwissenschaft im äuge zu behalten und
in der fülle des Stoffes zufälliges von wesentlichem zu unterscheiden.
Beschreibung lebender schweizerischer mundarten haben wir seit 15 jähren
eine ganze reihe erhalten, darunter sehr gute, aber vorläufig wol auch genug; ge-
schichte einer mundart noch keine. Es ist also ein wirkliches verdienst, einmal das
Verhältnis aufzusuchen und darzustellen,' in welchem die gesprochene Volkssprache
der gegenwart zu der geschriebenen der altern zeit steht. Dabei erhebt sich aber
sogleich die frage: wie kann aus schritten der altern zeit die damalige (jeweilige)
mundart herausgelesen werden? welches sind die quellen, aus denen die ältere
mundart geschöpft werden kann, und nach welchen grundsätzeu müssen sie zu jenem
zwecke verwertet werden? Die art, wie der Verfasser dabei zu werke geht, ver-
dient volle Zustimmung durch die vorsieht und umsieht, die er anwendet (s. 64 fgg.);
denn dass wir auf einem unsichern boden stehen, verhehlt sich der Verfasser keinen
augenblick. Vor allem muss in der geschriebenen spräche der altern zeit eine kanz-
1 e i Sprache (s. 29 fgg.) unterschieden werden von Schriftstücken oder stellen , in denen
Volkssprache mehr und weniger unmittelbar zu tage tritt oder zu gründe liegt. Es
sind darnach primäre, secuudäre und tertiäre quellen der ältei'n mundart zu unter-
scheiden (s. 39 fgg.).
Richtig und wichtig ist innerhalb der mundart die Unterscheidung zweier
schichten, algemein üblicher und bloss von den gebildeten gebrauchter Wörter (s. 14).
Weniger tiefgehend ist der unterschied zwischen gewöhnlichen und euphemistisch
entstelten oder nur in formelhaften Verbindungen vorkommenden Wörtern (s. 15 fgg.).
Bemerkenswert sind die angaben über eine absichtlich entstelte sprachweise, welche
vom Verfasser (s. 17) Rotwelsch genant wird, dergleichen doch auch in harmloser
weise bei kindern vorkomt.
Die ältesten sichern belege von mundart findet der Verfasser (s. 26) in Orts-
namen aus dem ende des XII. Jahrhunderts; die mundart soll aber „natürlich lange
vorher bestanden haben" (s. 28). Dieser zusatz hätte wol wegbleiben dürfen, da zeit
und art jenes altern bostaudes uns unbekant sind. Die erste periode der mundart
soll von dem genanten Zeitpunkt bis gegen ende des XIV. Jahrhunderts reichen; die
zweite von da bis auf die reformatiou; die dritte bis heute. Diese ausätze mögen
aus algemein geschichtlichen gründen richtig sein; was der Verfasser von sprach-
lichen merkmalen anführt, würde kaum genügen. Den auffallenden mangcl an
abstrakten Substantiven in der heutigen mundart erklärt er (s. 27) als folge der Stag-
nation und verrottung aller Verhältnisse im XVII. und XVIII. Jahrhundert; aber
ÜBER BKANDSTKTTEK, LUZICRNEK MlTNIiAKT 233
jenor niangel liegt wol im woseii dvv iiuuuiart und di's gcinoinoii vullvslolicns über-
liauiit. Zwischen vulks- und kaiizli'is|iracli(' soll (naidi s. iiO) /.u aiirn zciicu „ciiio
tiefe klid'f' bestanden halien und doeb (nai'h s. .'il ) eine stai'ke gegenseitige bceintlus-
stmg - ■ was kaum viM'i'inbar ist. K'ielilig wird sein, dass die kanzleispracho der
mittcliioeiideutsrhen srliriftspraejic (wi'uii edei' snweil eine selelu; bestand s. .'iL', vgl.
1)^) näber stand als der mundart. IM-kunden des XIII. jahriiuiideils zeigiMi nueli
endungen mit \ eilen \rd<a!en, \\;ihi'end diesi' in andern abgeseliwädit sind; sebrill-
stüeko der ersteu art liaiien zuglei(;li mehr luundartlieln'n Charakter. Fein beobaclitet
und wichtig sind die für die vokale dev liildungssilben aut'gestelten gesetzo (s. öOfgg.);
(h'nnncli \ei'h;ilt sieh diT Verfasser zu dei' IVage der lautgesetze uneiitsi-birden (s. lil),
wie er denn aueh s. 17 in der Luzerne'i' mundart zwei furnie'n und s. (i'J zw(M vokale
nelien einander lii^steliend lindet. — S. öf) gibt ein hübsches l)eisjiiel eines rücksidibis-
ses von vfdiahiuahtät auf consouantische. Merkwürdig ist die auch in anderu inund-
arteii vorkommende schwäcliuug von vokah'n liaupttoniger silbeu im ersten teil von
Zusammensetzungen; dagegen sclieiid das -.v als durchgängige ('ndung des gen(^tiv auch
im plural und weiiilicher Wörter der Luzernisidien mundart eigen (s. 71).
Zum schluss einige orgiinzuugen und vielleicht berichtigungcn. Der Verfasser
zeigt scharfe phonetische iinterscheidungiMi, z. Vi. s. 10 ä stufen von fortis, welche
ihm nicht jedermann leicht uachempiinden wird; wenn er (s. 11) in nhd. iiacli))iitt(iti
alle ;> Silben gleich starktonig findet, kann ich ihm nicht Iieistiuimen, da ich dii'
dritte merklich stärker finde als die zweiti'. — Das auf s. '_'(^ in frage gestelte wort
tlnotlicriiig kann wol nur den thuufisch l»edeuten, der vom liäi'ing zwar in der grosso
sehr verschieden ist, aber wie jener eingesalzen schon im XV. jahiinmdert importiert
worden sein wird. — trau s. 4*2 ist das verkürzte nihd. iraiitlc^ weil. — S. 48 wird
ristcr als nelieuform von ct'sfii/ genommen und riiisilar eine ungeheuerliche form
genant; abei' s. 7(1 wird dies richtig dem nhd. hin/tcn/i/r gleich gesezt, und wir haben
im Idiotikon |I, i')32) keine andere erklärung zu geben gewusst. — S. ü8 wird das -is
von rrr(jch/.s dem von I/iirbscI//s gleichgestelt , und in der tat ist es beide mal aus
-nies entstanden, doch mit dem unterschied, dass im ei'sten der geuetiv eines part.
[irät. zu gründe liegt, im zweiten der des infiuitiv, also eigentlich -ciiiics. — Üb
flcfrcJd z= lärm (s. 7(3) auf mhd. (jcrrlite beruht, ist fraglich; s. Id. I, (544. — S. 8(3
werden (fsfoloi und (/'s/nliii;/ dop|)elforinen des part. perf. genant; aber das zweite
ist doch nur erweiterung des ersten dui'ch -///, in adjecti vischer bedeutung. —
8.87. ^^'arum die ausspi'ache ai von a/f in hlati. ;/r</H usw. einst herschend gewesen
sein müsse, verstehe ich nicht. — Die erklärung von (jrliifjclle s. 77 fg. scheint mir
sehr fraglich, bzw. der unterscliied der Schreibung mit l oder 11 nicht unwesentlich.
Im l-'ei'ner oberland wird allerdings das / der diminutivbildungcn verdoppelt, aber für
die Luzeruer mundart gilt dies nicht. Ich sehe in dem fraglichen wert eine Zusam-
mensetzung mit dem im Idiot. II, '210 besprochenen alten ijcUe , pcUcx. — 8.81.
fn •.'hrat tönte '. allerdings =^ (h, das sein, wo der artikel wirklich so lautet, nicht
zu blossem s verkürzt ist. Da aber die foiincl -.'best rede auch in niundartcn vor-
komt, wo der artikel nur '.s lautet (z. li. in Zürich), so muss die annähme der prä-
[losition offen bleiben; der casus wäi'e aufzufassen wie in \'lefsi, zulezt. — S. 82
scheint der Verfasser wirkliche Umschreibung des dativ durch die präposition //a anzu-
nehmen; ich verweise aber auf Idiot. 1, 200.
ZÜRICH, OKTOBER 1890. L. TOBLER.
234 sociN
Blattner, H., Über die mundarten des kantons Aargau. (Leipziger disser-
tation.) Brugg 1890.
Die vorstehende abbandliing zerfält in drei teile: einteilung der mundarten des
kantons Aargau, pbonetik, voealismus der Scbinznacher muudart. Die niundart des
ortes Scbinznach, aus welchem der Verfasser stamt, repräsentiert ihrer geogi'aphiscbeu
läge nach ungefähr das mittel unter den dialekten des kantons Aargau. Der Verfas-
ser unterscheidet sechs gi'uppen, deren umfang ein übersichthch gehaltenes kärtchen
veranschaulicht. Die südwestliche gruppe, die mit dem dialekt der angrenzenden
kantone Bern und Solothurn ziemlich übereinstimt, teilt Blattner dem „ deutsch - bur-
gundischen" sprachstamme zu; er glaubt sogar, es könte aus den heutigen mund-
arten ein beweis für oder gegen die Zugehörigkeit der Burgunden zu. den Ostgermanen
erbracht werden. Von den sechs charakteristica, die Blattner s. 17 für das aleman-
nisch - burgundische aufführt, können indes fünf ebensogut rein alemannisch sein,
und es bleibt als wesentli<;h nur die vocalisierung des / zu ii. Aber diese komt auch
anderwärts vor: sie ist nichts als eine folge schwerfälliger articulation. Ich muss
gestehen, dass ich mich gegen die methode, aus diesem moinent, wie Blattner es
tut, einen schluss auf altgermanische dialektverhältnisse zu ziehen, skeptisch ver-
halte. Auch die möglichkeit, jene palatalisierung durch romanischen einfluss zu
erklären, ist principiell abzuweisen. Die Sprachgeschichte lehrt, das es schon weit
gediehen sein muss mit der gegenseitigen durchdringung zweier sprachen, bis das
lautsystem davon inficiert wird. Die westlichen dialekte der deutschen Schweiz sind
nun aber durchaus keine bastardsprachen, sondern im gegenteil sehr altertümlich.
Blattner scheint die beiden arbeiten von Ludwig Tobler: „Ethnographische
gesichtspunkte der schweizerischen dialektforschung " und „ Die lexikalischen unter-
schiede der deutschen dialekte" nicht zu kennen. Hier ist ganz besonders der eigen-
artige Wortschatz der schweizerischen südwestgruppe herausgehoben; aber auch er ist
nicht durchschlagend für die annähme eines deutsch- burgundischen sprachidioms.
Wir wollen damit nicht a priori die möglichkeit von der band weisen, dass
eine deutsch - burgundische spräche sich wirklich entweder rein oder mit dem ale-
mannischen vermischt erhalten habe; aber vom boden der heutigen dialekte aus ist
dieser beweis nicht zu führen. Erst wenn uns aus der geschichte, aus dem recht,
aus gewissen gruppen von orts- und personennamen und namentlich aus dem häuser-
bau die notwendigkeit dargetan sein wird, für die deutsche "Westschweiz burgimdische
elemente anzunehmen, können wir uns dazu verstehen, auch ihre sprachlichen abwei-
chungen, sofern sie sich als alt erweisen, auf diese quelle zurückzuführen. Dass
man aber gar noch für die Scheidung von ost- und westgermanisch hieraus material
gewinnen könne, ist eine utopie. Die altburgundischen sprachreste geben ims ja nicht
einmal einen sicheren bescheid, und es scheint mir, dass, abgesehen vom nordischen,
seit dem 6. Jahrhundert die Unterscheidung von ost- und westgermanisch überhaupt
gegenstandslos geworden ist.
Im zweiten abschnitte „phonetik" unterscheidet Blattner für die Spiranten f, s,
seh, ch die drei stufen lenis, longa, fortis. Das verhalten der Frickthaler mundart
(s. 36 und 37) zeigt, dass es besser gewesen wäre, in Übereinstimmung mit anderen
dialektai'beiten zu sagen: lenis, fortis, geminata. — „Die longae stehen ohne rück-
sicht auf die quantität des vorhergehenden vocals im Innern der silbe als erste com-
ponenten doppelter oder dreifacher consonanz, z. b. luvd, ha«d, rosd, rosd, wa/d,
rä/d". Richtiger und iimfassender ist dieses gesetz von Heusler: „Consonautismus
von Basel -Stadt" §27 formuliert worden: „Treffen zwei oder mehr stimlose laute
ÜBER HLATTNEK, AARUAUKK MUNIiAKTKN 235
zusammen, so crhalton ihre rirtiimlationi'n ciiii' ^fwissc itiitlcrc intonsiliit, kräftiger
als die der leiiis. .scliwiiclicr als die der Inrtis. Wir kiuincii für diese lauto die
hezeichniing neutrale lirauelien". Die sonoren ii, in. I ninit llrusirr alli'rdinus von
dieser rcgel aus; es kaini da dialektverseliiedenheit \or!iet;;cn.
Manches zum kaiiiti'i di'r piioneük kiinte p'lci'nt werden aus der lieuliaddung
der art und weise, wie dir von L-Hit|iliysiiilnuiselii>n tlieni-ien uiilieeintlusstcn dialekt-
sehriftsteller sicli die inuiidartlirlie ortiiouraiihii' /.nrc.'idit inarhi'n; eiienso aus dun
typischen schreibefi'iilern der schiiljuyvnd. aus dci' landcsülilirheii ausspracdie des
selirii'tdeutsehen, lateiniseh(>n usw.
Der ..voealisnuis '• endlieh i;iiit zu wcniu' und zu viel. Zu weni^^, wenn man
iliu mit dei' i^icichzeitiii,' ersriiicnrncn disscrfation von K. liol'fmann: ., Dri- muml-
artliehe vocalisinus von IJascd -Stadt" vi'r.uleieiit - don voealisnuis dei- unbetontiMi
sill)en tut ülattner auf zwei si'iten ali - -; zu viel im liinMick dai'anl'. dass doi- \iic;i-
lismus der Seliinznaeiiri- mundarl sirli von di'mji'ni'j,en , dm Winteler und Stii-kellier-
i;er dargestelt halien, nicht wcsentlidi utitcrschcidct. lüaftnci' liiittc venlii'ustlii'hcr
getan, von <lcr ganzen lautlehre nur das aliwcichcndc anzugehen und (hd'iir die
fle.xions- odei' die wortiiihlungslelire ausluhrlich zu lieliandeln. Dass auf (hesen g(;hie-
ieu noeli wenig liand angelegt worden, ist um so he(lauerlichi'r. als gerade hier die
mundart in raschem zerfall liegriffcn ist.
A'on einzellieitcn liabe ich folgendes notiei't: der ausdruck s. S rii/u's iiiul s/ii-
/lis ..mit stumpf und stiel" kaiui nicht aus .,rauchi'nd und staubend" erklärt werden;
die synonyme wendiuig in anderen dialekti.'u „mit rinnpf uml stumjif" düi'ft<^ auf die
riclitige fährte füiiren. S. II: die [lalatalisierung des eh zum /V7/-iaute im <lialekt
des westlii'lu'U liernci' obei'landes erfolgt nicht nach vocal, sondern im anlant: /
fli'inm ich koinnu', rhia kann (Stalder, iMalektolouie s. (i'J), (h'acs käse, ch'iirchl,
knccht (üachmann, tiutturallaute s. 11). S. 13: das spätere bui'gundische gebiet hat
sieh weit über das .■\aretlial hinaus erstreckt, dcmi im lO./ll. Jahrhundert wai" nach
dem Zeugnis Wi|)po's Basel eine l)urgundisehe stadt. S. 17: In iUs „uns", n'/.sr"- „un-
ser" ist /;■/ doch ei'satzdehnung, wie die zwischenfoi'm Uns lieweist, deren umlaut
von der ai/cusativform /nisih herzurühren scheint. S. lil: rri-ii/i>il,-rii und rcrsrlnui'ii-
hr'i- sind zwi'i ganz verschiedene werter; das erste hängt mit iiifiiflichi zusannuen,
das zweite mit nihd. rersuiicijcii. 8.27 z. 7 v. u. lies ..nachfolgende'' st. „vorange-
hende"'.
S. fjlj: aus ilem offenen h in sinitiinr ,,s(unmer" lässt sich nicht schliessen,
dass tlie längung der consonanz in diesem werte besondei-s früh ci-folgt sei. da Ja
alle mhtl. i'i zu i( geworden sind. S. 72: .,erulung -/ aus ahd. -ida" seheint irtüm-
lich in den te\t gei-aten zu sein.
S. 73: iqAs aus rfrn-.xz ei-klärt sich nicht aus analogie, s<uidern aus einer
eigentümlichen alemannischen erliöhung von nebentonigem c zu / wie in der dui'ch
das unterscheidungsbedürfnis erhaltenen form Irhfi <i. lehrlr rircrcf. Vgl. über die-
ses gesetz die eitierte abhandlung von Hoflinann § 222 fgg.
S. 74: ein Wick in AVeinholds mhd. gramm. und auf den angienzenden dialekt
der landsidiaft Basel hätte dem Verfasser sofort gezeigt, dass die Verwendung der
conjuncti\-form ,s^//^ für siiit längst etwas ganz gewöhnliches ist.
Die Untersuchung moderner dialekte hat luich unserer anschauung vor allem
zwei Zielpunkte ins äuge zu fassen: 1) in principieller hinsieht aufschluss über die
bediugungen, unter denen die Sprachentwicklung sieh volzii^ht; 2i in h istoi'ischer
hinsieht rückschlüsse auf fnihere sprachperiodeu. Es ist klar, dass das Studium der
236
BERNHARDT
lautphysiologischen Untersuchungen von Winteler, Kräuter, Sievers, Trautmanu hie-
für allein nicht genügt. Wie man, ohne sich auf i^honetische subtilitäten einzulas-
sen, aus der vergleich ung der heutigen mundart mit der urkmidensprache über-
raschende resultate für die Sprachgeschichte des mittelalters gewinnen kann, zeigt die
[s. 231 fg. besprochene Red.] ausgezeichnete Schrift von E. Brandstetter: „Prolego-
mena zu einer lu-kuiidlichen geschichte der Luzerner mundart" (Einsiedelu 1890).
Der Verfasser unserer abhandlung verrät durch seine einleitenden bemerkungen über
das schwinden echt mundartlicher redeweise, über die eigenheiten der einzelnen dia-
lektgruppen, über zufällige einflüsse auf die lautgestaltung eines ortes, über den
unterschied von stadt- und landmundart (§ 13) eine scharfe beobachtungsgabe; aber
es mangelt ihm noch an kentnis der eigentlichen philologischen litteratur und an
belesenheit in den älteren Sprachdenkmälern. Für das historische hätte er unbedingt
Jahn 's „Geschichte der Burgundiouen " und die Fontes rerum Bernensium benützen
sollen. Werden diese lücken ausgefült, so soll es uns freuen, ihm auf dem felde der
mundai'tenforschimg wider zu begegnen.
BASEL, DEC 1890. ADOLF SOCIN.
A comparative glossary of the G^otliic language, with especial refe-
rence to English and German, by ii. H. Balg, Ph. D. With a preface
by Prof. Francis E. March. Mayville, Wisconsin 1887 — 1889.
Dies buch, ein statlicher band von 667 selten in vorzüglichem druck, liefert
einen erfreulichen beweis, dass jenseits des Atlantischen oceans das Studium germa-
nischer Sprachgeschichte im aufblühen begriffen ist.
Prof. March sagt darüber in seiner vorrede folgendes: ,, T/iis ylossary is largely
occupied ivith comfarativ etyvwlogy, but it should not he judycd as a scientific
dietionary 7nerely, but also as a practical handboolc to illtistrate and ground the
study of English by etymological study of its Gothic relations, and to aid in
making comparativ filology interesting. Hense the large niimber of English deri-
vativs fully explaind, the cxplanation not being eonfii/ed to the Gothic elemcnts of
the Etiglish words".
Die einrichtung des buchs wird diu-ch ein beispiel am besten dargelegt wer-
den. Unter hiaifs werden zuerst von 56 bibelversen und stellen der Skeireins, wo
das wort erscheint, 12 in der reihenfolge der biblischen Schriften angeführt. Sie ent-
halten belege für sämtliche casus, auch für die zwei nominativformen hiaifs und
hJaibs; ein beleg für den accusativ hlaib wird vermisst; auch ist die nominativform
hlai/js nicht erwähnt. Der dativ und accusativ des plurals sind je dreimal belegt.
Nun folgen die entsprechenden alt-, mittel- und neuenglischen, sowie die alt-, mit-
tel- und neuhochdeutschen formen; altnord. hleifr ist nicht erwähnt. Sodann wer-
den die englischen Zusammensetzungen hldf-irard = lord, hläf-dige = lady, hläf-
mresse = lamnias besjjrochen. Das lezte wort gibt dem Verfasser anlass zu einem
excurs über nuesse, neuengl. n/ass, nhd. messe, lat. missa. Die zweite bedeutung
des deutschen messe = Jahrmarkt führt ihn auf engl, fair, feriae, feicr.
Am Schlüsse des buches sind zehn Verzeichnisse der besprochenen griechischen,
lateinischen, alt-, mittel-, neuenglischen, altnordischen, altniederdeutschen, alt-,
mittel-, neuhochdeutschen Wörter beigegeben.
Das glossar ist gewiss geeignet das Verständnis des englischen zu fördern und
die teilnähme an diesem Studium zu beloben und zu verbreiten, und der von dem
ÜiKi; liAI.C, GLOSSAKV Ol" TIIK liuTlIir I.ANOUAGK 237
Verfasser auf seine sainluu^eii verwaute lleiss venlicut um so mehr auorkennung, da
die boschalfunf; der Iitteraris''lu'n liiilfsmittel für ihn mit grossen sdiwicrigkoiten ver-
Ijuiidt'ii war, s. lutroductory remarks s. XI.
Für uns in Iteutseliland wäre oline zwi'Hcl i'in neues gotisdics glossar mit vol-
stäudigen belegstollen, oindrinp:ndcr lieliandinng dei- wortliedeutungen, anf/.itliiuug der
entsprechenden wnrtfurmen in dm ülnigcn germanischen sjirachen eiiu; erwünschte
gahe. Solclie rnrdi'runi;iMi erfült nun fVeilirh Ualgs (ili)ssary nii'lit in ausreichendem
luasse. Die helegstellcn sind, wie wir sahen, iiidit v<dstiuidig aufgefüiiil; in der
zweiten hälfte des Werkes (von \\i> anV) sollen sie i's nadi des Verfassers angäbe
nu^ist ifiir Ihr ///us/ jtriii.'i sein; ersl ein für später vi'rsprdclii'ncr anhang s(.ill die
fehlenden eitate naelihringen. Was die iM'handlung dei' wui-tbi'dcntungen betriff, so
versichert der Verfasser gi'osse niüiu; auf genaue Übersetzung der gotischen Worte
verwant, ausser den vui-liandenen lexikalischen hüll'smittehi den gi'iechischeu text,
sowie die englischen und deutsclien bilielül)ersetzungen zu rate gezogen zu haben.
Das lezte wai' eine üliertlüssige mühe; neben dem griecliisciu;n toxt kommen zur
feststellung der Ijcdeutungen mir die Itahr und A'ulgata, einige kii'(dienv;iter, und
hiiciistens noch die ältesten deutsclien versioncsu resp. (;vangeli(uduarmoiiien in Ijctracht.
Kin tieferes eindringen in die liedeufung der gotischen wolle vermisse i<-h nicht sel-
ten. Was bedeutet z. b. af m <ifi/r/n//:ji/ . (ifVfJd. iiiip in inlfisutjait I. Kor. XIII, 2?
Wie kommen fninininn , iixii'niinu zu den bedeutungen „verzehren'^, „ biten •' und
der dativrection? Wie liäiigen die lieiilen bedeutungen von dis in dixlairnn , (//n-
11/11/111/ zusammen'.-' Was bedeutet i//i/r/i//'li/"f
Die aufzäliluug der entsprechenden werte in den übrigen germanischen spra-
chen iiedarf ebenfals der vervolstäudigung. AV^ir sahi'ii dien, dass zu l/btlß das alt-
nordische l/lcifr \\\c\\i angegeben ist; zufällig ist mir uoch das fehlen von altnord.
fii(ll luiter f/ifil'-i aufgefallen; im buchstaben P. vtu'misse ich die altnoi-dischen paral-
leji/n zu hitdi. (ii/(Uii/l/l.'< . hn'/njui/, hi/'/rijul/ii , hu/irijH, hulrl/ts, h/n/ji/ , husl, l/af/\(i,
hiiljd// usw.
Die vorstehenden bemerkungeii würden ihren zweck verfehlen, wenn sie den
Verfasser entmutigten. Müge iliin erfulg und amu'kennung in seiuer heimat nicht
fehlen und eine neue ausgäbe des (Uossary recht bald die vorhandenen mängel
beseitigen !
ERFURT, IM SKPT. 1S!)0. E. liERXHARUT.
Hartmaiin von Aue als lyriker. Eine litterarhistoriscli e Untersuchung
von F. Saniii. Halle a. S.. Niemeyer. ls89. 112 s. 2,40 m.
An litterarhisturischen Untersuchungen über Hartmann von Aue haben wir eher
überlluss als maiigel. Die wenig zahlreichen und wenig sicheren anhaltspuukte, die
für den lebensgang des diditers und die reiiienfolge seiner werke, insbesondere auch
der lyrischen, bisher in lietracht kamen, sind so vielfach bespi-ochen und so ver-
schieden verwertet, dass wd alles vorgdiracht schien, was einen für diesen oder
jenen Standpunkt, vielleicht auch für die überzc^igung einzunehmen vermochte, dass
wir über das, was der eine so, der amlere so entschieden zu haben meinte, über-
haupt nichts wissen können. Eine neue behandlung dahin gehöriger fragen wird daher
ihre berechtigung vor allem durch die beibringung neuer, bisher nicht bekanter oder
wenigstens nicht beachteter tatsachen zu erweisen haben. Solciie aufzudecken und
auszunutzen hat sich der Verfasser der vorliegenden schritt bemüht. Im vorhanden-
238 F. VOGT
sein oder fehlen des auftaktes bei den lyrischen, der Senkungen hei den reimpaar-
gedichten glaubt er ein kriterium für die spätere oder frühere abfassungszeit der ein-
zelnen werke Hartmanns gewonnen zu haben.
Die Zeitbestimmung der lieder geht natürlich von den auf den kreuzzug bezüg-
lichen aus, wobei angenommen wird, dass Hartmann sich der fahrt Barbarossas
angeschlossen habe, da für diese nach des Verfassers meinung auch die beziehungen
zwischen den betreffenden liedern und den predigten sprechen , welche gerade zu die-
sem 3. kreuzzuge auffordern. Das beim antreten der fahrt gedichtete ick var mit
iuivern hulden MF 218, 5, in welchem der auf Saladin bezügliche vers nun natür-
lich im anschluss an Grimm und Paul gedeutet wird, gehört demnach in den anfang
des Jahres 1189; vor ihm liegen die einzelne kreuzzugstrophe 211, 20 und die imter
dem frischen eindruck der kreuznahme gedichteten Strophen 209, 2öfgg., die etwa in
den april des Jahres 1188 zu setzen sind. Vor diesen widerum ist str. 206, 10 ver-
fasst, welche den tod des herren erwähnt, jedoch ohne das ereignis schon mit dem
entschlusse zur kreuznahme in Verbindung zu bringen. Zugleich wird in ihr der auf-
lösung eines liebesverhältnisses gedacht, auf welche sich auch die übrigen strophen
desselben tones beziehen; und da die erste unter ihnen im winter abgefasst sein muss,
so wird die eutstehung des ganzen tones in den winter von 1187/88 zu verweisen
sein. Auf das nächste verwant sind diesen strophen die MF 207, 11 mitgeteilten,
welche die aufsage des minnedienstes in einer weise behandeln, die voraussetzen
lässt, dass sie nicht lange vor den ersteren verfasst wurden; und da nun endlich
andi-erseits die str. 207, 11 eine direkte beziehung auf eine strophe des tones 206,
19 — 207, 10 enthält (vgl. v. 207, 11 mit 206, 28), so wissen wir, dass 206, 19 fgg.
vor 2(>7, 11 fgg. gedichtet sein muss, und wir haben somit für 6 töue eine bestimte,
vom beginn des Jahres 1189 rückwärts zu verfolgende reihe gewonnen. Dieser rei-
henfolge nun entsjjricht eine almähliche Veränderung in der behandlung des auftak-
tes: in dem lezten gedichte (218,5) fehlt dieser nirgends, in einigen der früheren fehlt
er schon hie und da; augenscheinlich ist hier eine almähliclie vervolkonmung der
kuust des dichters festzustellen, welche geeignet ist, auch auf die reihenfolge der
ausserhalb jener gruppe von 6 tönen liegenden lieder hcht zu werfen. Sie alle zeigen
in dieser bezieliung erhebhch mehr Unregelmässigkeiten als eben jene kurz vor den
kreuzzug lallende gruppe, und andrerseits lassen sie auch widerum unter sich beträcht-
liche abstufungen wahrnehmen. Darauf gründet der Verfasser ihre chronologische
bestimmung. Das Verhältnis der fälle, in welchen innerhalb eines tones der auftakt
fehlt, zur gesamtzahl der verse dieses tones drückt er in procenten aus, gibt eine
genau nach diesen procentzahlen geordnete tabellarische Übersicht über Hartmanns
sämtliche lieder, nimt an, dass ihi-e abfassungszeit ganz dieser Ordnung entspreche
und sucht dann schliesslich in einem besonderen kapitel auch den dichterischen ent-
wickelungsgang imseres Sängers durchaus diesem Schema gemäss zu konstruieren.
Die Untersuchung ist zunächst recht geschickt an einen festen punkt angespon-
nen; aber sie verliert sich schliesslich in so unsichere combinationen , wie sie nur je
über die reihenfolge der lieder Hartmanns angestelt sind. Das mathejnatische aus-
sehen, welches die grundlage der chronologischen aufstellungen des Verfassers zeigt,
darf über den grad ihrer Zuverlässigkeit nicht täuschen. Einmal sind schon die zah-
len, auf welchen die procentberechnungen fussen, viel zu gering, als dass diese ein
richtiges bild von dem wechselnden gebrauche des auftaktes bei unserm dichter geben
könten. Es ist ja schon verwirrend, wenn z. b. von dem nur 7 verse enthaltenden
liede 211, 20 fg. gesagt wird, die zahl der auftaktlosen verse betrage hier O,00prozent;
i'l!EK SA1;AX, If.VKTMANN V. AUK ALS LVKIKKU 239
di'iiu iiiflit auf 100, SDinlorn auf 7 vcrse limlrt sicli Iüit kein vers uliiu' auftakt, und
nuxu kann durc-haus nicht beliaupten, dass der dichter, AvtMui er dios lii'il auf 100
verse gebracht liütto, audi den iihrigeii 9'.", versen stets den auftakt gegeben liabeu
niüste, nur deshalb, Aveil er ihn den 7 ersten gali! Damit hiingt zusamnieii, dass die
dittercuzen zwischen den einzehien gediehten naeli dei- tal)elie des Verfassers viel
grösser orsc'heinen als sie tatsjlehlich sind. So stehn in ilir den O,0O proeent des
genanten tones 2,2'J proei'iit des 1. tones gegenülicr; alicr iii(tht diese zaid, sotidern
die zaid 0, iil würde die diiferenz der beiden im gebrauch der auftaktlesi^n versi^ aus-
liniekeu; denn da in dem \') vers(i undassenden !. tone zweimal der auftakt fehlt, so
würde das gleiche veriiiiltnis in einem gedi(;hte von 7 versen imaginär dunjh die ange-
gebene zahl, faktisch eher durch das fehlen als durch das vorkommen eines solchen fal-
les seinen ausdruek linden. Den erwähnlen L','-- [ireeeut des 1 . tones (iMFL'Or), 1) folgen
als näciisthriehste zalil !t,00 proeent des 10. tones (MF 214, 12). l)(>r Verfasser sieht
darin .,einen ganz auffaUeniliMi Sprung, der nach di^r sonst zu beoliaehtenden stetigen
zunähme der proecntzahlen in(dit natiirlieli unil organisch sein kann"'. Kr glaubt,
these Kicke in der fortschreitenden kunst des dieiders dadurcli ausfüllen zu müssen,
dass er vielleicht die abfassuug d(.'r verlorenen, von (Jliers ei'wiihuten leiche, „ohne
zweifei" aber das 1. büchlein (soweit der Verfasser dasselbe für e(;lit hält) zwischen
die der so sehr verschiedenen beiden tone sezt. Und woi'in bestellt denn nun tat-
sächlich dieser grosso, ganz auffallende unterschied? In den 45 vei'sen des einen
tones fehlt der auftakt zweimal, in den 22 versen des andern fehlt er ■ — auch
zweimal! Dies das wirkliche Verhältnis, weL'hes lediglieh dundi die hier ganz ver-
fehlte proceutrechnung zu dimensioneii aufgebauseht wird, die den Verfasser wie den
leser in die irre führen.
Aber damit uocli nicht genug; der Verfasser hat bei der aufstellung seiner
taltelle entweder ganz vergessen, dass dieselbe die fortschreitende regelung des auf-
taktes veranschaulichen soll, oder er sieht tliese regelung ausschliesslich in dem gleich-
massigen setzen, nicht auch in dem gleichmässigeu fehlen des auftaktes, und elienso-
wenig in dem bestirnten Wechsel von versen mit und ohne auftakt; denn nach seiner
Übersicht steigen unterschiedslos mit der zahl der auftaktlosen verse eines tones auch
jene proceutzahlen, deren almälüiches anwachsen uns immer weiter zurück auf die
stufen geringerer kuustfertigkeit des dichters führen soll; die denkbar niedrigste stufe
derselben würden wir demnach mit der denkbar hiichsten procentzahl erreichen, d. h.
in einem eonsei|uent ganz ohne auftakt gebauten gedi(;hte! Ein solehi.'S findet sich
nun allerdings bei Hartmann nicht, wol aber gebraucht er stropheuschemeu, welche
das fehlen des auftaktes an bestirnter stelle erheischen. So erfordert das grund-
scliema des tones 213, 29 augenscheinlich 4 auftaktlose stollenverse, während von
dem siebenzeüigen abgesang gleichfalls 5 verse ohne auftakt bleiben, 2 dagegen,
nämlich der zweite als der einzige zweihebige und der schlussvers, sich durch auf-
takt abheben. Die erste strophe zeigt diese reguläre form (denn z. 37 statt des
handschriftlichen (la\ ni(;ht mit Haupt deich, sondern mit Saran i/<i\ si einzusetzen,
haben wir keine veranlassung); die zweite weicht darin ab, dass sie ausser den ange-
gebenen auch zwei anderen versen des abgesanges noch den auftakt verleiht; das
auftaktschema wird also hier in einem liede von 22 versen zweimal vernachlässigt;
das ist genau dasselbe Verhältnis, wie es in dem vorhin besprochenen liede 214, 12
vorlag. Nach des Verfassers berechnung steht dagegen 213, 29 mit nicht weniger
als 68,20 proeent als ein gedieht, in welchem „das gefühl für die bedeutung des
auftaktes noch gar nicht existiert", ganz am anfang, 214, 12 nüt 9 proeent ganz am
240 F. VOGT
ende der vor der „grossen liicke" liegenden liederreihe. — Und so wie hier werden
denn auch in einem gedieh te, welches regelmässig verse ohne und mit auftakt wech-
seln lässt, die auftaktlosen ganz mechanisch zu einer zahl zusammenaddiert, die uns
den grad der Unregelmässigkeit des auftaktes veranschaulichen soll. Es ist das lied
212, 13, dessen versanfänge folgendes streng geregelte Schema zeigen: -^, X— , — ,
X-^; _^, x-i, x-i, x-i. Die einzige imregelmässigkeit zeigt die dritte strophe
(die nach dem Verfasser übrigens ganz selbständig sein soll) darin, dass sie im anfange
des abgesanges den vers mit auftakt dem auftaktlosen nicht wie in den beiden ersten
Strophen folgen, sondern vorangehen lässt. Das kann uns, bei der im übrigen beson-
ders künstlichen gestaltuug des auftaktes, natürlich nicht hindern, dies lied imter
diejenigen zu zählen, in welchen der dichter dem auftakte am meisten aufmerksam-
keit zugewant hat; es würde von dieser seite aus gar kein bedenken dagegen vor-
liegen, das gedieht noch hinter die kreuzzugsheder zu setzen. Nach des Verfassers
tabelle dagegen folgt es mit 87 procent auftaktloser verse unmittelbar auf die beiden
töne, in welchen sich noch gar kein gefiUil für die bedeutung des auftaktes vorrät! —
Die beigebrachten proben werden genügen, um zu zeigen, dass des Verfassers berech-
nungen und die auf diese gegründete hypothese von der reihenfolge der Hartmann-
schen lieder durchaus verfehlt sind. Gewiss wird es richtig sein, wenn man die lie-
der mit strenger regulierung des auftaktes für jünger hält als die mit freier behaudlung
desselben; aber Illusion ist es, wenn man glaubt, dass man auf grund eines ganz
minimalen mehr oder weniger in der einen oder in der andern richtung nun auch
jedem einzelnen gedichte seinen bestimteu platz in der gesamtreihe anweisen könne.
Und wenn man , von der Chronologie ganz absehend , lediglich zur vei'anschaulichung der
grösseren oder geringeren regelmässigkeit des auftaktes eine übersichtliche reihe der
lieder aufstellen wolte, so müste diese doch ganz anders ausfallen als die vom Ver-
fasser construierte.
Neben dem fehlen des auftaktes kommen nach dem Verfasser noch zwei (in
seiner tabelle jedoch nicht berücksichtigte) metrische Unregelmässigkeiten in betracht:
zweisilbiger auftakt und zweisilbige Senkung. Beides stelt er in näherem anschluss
an die handschriften gegen Haupts text mehrfach her. Ich bin gewiss weit davon
entfernt, diesen nicht für verbesserungsfähig zu halten, und sicherlich verdient beson-
ders die frage erwogen zu werden, ob die metrischen rücksichten, welche Lachmann
und Haupt veranlassten, von der Überlieferung abzuweichen, überall berechtigt sind;
aber es muss zu diesem zwecke im zusammenhange geprüft werden, welchen grad
von zutrauen denn die handschriften bei den hier in betracht kommenden dingen
verdienen, inwiefern sie sich durch verschiedenen gebrauch in analogen fällen selbst
corrigieren usw. Nur so lassen sich sichere grundsätze gewinnen, imd diese müssen
dann consequent angewendet werden. Aber in dieser beziehung lässt des Verfassers
verfahren gar manches zu wünschen übrig. Warum stelt er z. b. 210, 33 den auf-
takt ich ivil gegen Lachmann im anschluss an die Überlieferung her, nicht dagegen
209, 36 der sin und 210, 2 beid/u? gerade in dem vom Verfasser hergestelten verse
haben BC sicherlich nicht an zweisilbigen auftakt, sondern fälschlich an 4 hebungen
statt dreier gedacht, ebenso wie in den beiden unmittelbai' vorangehenden 210, 31/32;
so gut wie diese war auch 33 zu bessern. Hält auch der Verfasser den vers diu
werlt lachet mich triegent an metrisch für unmöglich, da er er hier stilschweigend
die änderang hinnimt? eine bemerkung darüber schiene doch notwendiger als die,
dass hier trieyende mit elision des e zu lesen sei. AVarum schliesst er sich nicht
den handschriften auch da au, wo sie eine Senkung fehlen lassen, wie 205, 4; und
ÜBER SARAX, IIARTMANN V. AUE ALS LYRIKER 241
warum stelt er die zweisilbige Senkung, die sich doch ITartmann gestatten soll, so
wenig cousequent her wie den zweisilbigen auftakt? Zu 217, 21 ist gegen Haupt
und gegen das motruin iraTc angeblich nach C liorgestelt, aber in C steht Haupts
ir<vr entsprecliend wer; auch zu 218, 2G ist eine das metrum versclilcchternde lesart
als aus C stammend aufgenommen, während dort tatsächlich etwas ganz anderes
steht usw. Alles in allem fühlt man sich bei den kritischen bemerkungon des Ver-
fassers — trotz der Sicherheit, mit der auch sie vorgebraclit werden — doch nicht auf
sichererem boden als bei seinen aufstelluugeu über die reihenfolge der lieder.
Das auseinanderlegen der strophen eines toucs in verschiedene einzelne lieder
treibt dei' Verfasser sehr weit; entschieden zu weit, wenn er — abgesehen von
äusseren kriterion — mehrstrophige lieder nur da anerkennini will, wo (;in klarer
und ungezwungener gedankenfortsehritt statfuulet, dagegen niclit, wo sich oline sol-
chen die einzelnen strophen eines toues um denselben gedanken drehen. Die wider-
Iiolung eines und desselben gedankens in verschiedener form ist nun einmal der alten
dichtkunst, der epischen sowol wie der lyrischen, in weit grösserem umfange geläufig,
als es dem inoderuen geschmack entspricht; sie diesem zuliebe durch allerlei kritische
mittel möglichst einzuschränken, ist ein zwar herkömliches, aber darum noch nicht
berechtigtes verfahren. Anders steht es natürlich, wenn die strophen eines tones
ganz verschiedene dinge behandeln, augenscheinlich aus imvereinbaren Situationen
entsprungen sind usw.; doch muss mau auch hier behutsamer als der Verfasser zu
werke gehen, der an der vermeintlichen Verschiedenheit der strophen ebenso oft ohne
grund anstoss nimt wie an ihrer Übereinstimmung. Was er z. b. über abweichende
Voraussetzungen in den einzelneu strophen des liedes 206, 19 fg. sagt, ist entscliie-
den hinfällig. Mehrfach hat er in der abtrennung einer und der andern strophe schon
Vorgänger gefimden, und er treibt dann durch isoliermig jeder einzelnen strophe die
Sache auf die spitze, während ich in einigen fällen schon jene teilweise loslösung für
unbegründet halte. So z. li. bei diMU sechsstrophigen liede 207, 11. Hier hätte nicht
eitunal die 6. strophe abgetrent werden sollen, wie es in MF geschehen ist; deim
diese palinodie der 1. strophe bildet meines erachtens gerade die schlusspointe, zu
welcher sich die almählich fortschreitenden gedanken zuspitzen. (1) ,,Mein verspre-
chen, ihr mein ganzes leben zu widmen, kann ich nicht halten; ich halie mein herz
von ihr gewendet; von einem unbesonnenen gelübde muss man sich befreien, ehe
man in nutzlosem ringen seine jähre verzehrt; so auch ich; ich räume ihr das feld
und werde in Zukunft meinen dienst anderswohin wenden. (2.) (Man darf mich des-
halb nicht treulos schelten:) untreue wai- mir stets verhasst; lediglich meine treue
liat mich nicht schon eher, soviel ich auch zu leiden hatte, aus ihrem dienste schei-
den lassen. Jezt schmerzt mich, dass sie mich ohne lohn lassen will; und doch will
ich auch jezt nichts als gutes von ihr reden; ehe ich sie betrübe, will ich lieber
zum schaden auch die schuld auf mich nehmen. (3.) "Was solte ich auch der jezt
böses nachsagen, die ich bisher immer nur gelobt habe? Ich kann ja meinen kum-
mer klagen, ohne sie deshalb schlecht zu macheu, meinen kummer, dass sie viele
jähre meinen dienst hinnimt und meinem werben um ihre minne doch nur mit feind-
seligkeit antwortet. Dass ich nie erfolg bei ihr hatte, muss ich mir selbst zum Vor-
wurf machen; hätte sie mich dessen für würdig erachtet, so würde sie mir besser
gelohnt haben. (4 = 207, 33) Da ich also auf lohn von ihr, der ich doch so lauge
gedient, verzichten muss, so bitte ich gott, dass er mir doch eins gewähre: dass
es nämlich ihr stets wol ergehen möge; das sei meine räche, dass ich bessere wün-
sche für sie hege als irgend ein anderer, ihr leid betraure, ihres glückes mich freue.
ZEITSCHRIFT F. DEUTSCHE PHILOLOGIE. BD. XXIV. 1"
242 F. VOGT
(5 = 208, 20) Jene jähre, die ich ilir gewidmet habe (vgl. 208, 12 fg. 207, 18)
sind doch nicht verloren: fehlte mir auch der minnelohn, so tröstete mich doch
freundliche hofnuug. Ich wünschte nichts weiter, als dass ich sie wider wie ehedem
meine herrin nennen möchte! manchem manne geht's so bis an sein ende, dass ihm
niemals liebes widerfährt, dass ihn aber doch immer die hofnung darauf froh macht.
(G) (Nun so will ichs denn auch so halten:) um ihretwillen, der ich bisher gedient
habe, will ich froh sein, wenn mir der dienst auch nichts geuüzt hat; ich weiss,
dass meine herrin edel ist; wer die seine fahren lässt, der mag das haben: ilm ver-
driessen die nutzlos verzehrten jähre; wer so minnet, ist falsch; ich habe es besser
im sinne, ich will niemals von ihr lassen". So wird hier das gedankeuspiel von der
aufkündiguBg des dienstes aus durch eine Stufenleiter versöhnlicher betrachtungen
hindurch zur förmlichen zurücknähme jener aufsage geführt. Str. 207, 23 ordne ich
wie Paul und Biu-dach ein. Str. 208, 23 wird (st. tröstet A froestet BC) zu lesen
sein tröste, denn es geht aus den vorhergehenden wie aus den folgenden versen her-
vor, dass es sich um den zustand des dichters in den vergangenen, jezt zurück-
gewünschten Jahren vergeblichen und doch hofnungsfrohen dienstes handelt. 208, 39
schliesse ich mich (wie Saran) der handschriftlichen Überlieferung an; aber die jähre
sind nicht als die zukünftigen, sondern als die verflossenen aufzufassen: diese ver-
driessen den, welcher den dienst (wegen mangelnder gewährung) aufgibt, natürlich
weil sie nun vergeblich hingebracht sind, während sie demjenigen, der, wie jezt der
dichter, zur ei'kentnis gekommen ist, dass nicht nur die gewährung, sondern scliou
die hofnung beglückt, und der deshalb auch den dienst festhält, vil imverlorn sind.
Ein weiteres eingehen auf des Verfassers auflösungsversuche muss ich mir hier
versagen; so weit wie er wird in dieser beziehung schwerlich sonst jemand gehen.
Übrigens schi'änkt er selbst in einer nachträglichen anmerkung seine ursprüngliche
aufstellung etwas ein, indem er die Strophen, welche sich ohne gedankenfortschritt
um dasselbe thema drehen, wenn auch nicht ein lied, so doch einen strophenkreis
bilden lässt, dessen einzelne teile sich der entstehungszeit nach nahe standen, nach-
her auch alle zusammen vorgetragen sein werden (also doch wol auch von den her-
ausgebern als zusammengehörig zu bezeichnen sind? dass bei den so bezeichneten
deshalb die gedankenentwickelung und strophenverknüpfuug dieselbe sein müsse wie
in der neueren kunstlyrik, hat doch niemand behauptet?). Freilich meint der Ver-
fasser, dass auch die ganz verschiedenen Situationen entsprungenen, untereinander
unvereinbaren Strophen eines toues sich zeitlich doch immer wenigstens insofern nahe
standen, als Hartmann zwischen solchen niemals strophen eines anderen tones gedich-
tet hätte. Daraus leitet der Verfasser auch das recht ab, bei seinen Untersuchungen
über die auftaktverhältnisse jeden ton als ganzes zu betrachten, auch wenn er alle
seine strophen als selbständige einzellieder ansieht. Das war allerdings notwendig,
wenn eine bestimmung der Zeitfolge der lieder auf grund der behandlung des auf-
taktes möglich bleiben solte; denn zwischen jenen kleinen einzelliedern dessel-
ben tones würden sich in dieser beziehung nach der vom Verfasser angewendeten
proceutrechnung teilweise ganz riesige differenzen ergeben, welche, auf entsprechende
differenzen in der abfassungszeit zurückgeführt, ein sehr wunderliches chronologisches
durcheinander von einzelnen bestandteilen verschiedener töne zur folge gehabt haben
würden. Aber wenn die abweichungen im auftakt zwischen den einzelnen liedern
desselben tones für deren zeitliches auseüianderliegen nichts beweisen, welche
beweiskraft bleibt ihnen dann in dieser beziehung noch für die verschiedeneu töne?
So dichtet z. b. Hartmanu im ersten tone vier einstrophige neunzeilige liedchen mit
ÜBER SARAN, IIARTMANN V. AUE ALS LYRIKER 243
regelmässig aiisgefültein auftakt, eines dagegen, in welchem zweimal der auftakt fehlt;
müsten wir demnach nicht das leztere von den vier anderen zeitlich noch weiter
abrücken als das zweistrophige lied 214, 12, in welchem auf die 22 verse der bei-
den zusammengehörigen Strophen nur 2 verse mit fehlendem auftakt kommen? Aber
in einem falle sollen sich die liedcr trotz jener difforcnz zeitlich nahe stehen, im
andei-en falle wird ihr so grosses gewicht beigelegt, dass sie nur durch eine längere
Unterbrechung in Hartmanns lyrischer dichtung erklärt werden kann. Nach des Ver-
fassers weise würde die nicht zu berücksichtigende differenz sogar durch die procent-
zahlen 0 gegen 22, die berücksichtigte durch 2,22 gegen 9 auszudrücken sein. Auch
von dieser seite zeigt sich wider, wie wilkürlich und haltlos dieser ganze chronolo-
gisclie aufbau ist.
Besser steht es mit der Statistik der in den reimpardichtungen fehlenden seu-
kmigcn, insofern hier die zahlen gross genug sind, um eine geeignete gnuidlage für
procentberechnungen abzugeben und nicht alzugrossen zufalsschwankungen ausgesezt
zu sein. Mit recht unterscheidet der Verfasser dabei, ob die Senkung zwischen
zwei verschiedenen werten oder zwischen zwei silben desselben wortes unterdrückt
wird. Er sieht in dem ersten falle eine grössere härte, welche von den genaueren
dichtem mehr imd mehr gemieden, von einzelnen schliesslich ganz beseitigt wird,
während sie sich die zweite freiheit noch gestatten. So lässt sich auch von Hart-
manns epischen dichtungen eine reihe aufstellen, in welcher die erste freiheit etwas,
die zweite verschwindend wenig abnimt, nämlich: Erec, Iwein, Gregor, armer Hein-
rich. In dieser folge sind deim auch nach des Verfassers meinung diese gedichte
entstanden.
Vom ersten büchlein betrachtet der Verfasser den in reimpaaren gehaltenen
hauptteil für sich; derselbe würde nach der gesamtzahl der fehlenden Senkungen hinter
sämtliche epen gehören, nach der zahl der zwischen zwei Worten fehlenden zwischen
Iwein und Gregor, so dass also natürlich der andere faU, das fehlen der Sen-
kung zwischen zwei silben desselben Wortes, widerum seltener ist als in allen epen.
Das stimt nun allerdings nicht zu des Verfassers sonstigen chi'onologischen Voraus-
setzungen; denn er sezt, wie wir bereits sahen, diesen echten teil des ersten büch-
leins mitten zwischen die lieder in jene „grosse lücke", die gesamte lyi'ik Hartmanns
aber sezt er noch vor den Erec. Aber jener widersprach lässt sich nach seiner
meinung durch die annähme ausgleichen, dass Hartmann sich in dem büchlein mit
seinem nicht der epik, sondern der lyrik aufs nächste verwanten inhalt durch die
glättere form des minnegesanges beeinflussen liess. Ich halte nun zwar diese datierung
für entschieden unrichtig; denn was es mit jener grossen lücke auf sich hat, haben
wir gesehen, und Hartmanns lyrik auch in ihrer am meisten ausgebildeten kunst-
form für älter als sein episches erstlingswerk halten, heisst meines erachtens auf
die Verwendbarkeit der zwischen den einzelnen werken waltenden kunstunterschiede
für die bestimmung ihrer Zeitfolge verzichten. Dennoch kann man ja an sich dem
Verfasser zugeben, dass ein gedieht wie das erste büchlein auch im versbau dui'ch
die lynk beeinflusst werden konte; nur muss dann dieser einfluss von vornherein in
viel höherem grade in dem lezten teile dieses gedieh tes vermutet werden, der nicht
nur inhaltlich, sondern in der künstlichen reimweise und in der gruppierung der
verse auch formell schon der lyrik näher steht als der epik. Es kann uns daher gar
nicht wundern, wenn in diesem stücke die Senkungen überhaupt und ganz insbeson-
dere die Senkungen zwischen zwei verschiedenen Worten seltener fehlen als in allen
übrigen gedichten Hartmanns; und es ist ungerechtfertigt und entspricht jener vom
16*
244 F. VOGT
Verfasser bezüglich der metrik des ersten teiles gegebenen erklärung keineswegs, wenn
er hier diesem umstände eine so hervorragende bedeutung beimisst, dass er allein
schon die iinmöglichkeit beweise, Hartmann als Verfasser dieses Stückes anzuneh-
men. Auch was sonst für die annähme beigebracht wird, dass dies ^schlussgedicht"
(v. 1645 — 1914) nicht von Hartmaun verfasst, ja mit den versen 1 — 1644 nur durch
Zufall zusammengeraten sei, hält nicht stich. Der Verfasser meint, die verse 1645 fg.
könten unmöglich, wie Haupt meinte, als rede des leibes zu denken sein, der 1642 fg.
vom herzen aufgefordert war: nu solt du Itp hin %ir unser für spreche sin; das
beweise v. 1679 min Up vor leide nach versivant und v. 1911 ich hän in dtnen
geicalt ergeben die sele %uo dem libe, die emphäh . . . (vgl. auch noch 1903 fg.);
denn hier rede doch sicher nicht der leib, sondern der dichter, und der den versen
1 — 1644 ZU gTunde liegende gedanke von einer trennung des leibes und der seele
und von einem dialog zwischen beiden als selbständigen personen verrate sich im
Schlussgedichte nirgend. Dem gegenüber ist zu bemerken, dass nach den ausdiück-
lichen Worten der verse 1642 fg. der leib ja von jezt an eben nicht mehr ausschliess-
lich als leib, sondern als Vertreter von leib und herz, also im namen der gesamten
persönlichkeit sprechen soll ; es ist also keine sonderliche ungenauigkeit , wenn Hartmann
ihn schliesslich nicht anders reden lässt, als wenn er, der dichter, selbst spräche. Aber
selbst in dem vorangehenden dialog v. 1- — 1644 ist die trennung keineswegs in dem
vom Verfasser angegebenen sinne durchgeführt. Denn erstens steht ja dem leibe keines-
wegs die seele, sondern das von dieser ausdrücklich unterschiedene herz gegenüber,
und zweitens deckt sich der Itp hier durchaus nicht mit dem begi-iffe „körper", son-
dern er umfasst auch einen teil der geistigen kräfte mit; ja wie im gewöhnlichen
sprachgebrauche Up die ganze persönlichkeit bezeichnen, mi7i Up für ich gesagt wer-
den kann, so spricht auch Hartmann in jenem dialoge oft genug einfach selbst, wo
der Up das "wort hat. So sagt denn der Ujj: ich bin ein freudeloser man 334, wird
vom herzen ebenfals man genant 595, spricht öfter dem herzen gegenüber von sei-
nem muot und gemüete, von den (jedanken, mit denen er der geliebten nahe ist,
132 fg., von seinem sin 1086, seiner ctrmen sele 1431 — ja er spricht sogar von
seinem leibe: dax ich .(der Up!) üz al der werlt ein zvrp xe froioen über mtnen
li]) für st hcete niht erkorn 107 fg. Damit dürfte jenes bedenken wol endgültig
beseitigt sein. Dass 1644 einen befriedigenden schluss gebe, kann ich niclit im min-
desten zugestehen; die aufforderung 1642 fg., in der fürspreche nur als fürsprecher,
Wortführer verstanden werden kann, hat nur zweck, wenn sie die Schlussapostrophe
einleiten soll, zu der sich nun herz und leib verbinden und die widerum mit dem
hiuweis auf die Vereinigung der beiden im dienst der geliebten (1903 fgg.) passend
endigt. Was endlich die abweichungen des Schlussgedichtes von Hartmauus sonsti-
gem spracligebrauch betrift, so erklären diese sich wol ausreichend aus der imgewöhn-
lichere ausdrücke und Wendungen heischenden reimhäufung.
Auch das zweite büchlein erklärt der Verfasser füi' unecht, indem er die schon
von anderen für diese ansieht vorgebrachten gründe hauptsachlich widerum durch
seine die fehlenden Senkungen betreffenden beobachtungen zu verstärken sucht. Nach
diesen würden die Senkungen, besonders zwischen zwei verschiedenen Worten, im
zweiten büchlein weit seltener ausgelassen sein als in allen übrigen dichtungen Hart-
manns (s. 51 fg). Ich bin zu einem anderen ergebnisse gekommen. Nach meiner Zäh-
lung fehlt die Senkung in den 826 versen des zweiten büchleins zwischen zwei ver-
schiedenen werten 88 mal, zwischen zwei silben eines wertes 138 mal; in den 826
ersten versen des ersten büchleins komt der erste fall 87 mal, der zweite 91 mal vor.
ÜBER SARAN, HARTMANN V. AUK ALS LYRIKER _ 245
Danach zeigt sich also in jenem sogar eine inerkwiirdigo üljoi-eiustiminiing zwischen
den beiden büchloin; in diesem dagegen stellt das zweite büclüein dem Gregor und
Iwcin näher, wo in der gleichen verszahl zwischen zwei silbcn eines wertes die Sen-
kung llOmal beziehungsweise 141 mal unausgefült bleibt. Icli kann also in diesen
Verhältnissen keinen griiiid gegen die abfassung des zweiten büclüeins durdi Ilart-
mann finden. Vielmehr halte ich dieselbe nacli wie vor für das wahrschcinliclLste,
weil das gedieht für einen plagiator zu gut ist, weil sich auffällige übereinstimnuin-
gen mit .sicher llartmannischem eigentum auch in iiebendingcn zeigen, l)ei denen an
entlchuuug niclit zu denken ist, und weil die entlchnung aus Ilaiimanns sämtlichen
werken (und nicht allein aus seinen epcn, sondern auch aus seiner keineswegs wie
jiMie mafsgebenden lyrik) in augenfälliger weise statgefunden haben müstc, während
von anderen diciitcrn, insbesondere auch von den grösten und bekantesten lyrikern,
nichts entlehnt worden wäre; deim dass die verse büchlein 720/20, auf deren über-
einstinnnung mit lUirkhart v. IIoluMifels ^ISII I, 205 str. 3 Saran hinweist, ursprüng-
lich niclit dem l)üchlein, sondern lUirkhart gcliören, kann man natürlicli nur aiinoli-
inen, wenn man den siiäteren ursiirung des büclilciiis schon aus anderen gründen für
erwiesen hält.
Von den licdern werden 212, 37fgg. , 214, 84 fgg. , 320, 1 fgg. auf ihre echt-
heit untersucht luul die beiden Icztcn Hartmann abgesjirochen; eine sehr wesentliche
riille spielt daliei wider des Verfassers olien gekcnzeichnetc auffassung der auftaktver-
iiältinssc. Ein aljscluütt „/.ui' textkritik dos schhissgedichtcs und des (2.) liüchleins "
enthält einige liemcrkiMiswerte licsserungsvorschläge. Dankenswert ist der nachträg-
liche, zur erklärung von sclpiccyc dienende hinweis auf Rud. Credm^rs beobachtuu-
gen über eine ähnliche üuterscheiuung, die an der Üstseeküste der seebär genant wird.
BRESLAU. F. VOÜT.
Die lieder Neidharts von Reuenthal auf grund von M. Haupts herstel-
lung, zeitlich gruppiert, mit erklärungen und einer einleituug von
Friedrich Keiiiz. Mit einem titelbilde. Leipzig, Hirzel. 1S89. 14G s. 2,8(1 m.
Es war ein sehr dankenswertes unternehmen, Haupts grosser Neidhartausgabe
eine wolfeile, nur mit den notwendigsten beigaben versehene textedition zur Seite zu
setzen. Durch eine kurze einleituug, welche die in den Müuchener Sitzungsberichten
von ISSTy'SB veröffentlichten Xeidhart- Untersuchungen des Verfassers voraussezt, wird
der leser zunächst über Neidharts lebeu und die gattungen seiner dichtuug in klarer
und knapper form unterrichtet. Dann folgt der text in einer von Haupt abweichen-
den anordnung. Die lieder werden in sechs verschiedene gruppen gesondert, die der
von Keinz angenommenen entstehungszeit gemäss aufeinander folgen, nämlich: I. Ju-
gendlieder, n. Jiutel und ihre gespielinnen. III. Kreuzlieder. lY. Friderun. Y. Bai-
rische lieder der späteren zeit. YI. Österreichische lieder. Dieser Ordnung fehlt ja nicht
ilie tatsächliche gruudlage. Wir wissen, dass Neidhart einige lieder auf dem kreuz-
zuge, dass er andere in Baiern und dass er widerum andere später als diese in Öster-
reich dichtete; wir können ferner einigen wenigen der bairischen zeit mit bestimtheit
entnehmen, dass sie vor, einer weit grösseren anzahl, dass sie nach dem Zerwürfnis
mit Engelmar verfasst sind, ein ereignis, dessen dann auch in österreichischen liedern noch
gedacht wird. Aber darüber hinaus wird der boden sehr unsicher. Es besteht meines
erachtens kein genügender anhält dafür, gerade die unter I gebrachten lieder und nur
sie als Jugendgedichte zusammenzufassen, die unter n gesezten alle um ein liebes ver-
246 F. VOGT
hältnis zu Jiutel (ein name, der auch, nachher in einem österreichischen gedichte
(m-. 63) vorkomt), die unter IV um ein Verhältnis zu Friderun zu giaippieren ; in nicht
wenigen fällen sind auch die grenzen zwischen V und YI nicht sicher, und seihst
oh die kreuzlieder aus dem jähre 1219 chronologisch gerade uuter III au der rich-
tigen stelle stehen, ist zweifelhaft. Mit recht ist schon im Litterar. centralbl. 1889
s. 477 das bedenken erhohen, dass hei der von Keinz angenommenen Zeitfolge Wolf-
rams bekante beziehung auf Neidharts dichtung ("Willehalm 312, 11), für die doch
nach 1219 entstandene lieder nicht mehr in betracht kommen können, keine aus-
reichende erklärung finden würde. Die dem gegenüber von Keinz im nachtrag zu
seiner ausgäbe^ s. 6 aufgeführten stellen aus liedem seiner zweiten gruppe (18, 11
und 21, 11), in denen Neidhart seine freunde einmal wegen des tanzlokals, das
anderemal wegen des gegen seine geliebte zu beobachtenden benehmens um rat bit-
tet, kann doch Wolfram nicht im sinne gehabt haben, wenn er sagt, Neidhart würde
es seinen freunden klagen, sähe er ein so ungefüges schwert wie das des Kenne-
wart über seinen gauhügel ti'agen. Das sezt schon Neidharts feindschaft gegen die
bauern voraus, klagen über die plumpen und gewalttätigen dörper, wie sie nur in lie-
dern der V. und VI. gruppe, an stellen wie den a. a. o. angezogenen (46, 45. 49% 58.
58, 63) sich, finden. Aber noch mehr: dass Wolfram gerade bei der beschreibung
von Rennewarts riesenwaife auf diese bemerkung kam, lässt sich nur erklären, wenn
er an ein Neidhartsches lied dachte, in welchem ausserdem auch die Schilderung
eines besonders ungeschlachten Schwertes vorkomt. Nun wird aber überhaupt in kei-
nem der lieder aus Ks gi'uppe I — IV ein schwert erwähnt; erst in gruppe V und
VI geschieht es mehrfach. Die eingehendere Schilderung eines besonders grossen
Schwertes zugleich mit der klage an die freunde aber findet sich nur in dem einen
liede K 42 (gnippe V). Hier wünscht Neidhart den rat seiner freunde in dem bit-
tern leide, das ihn bedrückt: die geliebte ist ihm feind; die meiste schuld an seinem
Unglück trägt ein getclinc mit einem gewaltigen Schwerte, so gross wie eiue hanf-
schwinge; dies noch weiter beschiiebene sch.wert bildet den mittelpunkt einer durch
zwei Strophen hingezogenen scene, und dann folgt wider die klage lät in mere kün-
den mmer su-cere, die tumben getelinge tnont mir aller leidecUcli. Ich glaube
daher, dass Wolfram auf dieses ganz bestimte lied Neidharts anspielt; in ihm aber
wird V. 28 fg. der raub von Frideruns Spiegel , also auch die feindschaft mit Engeknar
schon vorausgesezt. — Bedenklich ist doch auch die beschränkung einzelner perioden
hier auf sommerlieder, dort auf winterlieder, so dass in gruppe I und IV nur die
erstere, in gruppe V dagegen mu- die leztere gattung vertreten ist. Soll denn Neid-
hart in der doch 10 jahi-e umfassenden lezten bairischen periode nur noch im winter
gesungen haben? oder sollen aus einer periode alle sommerlieder, aus einer anderen
gerade die winterlieder verloren gegangen sein? Ich glaube, diese bedenken nicht
zurückhalten zu sollen, da sich in unserer litteratm-geschichte traditionen über die
Zeitfolge von werken leicht in fällen festzusetzen pflegen, in denen clironologische
anhaltspimkte erwünscht, aber im gründe nicht vorhanden sind, wobei denn auch wol
imterschiede der gattung auf solche der abfassungszeit übertragen werden. Dagegen
will ich nicht behaupten, dass die vorliegende ausgäbe durch die gewählte an Ordnung
etwas an brauchbarkeit eingebüsst hätte; der hauptsache nach steht in den einzelnen
gruppen verwantes beisammen.
1) München 1889. 8. 18 s. Keinz sozt sich hier mit. dorn kritiker des litterarischen centralblattes
und mit ü. Puschmanu (die liedor N'oidharts v. R. Stofsborg i. Westpr. Pragr.) auseinander.
ÜBER .NEIDHART ED. KEINZ 247
ßezüglicli (1er vcrliültuismiissig weuigcii stelltMi, an wclchmi Keinz einen ande-
ren text bietet als Haupt, kann ich ilim meist zustimmen; so auch in der strophcn-
ordnung von nr. ~)2 und (34; niclit dagegen in derjenigen von nr. '2'2, sowie in der
lesung von 52, ()3. Gl', 37 (so zu lesen statt 35 in den lesartrn, wo aucli die angäbe
felilt, dass Haupt hier K folgt). Xr. 32, 2 scdieint mir doch die von AVilmanns
befürwortete lesart von c strichen st. ttclioi ganz zweifellos. Der zu 20, 32 fg.
erwähnte besserungsvorsehlag Pauls b(>steht nur darin, dass man hier den haml-
schriften C lic/.w. c folgen soll, und das scluMut mir in der tat das richtige; wenig-
stens wäre die mitteilung dieser lesai't hier, wo Keinz sell)st bemerkt, dass der sinn
des nacli nau[it widorgegebencn textes unklar sei, docb angezeigt gewesen. Ebenso
hätt(> auch zu der im texte unausgcfiilt gebliebenen zeile 22, 50 der Wortlaut der
liandsciiriften angegeben werden sollen. In einzelnen fällen, wo Keinz bemerkt,
(hiss in einer handschrift stroplien fehlen oder dass die strophenordnung in der hand-
schriftlichen Überlieferung oder bei Haupt aliweiclit, iiätte ohne belastuiig des kri-
tischen apparates angegeben werden kiMinrn. welebi? struphen dei't fehlen , liezw. wie
die stropluMi dort geordnet sind. Sonst kann ich ivcinzs enthaltsamkeit in der angäbe
von Varianten nur billigen. Für (b.'u .,weit"i'en leserkreis", auch für die näidisten
zwecke der studierenden, genügt, was er gibi ; für kritische Übungen aber muss man
doch den volständigen ap])arat herbeiziehen, wie ihn Haupts in jeder Seminar- und
universitätsbililinthek vorhandene ausgäbe bietet.
Das für den „weniger geübten loser'' bei'echnete Wörterverzeichnis, welches
ursprünglich nur das Xi'idhart eigentündiche umfassen solte, winl bei einer zweiten
auJlage um wöiier wie hu(\ tricL liuppcr, \ügelbycclic, vcrr'tiloi, yüffcn (37, 44),
(jrjiltiKf'fc und einige andere zu vermehren sein; auch den von anderer seitc schon
ausgesprochenen wünsch nacli einem namenverzeichuisse (natürlich mit volständigen
stellenangabeu) werden wir dann hoffentlich erfült sehen. Möchte eine schnelle Ver-
breitung des verdienstlichen werkchens dazu beitragen!
BRESLAU. V. VOGT.
Unechtes bei Xeifen. Von dr. 'Wilheliii Ulli. Paderliorn, Schöningh. 1S88.
222 s. 3 m. (Tiöttinger beitrage zur deutschen philologie herausg. von M. Heyne
und AV. Müller IV).
Für dii' Scheidung von echtem und unechtem bietet die ülierlieferung der
gedichtc Gottfrieds von Xeifen insofern keinen anhält, als diese, von 8 in späteren
bandschriften vorliegenden Strophen abgesehen, bekantlich allein in C auf uns gekom-
UK'u sind. Alicr die beschaff enheit dieser handschrift selbst lässt nach Uhls meinung
gewisse stücke der Xeifenschen liedersamlung schlechter beglaubigt erscheinen als
andere. In der regel ist nämlich hinter denjenigen liodorn, welche weniger als
5 Strophen umfassen, vom Schreiber ein räum freigelassen, der gerade ausreichen
würde, um sie auf 5 strophen zu bringen. Das ist bei 20 liedern der fall\ Avährend
andere 20 wirklich füufstrophig sind. Aus dieser saclüage schloss man l:>isher, dass
jene ei'steren unvolstäudig überliefert seien, dass aber <J durch jene zwisi/henräume
für ihre dereinstige ergänzung aus reicheren ijuellen Vorkehrung getroffen habe. Uhl
1) Xicht bei 10 , wie auch Thl noch nach Hanpt anijibt. Nach Apfclstoilt (Germania XXVI, 216)
sind nach 20, 24, wo Haupt (einleitunic s.VIi das Vorhandensein einer lüclve leut,'uolo , 8 zeilon freigelas-
sen. Unrichti'j; ist es auch, -womi Uhl s. 6 von 21 fönJstrophiLi-en liodorn in C spricht; es ist da 28, 17
igg. mitgcrochiiet , dessen 5. stropho nicht in C , sondern nur in p überliefert ist.
248 F. VOGT
dagegen hält die fraglichen lieder für volständig und meint, dass die auf sie folgen-
den lücken nicht für die nachtragung echter, sondern für die aufnähme neu hinzu
zu dichtender Strophen bestirnt waren, durch welche dem von dem saniler der hand-
schrift C, nicht aber von Gottfried als bindend erachteten princip der fünfstrophigkeit
rechnimg getragen werden solte. Daraus folgen dann aber weiter bedenken gegen
die echtheit der lezten strophen derjenigen lieder, welche nach der Überlieferung
wirklich jenen vorschriftsmässigen umfang haben; bei ihnen allen ist von vornherein
mit der möglichkeit zu rechnen, dass sie der normalzahl zuliebe schon Zusätze erhal-
ten haben, wie die anderen sie noch erhalten selten, und daran lässt sich dann die
Untersuchung von Interpolationen anderer art anschliessen.
Diese neue hypothese mag von vornherein natürlicher erscheinen als die alte;
dass sie aber besser begiündet sei, bezweifle ich. Uhl fragt: „wenn der Schreiber
der handschrift C wüste, dass dies oder jenes lied fünfstrophig war, so hatte er doch
die fünf strophen desselben schon einmal hinter einander gelesen oder singen gehört;
was hinderte ihn nun, das ganze lied mit seinen 5 strophen niederzuschreiben"?
Dagegen ist denn doch zu bemerken, dass jemand, der ein lied einmal volständig
gehört hat, bei einer unvolständigen niederschrift desselben sehr wol wahrnehmen
kann, dass eine und die andere strophe fehlt, ohne dass er deshalb im stände zu sein
braucht den Wortlaut des fehlenden zu ei-gänzen. Aber hier bei Neifen liegt die
Sache noch viel einfacher. Der Schreiber oder sein auftraggeber braucht nur gewust
oder auf grund einer in sängerkreisen herschenden tradition geglaubt zu haben, dass
der berühmte dichter die regel der fünfstrophigkeit befolgte; grund genug um anzu-
nehmen, dass lieder, die in der vorläge diese zahl nicht erreichten, unvolständig
seien und sich einst aus anderen quellen ergänzen lassen würden. Dass mm C im
algemeinen seine jeweilige hauptvorlage möglichst aus anderen handschriften zu ver-
volständigen bemüht war, ist ja eine bekante tatsache, die Uhl bei seinen algemeinen
ausführungen über die entstehung der samlimg C hätte berücksichtigen sollen. So
ist es doch erwiesen, dass C beim abschreiben der älteren, bereits mit bildern ver-
sehenen samlung BC, deren Uhl freilich auch mit keinem werte gedenkt, nicht nui"
ganze lieder, sondern auch einzelne strophen aus einer anderen alten, A verwanten
samlung einschob. Danach ist es schon an sich höchst wahrscheinlich, dass die
lücken in C für entsprechende vervolständiguugen ausgespart wurden; und das wird
zur gewisheit, wenn wir z. b. sehen, wie einerseits C hinter 2 strophen Ulrichs
von Singenberg, die un